Seit den Ereignissen am Nachmittag hatten sie nicht mehr miteinander gesprochen, doch es war, als brauchte jeder die Gegenwart des andern. Die Angst, die ihnen die Sprache verschlug, war eine Angst, die andere Eltern auch schon erlebt hatten: die erste Ahnung, daß mit ihrem Kind irgend etwas nicht stimmte. Noch lag ein Mantel des Schweigens über dieser Angst – noch war sie nicht wirklich, noch wollten sie nicht darüber sprechen.
Katherine griff mit einer Hand in die Schüssel und als sie merkte, daß das Wasser zu kalt war, wrang sie das Tuch aus und legte es beiseite. Jeremy machte den Anfang.
»Sicherlich möchtest du keinen Arzt kommen lassen?« fragte er ruhig.
Sie schüttelte den Kopf.
»Es sind ja bloß ein paar Kratzer.«
»Ich meine … wegen Damien«, sagte Thorn.
Einen Augenblick saß sie steif da, dann zuckte sie hilflos mit den Schultern.
»Was sollten wir ihm denn sagen?« flüsterte sie.
»Wir brauchen ihm ja gar nichts zu sagen. Nur … ich meine … er soll ihn eben einmal untersuchen.«
»Er ist erst letzten Monat untersucht worden. Es ist alles in Ordnung mit ihm. In seinem ganzen Leben ist er nicht einen Tag krank gewesen.«
Thorn nickte. Er dachte darüber nach.
»Er ist nie krank gewesen, ja?« fragte er neugierig.
»Nein.«
»Das ist merkwürdig, nicht wahr?«
»Wirklich?«
»Ich denke schon.«
Er sagte es so, daß sie sich zur Seite wandte, um ihn anzusehen. Ihre Blicke trafen sich, und Katherine wartete, daß er weitersprach.
»Ich meine … nicht mal Masern, Mumps … oder Windpocken. Noch nicht einmal einen Schnupfen oder Husten hatte er. Oder sonst eine Erkältung.«
»So?« fragte sie, als ob sie sich verteidigen müßte.
»Ich … ich meine … ja, es ist ungewöhnlich.«
»Wieso denn? Ich halte es nicht für ungewöhnlich.«
»Aber ich.«
»Er hat ja schließlich gesunde Eltern.«
Thorn schwieg, und sein Magen zog sich zusammen. Sie wußte immer noch nichts. Es war ein Geheimnis. Ein Geheimnis, das er tief in sich verschlossen hatte.
In den vergangenen Jahren hatte er oft daran denken müssen, aber meistens hatte er das Gefühl gehabt, es richtig gemacht zu haben. Natürlich war ab und zu ein Schuldgefühl aufgetaucht, aber er hatte sich damit getröstet, daß er ihr dieses Glück ja geschenkt hatte. Wenn alles gut ging, dann war es leicht, die Dinge so treiben zu lassen – das Geheimnis für sich zu behalten. Doch nun war es irgendwie spruchreif geworden, und er mußte dagegen ankämpfen, es nicht hinauszuschreien; es war, als schnürte ihm einer die Kehle zu.
»Wenn es in deiner oder in meiner Familie früher irgend jemanden gegeben hätte, der geistig gestört gewesen wäre … dann, ganz ehrlich, würde ich mir darüber Sorgen machen, was heute geschehen ist.«
Er wollte sie ansehen, doch dann sah er schnell an ihr vorbei.
»Aber ich habe über all das nachgedacht«, fuhr sie fort. »und ich weiß, daß wir uns keine Sorgen zu machen brauchen. Damien ist ein hübscher, guter, ein gesunder Junge. Er hatte gesunde Vorfahren, wir beide können stolz auf unseren Stammbaum sein.«
Unfähig sie anzusehen, nickte Thorn beifällig.
»Irgend etwas hat ihn erschreckt, das ist alles«, fügte Katherine hinzu. »Er ist ja schließlich ein Kind. Vielleicht hat er irgend etwas gesehen, was wir nicht gesehen haben … ja, das könnte sein. Und er hat Angst bekommen.«
Wieder nickte Thorn. Er fuhr mit der Hand über die Stirn, denn er war sehr müde. Immer noch sehnte er sich danach, es ihr zu sagen, ihr endlich die Wahrheit zu sagen. Doch es war zu spät. Es war alles schon viel zu lange her. Rom … jetzt würde sie ihn dieser Geschichte wegen hassen. Vielleicht würde sie sogar das Kind hassen. Es war zu spät. Sie durfte es niemals erfahren. Niemals!
