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Eines Abends kam er in heller Aufregung durch die Tür gestürzt, warf dem Zeitung lesenden Axt eine Fotokopie auf den Wohnzimmertisch und sagte mit einem Ausdruck größter Bestürzung: »Da! Ich wußte es.«

Es war ein Leserbrief in einer lokalen Entomologenzeitschrift, die er, weiß Gott wo, ausgegraben hatte. Ein verzweifelter Wissenschaftler oder Hobbyforscher, der aus seiner Verwirrung keinen Hehl machte, wandte sich mit der dringenden Aufforderung an die Leser des Blattes, ihm doch bitte mitzuteilen, ob jemandem in letzter Zeit Funde der Blattkäfergattung Donacia bekannt geworden seien. Die Tiere, über die er schon seit Jahren arbeite und die spezialisierte Bewohner bestimmter Seerosenarten darstellten, seien buchstäblich über Nacht verschwunden. Er habe keine Erklärung für dieses Phänomen und ein derart plötzliches Aussterben einer ganzen Tiergattung sei seines Wissens auch ein beispielloser Vorgang, den man unbedingt genauer analysieren müsse. Er wisse, was er den Lesern mit dieser Behauptung zumute, aber am Tag vor ihrem plötzlichen Verschwinden hätten die Tierchen noch in großer Zahl auf ihren Seerosenblättern gesessen. Er müsse mit Hilfe anderer naturliebender Menschen unbedingt herausbekommen, ob es sich nur um das Erlöschen einer lokalen Population handele oder ob die Tiere auch andernorts verschwunden seien.

Axt rieb sich das Kinn und sagte: »Du meinst ...?«

»Du etwa nicht?« Herzog lief aufgeregt im Wohnzimmer umher. »Ich bin sicher, daß dies etwas mit unserem Freund zu tun hat. Vielleicht haben die Vorfahren dieser Tiere in dem verschütteten Sumpf gelebt. Ich weiß, es klingt absurd, aber es gab dort viele Tierarten, die nirgendwo anders auftraten. Helmut, wir müssen etwas tun. Wir haben doch keine Ahnung, was der Kerl noch so alles anstellt. Vielleicht ist das nur der Anfang.«

»Du glaubst nicht daran, daß Ellen die Schuldige war, nicht wahr?«

Herzog zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Ich hab keine Ahnung. Ich weiß nur, daß wir uns endlich Gewißheit verschaffen müssen. Wir können hier nicht länger untätig herumsitzen und warten, bis noch mehr verschwindet. Siehst du denn immer noch nicht, was da im Gange ist? Du mußt dich entscheiden. Wenn du nicht mitkommen willst, dann fahr ich alleine.«

»Kommt nicht in Frage. Das darfst du nicht. Es ist viel zu gefährlich.«

Herzog lächelte nachsichtig. »Du vergißt, daß ich dort fast zehn Jahre gelebt habe. Ich wüßte wirklich nicht, was daran gefährlicher gewesen wäre, als sich in dieser beschissenen Stadt auf ein Fahrrad zu wagen.«

Axt wurde nervös. Er stand auf und ging in die Küche, um sich ein Bier zu holen. Als er zurückkam, stand Herzog an der Terrassentür und starrte mit finsterer Miene in den Garten hinaus.

»Ich kann das verstehen, wenn du nicht mit willst. Wirklich! Du hast Frau und Kind. Ich mach dir keinen Vorwurf«, sagte er. Kein Zweifel. Herzog war fest entschlossen, noch einmal durch die Höhle zu fahren. Sein markantes Gesicht wirkte noch härter als sonst. Er hatte sich den urzeitlichen Bart abgenommen, und Axt sah, wie seine Kiefermuskulatur arbeitete.

Eine Woche später brachen sie auf. Sabine und die anderen in der Station hatten ihn angesehen, als ob sie ihn für übergeschnappt hielten. Besonders Sabine hatte sich schon nach seiner ersten wochenlangen Abwesenheit befremdet gezeigt und ihm kein Wort seiner wohl nicht besonders überzeugend klingenden Erklärung abgenommen. Sicherlich spürte sie, daß irgend etwas Außergewöhnliches im Gange war, und empfand es als persönliche Beleidigung, daß er sie nicht ins Vertrauen zog. Aber darauf konnte er keine Rücksicht nehmen. Er war der Chef und seinen Mitarbeitern keine Rechenschaft schuldig. Eher schon Schmäler, aber dem schien es ja egal zu sein, Hauptsache, man verschonte ihn ein für allemal mit anachronistischen Homo sapiens-Skeletten und verschwindenden Fossilien. Ihr einst so vertrautes Verhältnis war mittlerweile auf einem kaum noch zu unterbietenden Tiefpunkt angekommen.

