Eine Träne rollte über ihre Wange, und Thorn nahm ihre Hände in die seinen.
»Natürlich«, sagte er. »Natürlich.«
Sie weinte.
Die Geschehnisse dieses Tages blieben für immer tief in ihr eingeschlossen.
Es gab in England nicht so viele Psychiater wie in Amerika, und es kostete einige Mühe, einen Spezialisten zu finden, dem man Katherine anvertrauen konnte. Schließlich landeten sie bei einem Amerikaner, der zwar noch ziemlich jung war, aber dafür ausgezeichnete Empfehlungen und nicht zuletzt eine ganze Menge Erfahrung besaß. Er hieß Charles Greer und hatte in Princetown studiert, ein Internat in Bellevue besucht und, was von besonderem Interesse war: er hatte in
Georgetown gewohnt und dort die Frauen einiger Senatoren behandelt.
»Sie werden es vielleicht nicht glauben«, sagte Greer, als Thorn in seiner Praxis vor ihm saß. »aber das allgemeine Problem unter den Frauen der Politiker ist der Alkoholismus. Ich glaube, es ist das Gefühl der Isolierung. Das Gefühl, nicht gleichwertig zu sein. Die Angst davor, daß sie keine eigene Persönlichkeit haben.«
»Sie verstehen, daß das eine vertrauliche Sache ist«, sagte Thorn.
»Genau das ist es, was ich zu verkaufen habe«, lächelte der Psychiater. »Die Leute vertrauen mir und, ganz offen gesagt, das ist alles, was ich anbieten kann. Meine Patienten diskutieren ihre Probleme nicht mit anderen Leuten, weil sie denken, daß ihr Vertrauen mißbraucht wird und so gewissermaßen wieder auf sie zurückfällt, um ihnen Angst einzujagen. Bei mir sind sie sicher. Ich kann nicht viel versprechen, aber das eine kann ich ihnen versprechen.«
»Soll Katherine Sie anrufen?«
»Geben Sie mir nur Ihre Nummer. Lassen Sie sie nicht anrufen.«
»Aber es ist doch nicht so, daß sie nicht will. Sie hat mich gebeten …«
»Gut.«
Da Thorn seine Bedenken nicht verbergen konnte, lächelte der junge Arzt.
»Werden Sie mich anrufen, nachdem Sie sie gesehen haben?« fragte Thorn.
»Ich bezweifle das«, antwortete Greer einfach.
»Ich meine … wenn Sie mir etwas zu sagen haben?«
»Was ich zu sagen habe, das werde ich ihrer Frau sagen.«
»Ich meine, falls Sie sich Sorgen um sie machen …«
»Hat sie mit Selbstmord gedroht?«
»Nein.«
»Dann werde ich mir um sie auch keine Sorgen machen. Ich bin sicher, daß der Fall nicht so ernst ist, wie Sie glauben.«
Beruhigt ging Thorn zur Tür.
»Mr. Thorn?«
»Ja?«
»Warum sind Sie heute hierhergekommen?«
»Um Sie zu sehen.«
»Aus welchem Grunde?«
Thorn zuckte mit den Schultern. »Wollte mal wissen, wie Sie aussehen, vermute ich.«
»Gibt es irgend etwas Besonderes oder Ungewöhnliches, das Sie mir sagen wollten?«
Wieder überfiel Thorn dieses unbehagliche Gefühl. Aber er schüttelte den Kopf.
»Schlagen Sie mir vielleicht vor, daß ich einen Psychiater aufsuchen sollte?«
»Möchten Sie?«
»Sehe ich aus, als ob ich einen nötig hätte?«
»Ich vielleicht?« fragte der Psychiater.
»Nein.«
»Na sehen Sie, ich habe einen«, lächelte Greer. »Bei meiner Arbeit käme ich ganz schön in Schwierigkeiten, wenn ich keinen hätte.«
Die Unterhaltung war unbefriedigend gewesen, und als Thorn wieder in seinem Büro saß, dachte er fast den ganzen Tag darüber nach.
Als er bei Greer gewesen war, da hatte er das Bedürfnis verspürt, mit ihm zu sprechen, ihm alles das zu sagen, was er nie zuvor jemanden gesagt hatte. Aber wozu wäre das gut gewesen? Die Täuschung war etwas, mit der er leben mußte. Eine Tatsache. Und doch sehnte er sich nach jemandem, dem er sich mitteilen konnte.
Der Tag verging langsam und Thorn versuchte, sich auf eine wichtige Rede vorzubereiten. Er sollte am Abend vor einer Gruppe prominenter Geschäftsleute sprechen, und es war durchaus möglich, daß die Vertreter saudiarabischer Ölstaaten unter den Zuhörern sein würden.
