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Niemand sah in der Dunkelheit jener Nacht die Tränen, die über Tassones Gesicht strömten; von jener Nacht an sah ihn auch niemals jemand in der Versammlungsstätte oder in der Bruderschaft wieder.

Am frühen Morgen floh er aus Rom. Vier Jahre lang lebte er im Verborgenen. Er ging nach Belgien, wo er unter den Armen arbeitete, dann gelang es ihm, in einer Klinik angestellt zu werden, wo er Zugang zu den Drogen hatte, die er brauchte – nicht nur, um den Schmerz in seinem Rücken zu stillen, sondern auch, um nicht mehr daran denken zu müssen, was er in Rom getan.

Er lebte allein und sprach mit keinem. Mit der Zeit begann er zu glauben, daß die Schmerzen im Rücken nicht von den Narben stammen konnten. Und als er schließlich in ein Hospital ging, um sich untersuchen zu lassen, wurde das schnell bestätigt. Ein Tumor verursachte die Schmerzen in seinem Rücken; es war eine bösartige, inoperable Geschwulst, die auf sein Rückgrat drückte.

Jetzt war es für Tassone Zeit, sich auf das Sterben vorzubereiten, und jetzt trieb es ihn auch danach, die Vergebung Gottes zu suchen. Christus war die Güte. Christus würde ihm vergeben. Er würde sich dieser Vergebung würdig erweisen, indem er versuchte, alles, was er getan, ungeschehen zu machen.

Er nahm die ganze Kraft zusammen, die ihm noch geblieben war, und reiste nach Israel. In seinem armseligen Gepäck befanden sich acht Violen Morphium, um die grausamen Schmerzen in seinem Rücken zu stillen. Es war ein Mann namens Bugenhagen, der im Jahre 1092 die erste Nachkommenschaft des Satans entdeckte und über die Möglichkeiten berichtete, diesen Abkömmling zu töten. Im Jahre 1710 war es wieder ein Bugenhagen, der das zweite Auftauchen Satans in dieser Welt herausfand und den Abkömmling so zurichtete, daß er keine irdische Macht mehr ausüben konnte. Sie waren religiöse Eiferer, diese ›Wachhunde Christa; ihre Mission war es, den Unheiligen davon abzuhalten, Besitz von der Erde zu ergreifen.

Sieben Monate brauchte Tassone, um den letzten der Bugenhagens zu finden, denn er lebte in der Dunkelheit einer unterirdischen Festung. Hier wartete er, genau wie Tassone, auf den Tod, gequält von den Plagen des Alters, verstört durch das Wissen, daß er versagt hatte. Er, wie so viele andere, hatte den Zeitpunkt gekannt, doch er war der Tatsache gegenüber hilflos, daß der Sohn des Satans zur Welt gebracht wurde.

Tassone verbrachte nur sechs Stunden mit dem alten Mann. Er erzählte ihm die ganze Geschichte, vor allem seine Rolle bei der Geburt. Voller Verzweiflung hörte ihm Bugenhagen zu, als der Priester ihn um Hilfe bat. Aber er mußte sie ihm verweigern. Er war in seiner Festung eingekerkert und unfähig, die Flucht nach draußen zu wagen. Man müsse, sagte er, jemanden zu ihm bringen, der in der Welt des Kindes lebe.

Obwohl Tassone befürchtete, daß seine Zeit nicht mehr ausreichte, machte er sich auf den Weg nach London, um Thorn zu suchen und ihn zu überzeugen, daß etwas getan werden müsse. Er betete, daß Gott mit ihm sei, doch er fürchtete, daß der Satan ihm zuvorkomme.

Aber er wußte, wie der Teufel arbeitet. Und so tat er alles, damit er am Leben blieb, bis er Thorn finden und ihm seine Geschichte erzählen konnte. Erreichte er das, dann würde man ihm Absolution erteilen und ihn in das himmlische Reich aufnehmen.

Zuerst mietete er sich ein Ein-Zimmer-Flat in Soho und machte eine Festung daraus, die so sicher war wie eine Kirche. Seine Waffe war die Heilige Schrift. Jeden Zentimeter der Wand beklebte er damit, sogar die Fenster. Immer wieder riß er Seiten aus der Bibel. Siebzig Bibeln benötigte er dazu, bis alles getan war. Überall hingen Kreuze. Niemals wagte er es, ohne sein Kruzifix auszugehen, das er mit den Partikeln eines zerbrochenen Spiegels beklebt hatte, damit es das Sonnenlicht reflektierte, wenn er das Zeichen Gottes umgehängt hatte.

