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In Micha schlug die Wut ein wie ein Blitzschlag. »Hören Sie doch endlich auf zu flennen! Was soll denn das«, fuhr er Axt an, der gequält aufheulte. »Sie kannten ihn doch gar nicht. Es widert mich an!«

Micha sah rot. Noch einmal schlug und trat er auf die Pflanzen ein, die sich in seiner Reichweite befanden, versuchte seine unbeschreibliche Wut loszuwerden. Wut auf wen? Er wußte es nicht. Auf Tobias? Herzog? Den jammernden Axt? Auf den Wald? Auf diese Reise, den ganzen Wahnsinn?

Schweigend, jeder in sich selbst gekehrt, hockten sie da. Hin und wieder war ein Schluchzen zu hören, jemand räusperte sich oder schneuzte sich die Nase. Pencil war verschwunden. Er hatte sich irgendwohin verkrochen.

Warum machte er sich nur solche Vorwürfe? Hätte er sie denn noch retten können? Wohl kaum, alles war viel zu schnell gegangen. Und Herzog? Was mochte in ihm vorgehen? Auch er gab sich die Schuld, das war offensichtlich. Er war am Boden zerstört, kaum noch als der starke, Respekt einflößende Eozän wiederzuerkennen, den sie vor Wochen getroffen hatten. Es schien schon eine Ewigkeit her zu sein. Und warum führte Axt ein solches Theater auf? Er wimmerte und hatte sich auf dem lehmigen Waldboden wie ein Embryo zusammengekrümmt. Und was war mit Ellen? War sie etwa die Person, die sie gesucht hatten? Ausgerechnet Ellen?

Nein, Tobias war selbst schuld gewesen. Sein eigener Übermut hatte ihn in den Tod getrieben. Es war nahezu ein Wunder, daß es ihn erst jetzt erwischt hatte. So ein Irrsinn, sich mit nur einem gesunden Arm auf eine solche Auseinandersetzung einzulassen. Oder hatte er sich die Kampfgeräusche nur eingebildet? Aber so war Tobias eben. Micha wußte es, wußte es genau, aber wieder und wieder liefen die Ereignisse vor ihm ab, und er suchte verzweifelt nach dem Fehler, seinem Fehler. War Tobias überhaupt sein Freund gewesen? Er hatte ihn noch vor wenigen Tagen zum Teufel gewünscht. War es überhaupt Trauer, was er empfand?

Claudia konnte noch nicht einmal weinen, so schockiert war sie. Das kam erst später. Sie saß nur stumm da und starrte den Boden an, streckte die Hand nach Pencil aus, als dieser angetrottet kam und sich neben sie auf den Boden legte.

Micha hatte genug. Er wollte niemanden mehr sehen, mit niemandem reden, und nur noch weg von diesem Ort, der ihm noch vor kurzem wie das Paradies vorgekommen war. In Wirklichkeit hatten sie hier ihre ganz persönliche Hölle gefunden. Wortlos stand er auf und schlug den Weg zum Fluß ein. Der Pfad, den Herzog in den Dschungel geschlagen hatte, war deutlich zu erkennen. Er blickte sich nicht um, ob jemand folgte, sondern lief einfach los, völlig in Gedanken versunken.

Keinen Blick verschwendete er mehr auf diesen See - Tobias’ und Ellens Grab -, auf den See nicht und auf nichts anderes, was längs des Weges lag. Seine schlammverschmutzten Schuhe waren das einzige, was er noch wahrnahm, als er mechanisch einen Fuß vor den anderen setzte, und Tobias’ Gesicht, die Hand, die aus dem Morast geragt hatte. Wäre er dagewesen, er hätte sie packen können. Oder war es gar nicht Tobias’, sondern Ellens Hand gewesen, die er gesehen hatte? Er war sich nicht mehr sicher. Die beiden waren nur wenige Meter auseinander gewesen. Was war nur in sie gefahren, daß sie sich wie die Verrückten aufführen mußten? Sie hatten sich gegenseitig umgebracht, waren einer des anderen Mörder. Er drehte noch durch, wenn er weiter darüber nachdachte.

Erst als er am Flußufer ankam, sah er sich um. Claudia ging mit gesenktem Kopf nur wenige Meter hinter ihm, Axt war nicht zu sehen, und Herzog folgte erst mit großem Abstand. Er schien sich nur noch dahinzuschleppen, ein einsamer alter Mann. Wie lange würde er hier noch überleben, allein, ohne jede Unterstützung? In diesem Moment war es Micha egal. Ihm war alles gleichgültig, wenn nur bald dieser Alptraum ein Ende fand.

