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Der Brief der beiden war das erste Lebenszeichen, das er seitdem erhalten hatte, und war natürlich ein Bruch dieser Vereinbarung, aber er konnte ihnen deshalb nicht böse sein. Um die furchtbaren Ereignisse dieses Frühjahrs hatte er lange Zeit eine dicke Mauer gezogen und jeden Gedanken daran zu verdrängen versucht. Aber in letzter Zeit hatte er immer öfter an sie denken müssen. Mit Herzog stand er noch in enger Verbindung. Er hatte nach der Rückkehr für einige Wochen mit bei ihnen im Hause gewohnt und war zu einem guten Freund der Familie geworden, speziell von Stefan, der überhaupt nicht einsehen wollte, warum dieser interessante Mann, der soviel über Dinosaurier wußte und sich stundenlang mit ihm darüber unterhalten konnte, sie wieder verlassen mußte. Heute lebte Herzog in Niederbayern, wo er unter einfachsten Verhältnissen einen alten Bauernhof bewohnte, eine neue Eremitage. Eine andere Lebensform war für Herzog wohl auf Dauer undenkbar.

Wenn er seinen Plan an diesem Wochenende erfolgreich durchgeführt hatte, würde er versuchen, zu Micha und Claudia Kontakt aufzunehmen. Er hatte ihnen nie erzählt, daß Tobias wieder aufgetaucht war und, eingeschlossen in einen zentnerschweren Schieferblock, zusammen mit vielen anderen eozänen Fossilien im Keller der Senckenberg-Station ruhte wie in einem anonymen Massengrab. Nach allem, was passiert war, nachdem sein Plan so kläglich fehlgeschlagen und Tobias vor seinen Augen umgekommen war, hätte er es ihnen doch unmöglich sagen können. Das brachte er einfach nicht fertig. Auch Herzog wußte nichts davon.

Er selbst hatte Wochen gebraucht, um einigermaßen darüber hinwegzukommen. Heute erschien es ihm manchmal, als hätte es gar nicht anders verlaufen können. Zeitreisen folgten wohl ihrer eigenen vertrackten Logik. Neuerdings waren es ja die Physiker höchstpersönlich, die in angesehenen Fachzeitschriften Spekulationen darüber anstellten, wie sich die bei Zeitreisen auftretenden logischen Widersprüche vermeiden ließen. Ein Amerikaner hatte in diesem Zusammenhang die Ansicht vertreten, im Prinzip sei alles möglich. Es existierten viele parallele Universen nebeneinander, in denen alle nur denkbaren Möglichkeiten der geschichtlichen Entwicklung schon realisiert seien, und man würde bei Manipulationen der Vergangenheit einfach nur von einem Universum in ein anderes hinüberwechseln, ohne es selbst zu merken. Demnach hätte er vielleicht doch eine Chance gehabt, aber gar nicht mitbekommen, ob seine Mission erfolgreich verlaufen wäre. Er wäre dann in eine Welt zurückgekehrt, in der nie ein Messeler Homo-sapiens-Skelett gefunden wurde. Seltsamerweise interessierten ihn derartige Spekulationen plötzlich brennend. Er verschlang stapelweise obskure Science-fiction-Romane, für die er früher nur ein mitleidiges Lächeln übrig gehabt hätte. Tagelang beschäftigte ihn die Frage, ob er eigentlich auch sein eigenes Skelett aus dem Schiefer hätte bergen können, wenn er an Tobias Stelle gewesen wäre. Natürlich wäre das nur möglich gewesen, wenn er das Skelett vor dem eigentlichen Reiseantritt gefunden hätte. Ein seltsamer Gedanke. Hätte er sich überhaupt erkannt? Schließlich fehlten ihm so unverwechselbare Kennzeichen wie Tobias’ Zahndiamant. Er spürte, wie das Rauschen in seinem Ohren wieder zunahm, und schüttelte energisch den Kopf. Manchmal half das.

Micha schrieb weiter, daß ein alter Schulfreund von ihm vermißt werde. Er hätte ihn gerade erst vor ein paar Monaten überraschend wieder getroffen, und nun sei er verschwunden. Das sollte wohl heißen, daß Micha, wie sie es verabredet hatten, nach einigen Wochen zur Polizei gegangen war und eine Vermißtenanzeige aufgegeben hatte, sofern dies nicht schon geschehen war. Sie hatten sich eine Geschichte überlegt, die er der Polizei erzählen sollte, und Micha hatte sich schon damals vor Angst fast in die Hosen gemacht, wenn er nur daran dachte. Aber es ging nicht anders. Nur er konnte es tun. Claudia durfte da nicht mit hineingezogen werden. Sie hatte Tobias nie getroffen. Micha sollte sagen, daß er und Tobias sich auf der Reise heftig gestritten und daraufhin getrennt hätten. Bei jungen Leuten, die zusammen in die Ferien fuhren, kam das andauernd vor, und niemand würde etwas dabei finden. Aber jetzt, Wochen nach seiner Rückkehr, sollte Micha sagen, käme es ihm doch merkwürdig vor, daß Tobias immer noch nicht zurückgekehrt sei, jedenfalls ginge er nie ans Telefon.

