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Axt stand wie versteinert da. Sein Gesicht zeigte einen derart entsetzten Ausdruck, daß Micha das Blut in den Adern gefror. Aus diesem Schrei, bei dem sich Axts sonst so ruhige Stimme fast überschlagen hatte, sprach so viel Angst, ein solches Maß an Bestürzung, daß Micha keinen Moment zögerte und sofort losrannte.

So schnell er konnte, lief er durch das dichte Gestrüpp. Ohne darauf zu achten, wohin er trat, stürzte er durch den Wald, hastete durch die dichte Vegetation, in seinen Ohren noch das Echo dieses Schreies, das ihn vorantrieb. Er spürte kaum, wie ihm die Äste ins Gesicht schlugen, wie er sich an scharfen Dornen die nackten Arme und Beine aufriß. Fast blind hetzte er dorthin, wo er das Seeufer vermutete.

»Tobias!«

Das war wieder Axt. Er mußte irgendwo rechts von ihm sein. Es war ein Kreischen, fast unmenschlich, voller Qual.

Micha kämpfte sich weiter voran. Irgendwo bellte Pencil. Von unten hörte man Stimmen, einen heftigen Wortwechsel. Er blieb stehen und lauschte, versuchte zu orten, von wo genau die Stimmen kamen. Er erkannte Tobias, aber wer war der andere? Dann plötzlich ein seltsames Stöhnen und Ächzen. Kampfgeräusche. Ein heftiges Blätterrascheln, das Brechen von Ästen, dumpfe Laute, als ob jemand auf den Boden gestürzt war, der spitze Schrei einer Frau. Wer war das? War Claudia schon da unten? Wie hatte sie dorthin gefunden? War ihr etwas passiert? Plötzlich ein lautes Klatschen, wilde tierhafte, gequälte Laute. Sie mußten ins Wasser gefallen sein, schlugen dort wild um sich, kämpften. Immer wieder dieses Stöhnen.

Jetzt hörte er Tobias schreien. Angst, Todesangst klang aus seiner Stimme, und Micha rannte noch schneller, er stolperte und fieclass="underline" Nein, es reicht, nicht noch eine Katastrophe, das ertrage ich nicht, das ist zuviel. Er brach durch eine Blätterwand und stand plötzlich keuchend neben Herzog, der wie gebannt auf den See hinausstarrte.

Dann sah er, was passiert war. Tobias steckte bis zur Hüfte in zähem, schwerem Morast, der nur wenige Meter daneben aussah wie festgetretene Erde. Mit der Hand seines gesunden Armes klammerte er sich an einem federnden moosbewachsenen Ast fest.

Nein, nicht schon wieder, dachte Micha. War denn einmal nicht genug? Er spürte wie ihm das Blut in den Kopf schoß. Einen Moment lang stand er unbeweglich da, paralysiert von seiner Wut und dem dagegen ankämpfenden Schuldgefühl. Mit wachsendem Entsetzen verfolgte er, wie Tobias um sein Leben kämpfte. Sein Gesicht war zu einer Grimasse verzerrt. Immer wieder versuchte er verzweifelt, unter ängstlichem Keuchen mit dem verletzten Arm den Ast zu greifen, fand aber keinen Halt, fiel zurück und rutschte jedesmal ein Stück tiefer in den Sumpf.

»Da ist noch jemand. Eine Frau!« Das war Claudias Stimme. Irgendwie hatte sie den Weg zu ihm und Herzog gefunden.

Jetzt sah er sie auch. Nur wenige Meter von Tobias entfernt steckte eine Frau im Morast und drohte wie er zu versinken.

Nur noch ihr Kopf schaute heraus. Eine bunte Kappe war halb von ihren Haaren gerutscht, und lange schwarze Strähnen hingen in den sumpfigen Matsch. Todesangst hatte das schöne Gesicht bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Sie wurde unaufhaltsam in die Tiefe gezogen. Sie schrie.

»Mein Gott, das ist ja Ellen«, schrie Micha und war wie gelähmt.

»Du kennst sie?« fragte Claudia.

»Ja, ich meine, nein, nicht richtig.« Er war völlig verwirrt. Wie kam Ellen hier her? »Das ist Sonnenbergs Assistentin.«

Herzog war kreidebleich, seine Lippen zitterten. Als Micha ihn ansah, löste sich endlich seine Erstarrung.

»Wir können doch hier nicht tatenlos herumstehen. Wir müssen ihnen helfen«, schrie er Herzog an und stürzte wieder los.

Er wandte sich nach rechts, weil er geradeaus nicht weiterkam. Ein matschiger Abhang fiel dort steil zum Ufer ab. Aber kaum hatte er sich ein paar Schritte in das Dickicht entfernt, verlor er die Orientierung, wußte nicht mehr genau, wohin er sich wenden sollte. Überall versperrte dichtes Gestrüpp den Weg und den Blick auf den See. Immer wieder hörte er Tobias schreien, und weil der Weg, den ihm seine Stimme wies, durch ein meterbreites Geflecht armdicker Luftwurzeln blockiert war, trieb ihn seine Panik zu aussichtslosen und schmerzhaften Versuchen, mal hier, mal dort durch die verfilzte Vegetation zu brechen. Als er sich schließlich verzweifelt umdrehte, um es an einer anderen Stelle zu versuchen, blickte er wieder in Herzogs blasses und verschwitztes Gesicht. Er mußte ihm gefolgt sein. Claudia war nirgendwo zu sehen.