Das Tertiär wirkte unverändert und seltsam vertraut. Sie errichteten ein Basislager, das an einer geschützten Stelle nahe dem Flußufer lag, und unternahmen von dort Streifzüge in den Dschungel, zu Fuß oder mit dem Floß, das sie hinter den Stromschnellen unversehrt wiedergefunden hatten. Mit jedem Tag drangen sie tiefer in den Wald ein und durchstreiften schließlich Gebiete, die auch Herzog noch nie zuvor betreten hatte. Dort fanden sie, was sie suchten.

Es war schlimmer, als Herzog befürchtet hatte. Erst stießen sie auf Mausefallen, in denen zum Teil noch die bis auf die blanken Knochen abgenagten Überreste ahnungsloser Opfer klemmten, und verbrannten sie. Dann fanden sie einige andere improvisierte Konstruktionen, die wohl ebenfalls dem Fang von Tieren dienten, ein zerrissenes Netz, das zwischen zwei Bäumen aufgespannt war und in dessen Maschen noch einige Vogelkadaver hingen, in den Boden eingegrabene Glasgefäße, die vor Insekten nur so wimmelten, einige an Ästen hängende Klebestreifen, wie man sie zum Fliegenfang benutzte.

Sie entdeckten erst einen, dann mehrere Bäume, die aus der Ferne mit ihren in weißen, oft zerfetzten Gazehäubchen stek-kenden Blütenständen aussahen, als seien sie von einer mysteriösen Krankheit befallen, einer Art Ausschlag oder Pilz. Das alles zeigte, daß hier jemand systematische Sammlungen und Untersuchungen durchgeführt hatte, stützte aber die von Herzog immer wieder mit Nachdruck vertretene Behauptung, hier sei ein Wahnsinniger am Werke, in keiner Weise. Sie deuteten eher auf das Gegenteil.

Dann aber stießen sie auf Lichtungen, deren ursprüngliche Vegetation abgetötet und wie verdorrt daniederlag, ein entsetzlicher, verstörender, abstoßender Anblick inmitten der üppigen Fülle tropischer Vegetation, die sie umgab und sich anschickte, das zerstörte Terrain langsam wieder zurückzuerobern.

Aber es kam noch schlimmer. Mit fassungslosen Gesichtern gingen sie tags darauf durch ein lichtes Waldgebiet, dessen Boden übersät war mit toten Tieren, Insekten, Vögeln, Reptilien, Kröten, Insektenfressern, sogar zwei kleinen Hirschen, eine grausige Kollektion der Bewohner dieses Waldes. Ein bestialischer Gestank nach Schimmel und Verwesung lag in der Luft. Millionen von Ameisen, anscheinend die einzigen Überlebenden dieses Massakers, übernahmen die traurigen Pflichten der Totengräber. Anfangs rätselten sie, wie eine solche Tragödie überhaupt geschehen konnte, und brachten diese Katastrophe gar nicht mit dem Treiben des Unbekannten in Verbindung. Aber dann entdeckten sie das rosarote Pulver, das überall auf dem Boden lag. Insektizid! Gift!

Sie waren außer sich. Das war Wahnsinn, pure Mordlust. Sie hatten es mit einem Irren zu tun, einem gemeingefährlichen Verbrecher an der Schöpfung, einem Menschen, der jegliches Maß, jede Art von Kontrolle über sein Handeln verloren hatte, der wahllos zuschlug und tötete, seinen blinden Haß an der Natur austobte, ein Terrorist.

Wer hatte das getan?

Sie bahnten sich mühsam einen Weg durch dichtes Gestrüpp, als Herzog auf eine Höhle deutete, ein dunkles Loch, das in einer über das Dschungeldach ragenden Felsformation klaffte. Als sie wenig später einen Pfad entdeckten, der zur Höhle hinaufzuführen schien, schlug Axt das Herz bis zum Hals, und er wollte Herzog zurückhalten, der schon Anstalten machte, aus dem schützenden Dickicht des Waldes hinauszutreten.