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»Wir sind bald da«, sagte Herzog, der sich in das dichte Gras am Flußufer gesetzt hatte.

»Wo denn?« fragte Micha neugierig.

»Na, ich wollte euch doch noch etwas zeigen. Mein bescheidenes Abschiedsgeschenk sozusagen. Wir müssen noch etwa zwei Stunden zu Fuß gehen. Am besten wir ruhen uns etwas aus und lassen alles hier. Es ist nicht mehr weit, gleich dahinten.« Er zeigte auf den Urwald und lächelte vielsagend. Manchmal schien es Micha so, als habe Herzog trotz all der mit ihrem Erscheinen verbundenen Unruhe durch sie erst wieder lächeln gelernt.

Sie aßen noch eine Kleinigkeit und machten sich dann ohne Gepäck wieder auf den Weg. Niemand fragte, wo es hinging und was es dort zu sehen gab, und Herzog machte auch keine Anstalten, ihr Marschziel näher zu beschreiben. Es war kaum vorstellbar, daß es da nach allem, was sie erlebt hatten, noch irgend etwas geben sollte, das sie in Erstaunen versetzen könnte. Sie ließen sich einfach überraschen.

Sie entfernten sich wieder vom Fluß und liefen in einer Reihe schräg auf den Urwald zu. Herzog marschierte mit Tobias vorne weg, dahinter gingen Axt und Claudia, von Pencil gezogen, den sie an die Leine genommen hatte. Micha bildete wie immer die Nachhut.

In der Ferne, in der flachen Savanne vor den rauchenden Vulkanen weideten große Herden. Es waren sicher Uintatheri-en oder die Donnertiere, die sie damals am Flußufer beobachtet hatten. Es war ein grandioses Ausblick und erinnerte an die berühmten Safaribilder vor dem schneebedeckten Gipfel des Kilimandscharo.

Je näher sie dem Dschungel kamen, desto lauter und vielfältiger wurden die Geräusche, desto höher ragte der Wald auf, fast übergangslos, nur durch einen schmalen Buschstreifen von dem Grasland mit seinen vereinzelten Bauminseln getrennt. Einige der alten, ehrfurchtgebietenden Urwaldriesen mochten fünfzig, sechzig Meter hoch sein. Ihre weit ausladenden Äste trugen schwer an vielerlei Aufwuchs, bildeten in schwindelerregender Höhe eigene kleine unerreichbare Miniaturwälder.

Herzog zückte sein Buschmesser, lief eine Weile suchend hin und her und begann dann einen kleinen Pfad, wahrscheinlich einen Wildwechsel, freizuschlagen und zu verbreitern. Die anderen folgten ihm. Langsam bahnten sie sich ihren Weg, stiegen über abenteuerlich verwachsene und verschlungene Brettwurzeln, duckten sich unter dichtem, dornigem Buschwerk und baumelnden Lianen hindurch, schwiegen, schwitzten und schauten. Je tiefer sie eindrangen, desto schwerer wurde die Luft, beladen mit Feuchtigkeit und den Düften der Pflanzen und der modrigen Erde. Michas Augen schwelgten in Braun und Grün, dem Braun abgestorbener Blattriesen, des Bodens und der Baumrinden und dem Grün dieser Vegetationsflut, so dicht und unentwirrbar, daß es oft unmöglich schien zu sagen, welche Blätter zu welcher Pflanze gehörten, wo das eine Gewächs aufhörte und das andere begann. Hier und da leuchtete, von einem verirrten Sonnenstrahl getroffen, ein Blatt oder ein Farnwedel auf und malte einen scharfen Schatten.

Fast unmerklich führte der Pfad bergab, und plötzlich hob sich der grüne Vorhang und gab den Blick auf eine stille schwarze Wasserfläche frei.

»Wir sind da«, sagte Herzog und breitete die Arme aus.

Es war ein Ort so schön wie das Paradies, friedvoll und doch überquellend von Leben. Der See war fast kreisrund, aber seine Ufer waren nur schwer auszumachen. Rechts wuchs dichtes Pflanzengestrüpp im flachen Wasser. Einzelne Äste weit ausladender Baumriesen ragten auf die dunkle Wasserfläche hinaus, die stellenweise von einem blühenden Teppich jener weißen Seerosenart bedeckt war. Links war das Ufer steiler. Etwa zweihundert Meter weiter mündete ein Dschungelfluß in den See.

Auf den Messeler Paläontologen schien die Szenerie den größten Eindruck zu machen. Axt stand wie angewurzelt, stützte sich schließlich mit der Rechten an einem Baumstamm ab und starrte mit offenem Mund auf die Wasserfläche hinaus. Seine Lippen bewegten sich in stummer Verblüffung. Für einen Moment schien er vollkommen abwesend zu sein.