»Ich habe über Mrs. Baylock nachgedacht«, sagte Katherine.
»Ja?«
»Ich bin zu dem Entschluß gekommen, daß wir sie behalten sollten.«
»Heute abend schien sie sehr nett zu sein«, meinte Thorn ruhig.
»Damien macht sich Sorgen. Vielleicht hat er gehört, daß wir im Auto über sie gesprochen haben.«
»Ja«, sagte Thorn.
Es war durchaus möglich. Vielleicht hatte das dieses gräßliche Angstgefühl ausgelöst. Sie hatten geglaubt, er höre nicht zu, aber offensichtlich hat er alles verstanden. Und der Gedanke, Mrs. Baylock zu verlieren, hat ihn in Panik versetzt.
»Ja«, wiederholte Thorn, und seine Stimme war voller Zuversicht.
»Ich denke daran, ihr zusätzliche Pflichten zu übertragen«, sagte Katherine. »Damit sie tagsüber eine Weile nicht im Hause ist. Vielleicht kann ich sie am Nachmittag zum Einkaufen schicken, und so kann ich mehr Zeit mit Damien verbringen.«
»Wer erledigt das jetzt? Das Einkaufen.«
»Mrs. Horton.«
»Wird sie begeistert sein, wenn sie es aufgeben muß?«
»Ich weiß nicht. Aber ich möchte einfach mehr Zeit mit Damien verbringen.«
»Ich glaube, das wäre ganz gut.«
Wieder schwiegen sie, und Katherine wandte sich ab. »Ich glaube, das ist gut«, wiederholte Thorn noch einmal. »Ja, das ist sehr gut so.«
Einen Augenblick hatte er das Gefühl, daß alles in Ordnung sei. Und dann sah er, daß Katherine weinte. Hilflos beobachtete er sie, während ihm das Herz blutete. Er wußte nicht, wie er sie nun trösten sollte.
»Du hast recht, Kathy«, flüsterte er. »Damien hat gehört, daß wir davon gesprochen haben, sie zu entlassen. Genau das ist es. Wir hätten daran denken müssen. Es ist eine natürliche Reaktion.«
»Ich bete zu Gott, daß du recht hast«, antwortete sie mit bebender Stimme.
»Natürlich …«, sagte er halblaut. »Genau das ist es.«
Sie nickte, und als die Tränen versiegt waren, erhob sie sich und sah hinaus in die Nacht.
»Nun ja«, sagte sie. »das Beste, was man mit einem bösen Tag anfangen kann, ist, ihn zu beenden. Ich gehe zu Bett.«
»Ich bleibe noch ein Weilchen hier draußen sitzen. Aber ich werde bald nachkommen.«
Ihre Schritte verklangen hinter ihm, und dann war er mit seinen Gedanken allein.
Plötzlich tauchte vor seinem geistigen Auge das Hospital in Rom auf. Er sah sich selbst dort, als er vor jenem Fenster stand und zustimmte, das Kind anzunehmen. Warum hatte er sich nicht eingehender über die Mutter erkundigt? Wer war sie? Wo war sie hergekommen? Wer war der Vater und warum war er nicht da?
Im Laufe der letzten Jahre hatte er verschiedene Vermutungen angestellt, und sie hatten ihn beruhigt.
Wahrscheinlich war Damiens wirkliche Mutter ein Bauernmädchen, ein gläubiges Mädchen, das ihr Kind in einem katholischen Hospital zur Welt gebracht hatte.
Es war ein sehr teures Hospital, und ohne irgendwelche Verbindungen hätte sie dort nicht entbinden können. Vermutlich war sie selbst Waise, hatte also keine Familie. Das Kind war unehelich – ein Grund mehr, weshalb der Vater nicht dagewesen war. Was brauchte man sonst noch zu wissen? Was war wichtig? Das Kind war schön und aufgeweckt. »Perfekt in jeder Hinsicht«, könnte man sagen.
Thorn war nicht der Mann, der an seinem Vorhaben zweifelte oder sein Tun bereute. Sein Verstand war dergestalt geformt, daß er stets für richtig hielt, was er getan hatte.
Damals war er verwirrt, ja, verzweifelt gewesen, und seine Seele so verwundbar, daß er auf jeden Vorschlag eingegangen wäre. Konnte dies möglicherweise falsch gewesen sein?
War an der ganzen Sache vielleicht mehr, als er wissen konnte?