Micha erkundigte sich in seinem Brief, ob Axt schon wüßte, was an der FU geschehen sei. Ein Berufskollege von ihm, der Berliner Paläontologe Prof. Dr. Alois Sonnenberg sei in seinem Arbeitszimmer erschossen aufgefunden worden. Eine Putzfrau hatte ihn entdeckt, als sie frühmorgens im Institut saubermachen wollte. Mit großer Wahrscheinlichkeit sei es Selbstmord gewesen, aber seltsamerweise sei seine Assistentin, eine Ellen Hartmann, seitdem vermißt. Ob ihr Verschwinden in Zusammenhang mit Sonnenbergs Tod stand, sei unklar. Die Polizei suche noch immer nach ihr.

Axt hatte schon davon gehört, aber die Nachricht ließ ihn seltsam kalt. Letzten Endes hatte der Alte an allem Schuld gehabt. Er war irgendwie durchgedreht, hatte das Geheimnis, das er mit sich herumtrug, und die seltsame Situation, in die es ihn gebracht hatte, nicht mehr verkraftet. Vielleicht war es besser, daß er auf diese Weise keinen weiteren Schaden mehr anrichten konnte.

Die letzten Sätze des Briefes waren in eindringlichem Ton gehalten, und sie handelten nur von einem Thema. Der Eingang müsse verschlossen werden, stand da, die Höhle müsse zerstört werden, wenn das ganze Theater nicht irgendwann von vorne beginnen sollte. Wie recht sie hatten!

Sie wußten natürlich nicht, daß Herzog und er das schon erledigt hatten, auch wenn es Axt unendlich schwergefallen war, noch einmal dorthin zu reisen, wo er seine schwersten Stunden durchlitten hatte. Aber Herzog hatte ihn wochenlang bearbeitet, ihn bekniet, daß sie etwas unternehmen müßten.

Eigentlich ging es zunächst gar nicht darum, den Höhleneingang zu verschließen. Wie hätten sie das auch anstellen sollen? Dazu brauchte man Sprengstoff und an den kam man auch als Paläontologe nicht so ohne weiteres heran. Nein, was Herzog unablässig zu beschäftigen schien, waren die Aktivitäten dieses Fallenstellers. Sie waren sich nicht sicher, ob Ellen wirklich die Schuldige war. Wenn man bei den harten Fakten blieb, und das sollte man als Wissenschaftler ja tun, dann gab es dafür nicht den geringsten Beweis. Vielleicht hatte sie auf irgendeine Weise von der Höhle erfahren, womöglich von Sonnenberg selber, sie war schließlich seine Assistentin, und sie hatte sich dann auf eigene Faust auf den Weg gemacht. Vielleicht wäre sie genauso entsetzt gewesen wie er und Herzog, wenn sie von den Vorgängen erfahren hätte, die sich im Tertiär abgespielt hatten. Es wäre unfair, sie ohne weitere Beweise zu beschuldigen, sie, die wie Tobias’ Opfer dieses schrecklichen Unfalls geworden war.

Sie mußten also davon ausgehen, daß dieser Unbekannte weiter existierte, und wenn es auch sehr unwahrscheinlich war, daß sie ihm das Handwerk legen konnten, so mußten sie es doch wenigstens versuchen und die Spuren seiner Aktivitäten soweit wie möglich beseitigen. Darum ging es Herzog. Es war das einzige, was ihn wirklich zu beschäftigen schien.

Herzogs Beharren, sein ewiges Drängen hatten bei Axt lange Zeit nichts weiter zur Folge als grenzenloses Entsetzen. Um nichts in der Welt wollte er sich diesem Alptraum noch einmal aussetzen, auch wenn die Vorzeichen diesmal völlig anders gelagert waren. Zu seinem Erstaunen war es ausgerechnet Marlis, die schließlich den Ausschlag für seinen Sinneswandel gab. Als sie erfuhr, was Herzog so beunruhigte, war ihre erste Reaktion kompromißlose Abwehr. Aber ein paar Tage später änderte sie ihre Meinung, und als sie abends nebeneinander im Bett lagen, sagte sie: »Du mußt mit ihm fahren, Helmut! Du darfst ihn nicht alleine gehen lassen.«

Außer den acht verschwundenen Fossilien schienen sich zunächst keine weiteren Vorfälle ereignet zu haben, die Herzogs Befürchtungen begründet erscheinen ließen. Aber er wurde nicht müde zu betonen, welche katastrophalen Folgen zu befürchten waren, wenn man dem Treiben nicht einen Riegel vorschob. Genaugenommen gab es nicht viele Hinweise, daß das Wirken dieses Menschen tatsächlich so katastrophal war, wie Herzog behauptete. Manchmal hatte Axt den Verdacht, Herzog störte nur die Vorstellung, nicht der einzige gewesen zu sein, der da unten gelebt und Studien getrieben hatte. Er verbrachte Stunden und Tage in Bibliotheken und Zeitungsarchiven, blätterte Fachzeitschriften und Tagungsberichte durch, um irgendwelche Hinweise auf mögliche Veränderungen des Evolutionsverlaufs zu finden. Aber lange Zeit blieben seine Bemühungen ohne Erfolg.