Als Tobias einen Schritt vorwärts machen wollte, hielt Herzog ihn am Arm fest. »Vorsicht, die Ufer sind tückisch. Schwimmrasen, verstehst du, und dicker, zäher Morast. Außerdem steigen giftige Gase auf. Es ist sehr gefährlich. Haltet lieber Abstand.« Tobias nickte, zwängte sich aber laut raschelnd durch die dichte Vegetation, als Herzog seinen Arm losließ. Axt, der aus seiner Starre wieder erwacht war, wirkte nun noch nervöser als sonst und folgte ihm wenige Sekunden später.

Sie verteilten sich. Jeder streifte auf eigene Faust durch das Dickicht. Herzog hockte sich auf eine Brettwurzel, begann seine Pfeife zu stopfen und verfolgte ihre Begeisterung mit gütigem Lächeln, wie ein Vater, der amüsiert und stolz den ersten Gehversuchen seiner Kinder zuschaut.

Es dauerte nicht lange, bis Micha die anderen aus den Augen verloren hatte, abgelenkt von der spektakulären Natur und den vielen Entdeckungen, die er machte. Einiges davon hatte er schon damals auf dem Floß gesehen, als die Insekten in Massen ihre Lampe anflogen, aber er entdeckte auch viele Arten, die ihm unbekannt waren. Trotzdem fehlte ihm die normalerweise angesichts einer derartigen tropischen Idylle gebotene Begeisterung. Er war mit seinen Gedanken nicht recht bei der Sache. Ein wehmütiges Gefühl ließ ihn irgendwann stehenbleiben und gedankenverloren mit den Blättern eines rotblühenden Strauches herumspielen.

Morgen oder übermorgen würden sie umkehren und nach Hause fahren. Ausgerechnet an diesem herrlichen Ort überkam ihn aus heiterem Himmel die Vorstellung, wie es sein würde, bald wieder in einer Stadt zu leben, umgeben von Häuserschluchten, hupenden Autos, von Tausenden und Abertausenden von Menschen, die keine Ahnung davon hatten und auch nie haben durften, was sie hier erlebt hatten. Der Gedanke schmerzte ihn so sehr, daß ihm schwindlig wurde. Wie sollte das gehen, wie sollte er das aushalten? Würde er vor lauter Lügen nicht bald vergessen, was er gesehen hatte? Was hatte diese Reise aus ihm gemacht? Aber da war Tobias, und vor allem Claudia. Das war mehr als ein Hoffnungsschimmer. Sie würden sich helfen.

Micha wußte nicht mehr, wie lange er schon durch den Wald gestreift war, als er Herzog laut rufen hörte. Sie hatten verabredet, noch heute zurück zum Fluß zu laufen, um dort die Nacht zu verbringen. Morgen früh wollten sie dann versuchen, mit Hilfe des Floßes zu dem seltsamen Baum mit den Gazehauben zu gelangen. Es müßte eigentlich problemlos möglich sein, ihn wiederzufinden, denn er befand sich in unmittelbarer Nähe des Ufers. Danach würden sie nach Hause aufbrechen.

Einer nach dem anderen trudelte wieder ein, zuerst Claudia und Pencil. Als Tobias durch die dichte Vegetation trat, verdrehte er die Augen und deutete mit einer kurzen Kopfbewegung nach hinten an, was ihn so genervt hatte. Keine zwei Meter hinter ihm folgte Helmut Axt.

Der Paläontologe sah schrecklich aus. Er war schweißüber-strömt, kreidebleich und zitterte wie Espenlaub. Micha vermutete, daß ihn dieser See mitten im Urwald so beeindruckte. Wahrscheinlich hatte er in ihm das lebende Pendant zu seiner toten Grube Messel gefunden, zweifellos eine eindrucksvolle Erfahrung, die er erst einmal verdauen mußte.

Axt beruhigte sich etwas, als sie alle schweigend beisammen saßen und den Urwaldgeräuschen lauschten. Die Stimmung war etwas bedrückt.

Plötzlich sprang Herzog auf und starrte zum Seeufer hinunter.

»Was ist?« fragte Tobias.

»Ich dachte, ich hätte etwas gesehen.«

»Ein Tier?« fragte Micha.

Sie starrten angestrengt in das Blätterwirrwarr, aber je länger sie dort hineinsahen, desto weniger war zu erkennen, so dicht war das Grün, so verwirrend waren die ineinander und miteinander verwachsenen Äste der Bäume und Sträucher.

»Da unten, da ist jemand«, schrie Tobias plötzlich.

»Wo?«

»Da!« Er zeigte aufgeregt irgendwohin in das Grün des Dschungels. »Den kauf ich mir«, zischte er und im nächsten Moment war er im Dickicht verschwunden.

»TOBIAS!«