Thorn wollte eine eindrucksvolle Rede halten – eine pazifistische Rede! Es war der ständige Konflikt, mit dem Israel zu kämpfen hatte, der den großen Riß zwischen den Vereinigten Staaten und dem arabischen Block verursacht hatte. Thorn wußte, daß die arabisch-israelischen Feindseligkeiten, wenn man etwas von Geschichte verstand, fast natürlich waren, tief verwurzelt in den Schriften. Aus diesem Grunde besaß er die Bibel – nicht nur eine, sondern drei, und er versuchte sein Wissen durch die Weisheit der Alten zu vergrößern. In Wahrheit gab es einen viel praktischeren Grund, denn es gab auf der ganzen Welt keine Zuhörerschaft, die nicht beeindruckt war, wenn man gelegentlich Stellen aus der Heiligen Schrift zitierte.
Er schloß sich den ganzen Nachmittag ein, bestellte seinen Lunch, während er arbeitete und dann, als er Schwierigkeiten hatte, einige wichtige Passagen zu finden, schickte er einen Boten, der ihm eine Bibliographie und einen Interpretationstext besorgte. Danach war es leichter, denn er konnte sich auf bestimmte Passagen beziehen und außerdem deren Bedeutung theologisch untermauern.
Zum erstenmal seit seiner Kindheit durchblätterte Thorn wieder eine Bibel. Er fand sie faszinierend, besonders hinsichtlich der ewigen Zwistigkeiten im Mittleren Osten. Er entdeckte, daß es der Jude Abraham war, dem Gott zuerst versprochen hatte, daß seine Leute das Heilige Land sehen würden.
Ich werde aus deinem Volk ein großes Volk machen. Wohlstand werde ich ausbreiten über dieses Land und sie werden es für immer besitzen.
Das Land, das Gott den Juden gab, war in den Büchern der Genesis und Josua deutlich begrenzt – es war das Land, das sich zwischen dem Fluß Ägyptens, dem Nil, bis zum Libanon und zum Euphrat erstreckte.
Thorn sah auf seinem Atlas nach und fand, daß der Staat Israel nur ein kleiner Streifen zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer war. Nur ein winziges Stück Land dessen, was Gott offensichtlich versprochen hatte.
Konnte es sein, daß Israels Expansionsdrang von diesem nicht eingelösten Versprechen herrührte? Hier hakte Thorns Interesse ein, und er begann zu grübeln. Durfte Gott etwas versprechen, das er nicht erfüllen konnte?
Wenn ihr den Glauben bewahrt, dann werdet ihr für mich sein ein Königreich der Priester und eine heilige Nation.
Vielleicht war das der Schlüssel? Die Juden hatten das Bündnis mit Gott nicht gehalten. Es hieß, die Juden hätten Christus getötet. Das ergab sich aus dem fünften Buch Mose, denn nach dem Tode Christi wurde den Juden erklärt: Der Herr wird euch unter die Völker zerstreuen und es werden nur wenige von euch unter den Nationen bleiben, wohin Gott euch schickt. Ihr werdet Gefangene unter allen Nationen sein und Jerusalem wird von den Nicht-Juden mit Füßen getreten werden, bis die Zeit der Nicht Juden erfüllt ist.
Das wurde im Buch Lukas wiederholt, hier jedoch war das Wort ›Nichtjuden‹ durch das Wort ›Nationen‹ ersetzt. Ihr werdet mit den Füßen getreten werden, bis sich die Zeit der Nationen erfüllt hat. Es war eine klare Prophezeiung, daß die Juden durch die Geschichte hindurch Verfolgung leiden sollten, und dann würde die Verfolgung enden. Aber was war die Zeit der Nationen? Die Zeit, in der die Verfolgung endete?
Thorn wandte sich den interpretierenden Texten zu und entdeckte, daß dieses eine Beispiel für den Zorn Gottes stand. Eine historische Serie von Verfolgungen, die begonnen hatte, als die Juden aus Israel vertrieben und dann von den Kreuzfahrern abgeschlachtet wurden – auf der Flucht. Im Jahre 1000, so sagen die Dokumente, wurden 12 000 Juden ermordet, dann im Jahre 1200 wurden alle, die Zuflucht in England gesucht hatten, entweder verjagt oder gehängt. Im Jahre 1298 wurden in Franken, Bayern und im heutigen Österreich 100 000 Juden umgebracht; im September 1306 verjagte man weitere 100 000 Juden mit der Androhung, sie anderenfalls zu töten, aus Frankreich. Im Jahre 1348 wurden die Juden beschuldigt, eine weltweite Pestepidemie verursacht zu haben, und mehr als eine Million von ihnen wurde auf dem ganzen Erdball verfolgt und getötet. Im August des Jahres 1492, in jenem Jahr, da Kolumbus Ruhm für sein Land erwarb, da er die Neue Welt entdeckte, vertrieb die spanische Inquisition eine halbe Million Juden und brachte eine weitere halbe Million um.