Als Herzog endlich das Flußufer erreicht hatte, kam er auf Claudia und Micha zu, die sich ein paar Meter voneinander entfernt ans Wasser gesetzt hatten.

»Es tut mir so leid«, sagte er leise und machte eine hilflose Geste. »Ich ... ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich wollte euch doch nur .«

»Ich weiß«, schnitt Micha ihm das Wort ab, ohne ihn anzuschauen. Was nutzte es, was Herzog gewollt oder nicht gewollt hatte? Wen interessierte das jetzt noch? Und was nutzte es, was er, Michael Hofmeister, wollte? Was war überhaupt seine erbärmliche Rolle gewesen in dem ganzen Drama, fragte er sich jetzt voller Bitterkeit. Ein elendes Scheißspiel war das! Wenn Herzog nicht gewesen wäre, wäre er hier irgendwo jämmerlich krepiert, und wenn Tobias nicht ein zweites Mal in sein Leben getreten wäre, hätte er diese Reise niemals unternommen. War er nur ein Objekt, ein Spielball der anderen gewesen, ohne einen eigenen Willen?

Tobias war tot. Tot!

Die natürliche Auslese darf man sich als die dominierende Kraft hinsichtlich der Stabilität der Arten vorstellen, aber ihre Macht ist beschränkt. Bis zu einem gewissen Grad betreiben die Organismen ihre Evolution selbst, und zwar durch ihr Verhalten, die Auswahl, die sie treffen und die zu neuen Adaptionen führt.

Robert Wessen, Die unberechenbare Ordnung

9

Tinnitus

Fast ein halbes Jahr später saß Axt allein in seiner Küche und starrte gedankenversunken aus dem Fenster. Es war ein regnerischer Spätsommertag, der erste Vorbote eines frühen Herbstes. Einige der Bäume begannen sich schon gelb zu färben, in seinem Vorgarten blühten die Astern.

Marlis war mit Stefan nach Frankfurt gefahren zu ihrer Freundin. Sie wußte, was er an diesem Wochenende vorhatte, und sie waren gemeinsam zu der Überzeugung gelangt, daß er dabei besser allein wäre. Der Zeitpunkt war ungewöhnlich günstig. Sabine war zu einer Tagung nach St. Petersburg gefahren, und sie war die einzige, die hin und wieder auf die Idee kam, am Wochenende unangekündigt in der Station aufzutauchen, um dort zu arbeiten.

Er hörte das Klappern des Briefkastendeckels, stand auf und holte die Post. Bankauszüge, Werbung, ein Brief für Marlis, die Telefonrechnung. Dann hielt er plötzlich einen Brief mit Berliner Poststempel, aber ohne Absender in der Hand.

Axt riß den Umschlag auf und runzelte die Stirn, als er erkannte, von wem der Brief stammte. Eine Woge schmerzhafter Erinnerungen überschwemmte ihn. Welch ein merkwürdiger Zufall, daß dieser Brief ausgerechnet heute ankam, an dem Tag, an dem er endlich einen Schlußstrich unter dieses Kapitel seines Lebens ziehen wollte. Aber Zufälle dieser Art waren ja von Anfang an charakteristisch gewesen für diese Geschichte. Der Brief war von Michael Hofmeister und seiner Freundin Claudia.

Schnell überflog er die Zeilen und mußte schließlich lächeln. Die beiden hatten eine Dreizimmerwohnung gefunden und waren zusammengezogen. Außerdem stand, wenn er die Andeutung richtig interpretierte, Nachwuchs ins Haus. Zwischen den Zeilen war zu lesen, daß kein Zweifel darüber bestehen konnte, wann das Kind gezeugt worden war. Seltsam, seit ihren dramatischen Erlebnissen damals verknüpfte ihn mit den beiden ein unsichtbares, aber festes Band, das Freundschaft zu nennen nicht ganz den Kern der Sache traf. Sie hatten sich seitdem nie wieder gesehen. Aber in den Wochen nach Tobias’ Tod, waren sie sich sehr nahe gekommen, und als sie sich schließlich kurz hinter der deutsch-tschechischen Grenze getrennt hatten, waren Tränen geflossen auf beiden Seiten. Trotzdem hatten sie verabredet, keinen Kontakt miteinander aufzunehmen. Es war einfach zu gefährlich. Schließlich hatten zwei Menschen ihr Leben verloren.