»Was ist los?« fragte Micha atemlos und blickte gehetzt um sich. »Irgendwie muß man doch dahin kommen.«

»Es hat keinen Sinn. Es ist zu spät!« Herzog schüttelte nur stumm den Kopf und ließ das Kinn sinken.

Plötzlich ärgerte Micha sich über Herzogs Untätigkeit. Sie machte ihn rasend. »Du kennst dich doch hier aus. Warum ziehst du ihn nicht heraus, he? Stehst hier wie angewachsen«, brüllte er, drängte ihn beiseite und schlug sich zu einer Stelle durch, von wo aus er auf den See gucken konnte.

»Tobias!«

Nichts! Er fand in dem unübersichtlichen Pflanzen- und Wurzelgewirr kaum den Ast wieder, an dem Tobias gehangen hatte. Aber wo vorher noch sein rotes T-Shirt geleuchtet hatte, war nichts mehr, nur eine unbewegliche schwärzliche Masse. Auch der andere Kopf war verschwunden.

»Tobias!« schrie er noch einmal, so laut er konnte. »Ellen!«

Im nächsten Moment brachen Pencil und Claudia durch das Unterholz. »Was ist denn ...«, sie verstummte, als sie sein Gesicht sah.

Er starrte auf die Stelle, wo er Tobias das letzte Mal gesehen hatte, und er glaubte kurz eine Hand zu erkennen, die hilfesuchend aus dem Schlamm ragte.

Wenig später knackte es in den Büschen links von ihm, und einen kurzen, wunderbaren Moment lang dachte er, das sei bestimmt Tobias, sein Freund, der sich mit letzter Kraft herausgezogen hatte und von oben bis unten mit stinkendem Morast besudelt und seinem charakteristischen Grinsen auf dem Gesicht aus dem Dschungel treten würde, mit Ellen an seinem Arm.

Aber es war nur Herzog, resigniert, den Kopf gesenkt, mit hängenden Schultern, gebeugtem Rücken. Als Claudia ihn so sah, begriff sie, daß etwas Furchtbares geschehen sein mußte. Kraftlos ließ Herzog sich fallen, plötzlich ein alter, gebrochener Mann, hilflos, machtlos. Er begann zu schluchzen. Sein Oberkörper zuckte.

Micha hockte sich neben ihn, wollte einen Arm um seine Schultern legen, wollte ihn beruhigen, sich entschuldigen, weil er ihn so angefahren hatte, aber seine Hände zitterten zu stark.

Tobias tot?

»Jetzt sagt mir doch endlich, was passiert ist«, sagte Claudia leise. Sie hockte sich vor Herzog und Micha auf den Boden und schaute sie in ängstlicher Erwartung an.

Er wollte den Mund aufmachen, wollte erzählen, was er gesehen hatte, das verzerrte Gesicht, die Hand, diese furchtbaren Laute, die nicht mehr menschlich klangen, aber statt dessen brach er in Tränen aus, die ihm brennend über sein zerkratztes Gesicht liefen.

Dann wurde er wütend, schrecklich wütend.

Er sprang auf, gestikulierte auf den See hinaus und schrie mit tränenerstickter Stimme: »Dieser Vollidiot!« Wahllos schlug er mit beiden Händen nach irgendwelchen Blättern. »Warum mußte er da runterklettern, he? Könnt ihr mir das mal verraten? Dieser verdammte Scheißkerl, hatte er denn immer noch nicht genug?«

»Ist er ...?«

»Er ist in diesen Scheißsumpf gefallen. Er ist tot!« schrie er sie an, daß sie zusammenzuckte. Aber wußte er es denn sicher? Wo war der Beweis? Wahrscheinlich lebte Tobias da unten noch, versuchte noch immer verzweifelt, Sauerstoff in die Lungen zu bekommen, riß den Mund auf, um zu schreien, um zu atmen, um endlich wieder Luft zu holen, sein ganzer Körper, jede einzelne Zelle schrie nach Sauerstoff, und schluckte statt dessen diese widerliche, zähe, vorsintflutliche Pampe. Wie lange dauerte es, bis jemand erstickte? Hoffte er noch, daß ihn jemand wieder herauszog? Diese Hand .

Irgendwann, Micha bemerkte es kaum, tauchte Axt auf. Er sah unheimlich aus, heulte und war über und über mit stinkendem Schlamm bedeckt. In ihrer Mitte fiel er einfach in sich zusammen, schlug mit einem dumpfen Geräusch auf den weichen Waldboden und blieb dort von Weinkrämpfen geschüttelt liegen.