Doch er entdeckte, daß es schwierig war, Thorn zu erreichen, und der Schmerz in seinem Rücken wurde immer unerträglicher. Die einzige Begegnung mit Thorn hatte zu nichts geführt. Er hatte den Botschafter brüskiert und war gewissermaßen gefeuert worden.

Nun folgte er ihm überall hin, und seine Verzweiflung wuchs. Unlängst beobachtete er den Botschafter, als dieser inmitten einer Gruppe von Würdenträgern den Grundstein zu einem Hause im Armenviertel von Chelsea legte.

»Ich bin stolz darauf, dieses einmalige Projekt fördern zu dürfen …«, rief Thorn und der Wind trieb seine Worte über die hundertköpfige Zuschauermenge hinweg. »Weil es den Willen der Gemeinde selbst bekundet, die Lebensqualität dieser Leute zu verbessern!«

Mit diesen Worten stieß er eine Schaufel in die Erde. Eine Akkordeonband spielte eine Polka, während Thorn mit den Ehrengästen zur Absperrung schritt, hinter der die Leute sich drängten, um ihnen die Hände zu schütteln. Ja, Jeremy Thorn war ein vollendeter Politiker, ein Mann, der die Öffentlichkeit nicht scheute und den Beifall der Menge sehr wohl zu genießen wußte. An der Absperrung angelangt, gab er sich Mühe, jede einzelne Hand – auch wenn sie schmutzig war – zu schütteln, und es machte ihm gar nichts aus, seine Wange dem einen oder andern zum Kuß hinzustrecken.

Aber plötzlich wurde er festgehalten und resolut an den Zaun herangezerrt.

»Morgen«, keuchte Tassone in die erschreckten Augen des Botschafters. »Ein Uhr. Kew Gardens …«

»Lassen Sie mich los!« rief Thorn.

»Fünf Minuten. Dann werden Sie mich niemals wiedersehen.«

»Nehmen Sie die Hände …«

»Ihre Frau ist in Gefahr. Sie wird sterben, wenn Sie nicht kommen.«

Als Thorn sich losriß, war der Priester plötzlich verschwunden. Wie paralysiert stand der Botschafter da und starrte in lauter fremde Gesichter, während das grelle Licht der Blitzlichter seine Augen blendete.

Lange hatte sich Thorn überlegt, was er mit dem Priester tun sollte. Natürlich konnte er an seiner Stelle die Polizei hinschicken. Er konnte Tassone festnehmen lassen. Aber die Anklage würde auf Belästigung lauten und Thorn würde ohne Zweifel als Zeuge erscheinen müssen. Man würde den Priester verhören. Die Sache konnte an die Öffentlichkeit getragen werden. Die Zeitungen würden sich darauf stürzen und Kapital aus den Aussagen eines offensichtlich geisteskranken Mannes schlagen. Nein, das durfte nicht geschehen! Jetzt nicht und niemals.

Aber er kannte keinen Weg, wie er erfahren sollte, was der Priester zu sagen hatte. Ohne Zweifel stand die Sache in Verbindung mit der Geburt des Kindes. Welch ein makabrer Zufall, daß auch dies ein Geschehen war, das Thorn als das größte Geheimnis seines Lebens zu hüten hatte. Freilich, er konnte einen Boten schicken, gewissermaßen als Alternative zur Polizei. Man konnte diesem Mann Geld zustecken, man konnte ihm aber auch drohen, daß er künftig die Nähe des Botschafters mied. Doch dies bedeutete auch, daß ein Außenstehender in die Affäre verwickelt wurde.

Er dachte an Haber Jennings, und er wäre fast dem ersten Impuls gefolgt, ihn anzurufen und ihm zu sagen, daß er den Mann entdeckt habe, den er suchte.

Aber es war besser, dies nicht zu tun. Denn es gab nichts Gefährlicheres, als sich in einer solchen Angelegenheit an einen Pressemann zu wenden. Er wünschte, es gäbe irgend jemanden. Irgend jemanden, dem er sich anvertrauen konnte. Denn in Wahrheit hatte er Angst. Angst vor dem Wissen des Priesters.

*

Heute hatte Thorn den eigenen Wagen genommen. Er erklärte Horton, er wolle eine Weile allein sein und so fuhr er den ganzen Morgen willkürlich durch die Straßen. Er wagte nicht, in sein Büro zu gehen, weil er befürchtete, jemand könnte ihn fragen, wo er seinen Lunch einnehme. Einmal dachte er daran, den Priester ganz einfach zu ignorieren, denn es war durchaus möglich, daß der Mann mit der Zeit das Interesse an ihm verlor und sich aus dem Staub machte. Aber das war keine befriedigende Lösung, denn Thorn selbst suchte inständig die Konfrontation.