Der Priester war nun unten an der Treppe, und er sah etwas in Thorns Augen, als ob dieser versuchen wollte, den Priester dabei zu unterstützen, den Schlag zu mildern.
»Etwas stimmt nicht«, sagte Thorn.
»Das Kind ist tot.«
Jählings schien sich die Stille des Korridors in ein ohrenbetäubendes Summen zu verwandeln, und Thorn stand wie paralysiert da.
»Es hat nur einen Augenblick geatmet«, flüsterte der Pater. »dann war es vorbei.«
Ungerührt stand der Priester da, als Thorn zur Bank wankte, sich niederließ und das Gesicht in seine Hände nahm, um bitterlich zu weinen. Sein Schluchzen hallte von den Wänden wider. Der Priester wartete eine Weile, ehe er weitersprach.
»Ihre Frau ist durchgekommen«, sagte er. »aber sie wird kein Kind mehr haben können.«
»Dies ist ihr Tod«, flüsterte Thorn.
»Sie könnten ein Kind adoptieren.«
»Sie will ein eigenes Kind haben.«
In der Stille, die folgte, trat der Priester vor. Sein Gesicht war ernst, sein Auge voll des Mitleids. Nur ein Schweißtropfen verriet die Spannung, in der er sich befand.
»Sie lieben Ihre Frau«, sagte er.
Thorn nickte. Er konnte noch nicht wieder sprechen.
»Dann sollten Sie Gottes Vorschlag annehmen.«
Aus dem Schatten des dunklen Korridors näherte sich eine ältere Nonne. Sie winkte den Priester her zu sich. Einen Augenblick flüsterten sie auf italienisch miteinander, ehe sie sich trennten und der Priester sich wieder Thorn zuwandte. Es war etwas in seinem Blick, das Thorn zur Vorsicht mahnte.
»Gott kennt viele Wege, Mr. Thorn. Und seine Wege sind geheimnisvoll.« Er streckte die Hand aus. Thorn stand auf. Es war, als zwinge ihn irgend etwas, dem Priester zu folgen.
Die Entbindungsstation war drei Stockwerke höher. Sie gingen eine offenbar wenig benutzte Hintertreppe hinauf, an deren Decke nur kahle Glühbirnen hingen. Die Station war dunkel und sauber, der Geruch der Babys erinnerte Thorn an Katharines Leid, und sein Magen krampfte sich zusammen.
Sie gingen zu einem Glasfenster. Der Priester blieb stehen und wartete, während Thorn zögernd näherkam und das kleine Wesen hinter der Scheibe bemerkte. Es war ein Kind. Ein neugeborenes Kind. Ein Kind von engelsgleicher Schönheit. Mit strubbeligen, dichten schwarzen Haaren. Aus tiefliegenden blauen Augen sah es auf, fand instinktiv Thorns Augen.
»Es ist ein Findling«, sagte der Pater. »Die Mutter starb, als Ihr eigenes Kind … in der gleichen Stunde.«
Verwirrt drehte sich Thorn um.
»Ihre Frau braucht ein Kind«, fuhr der Priester fort. »Das Kind braucht eine Mutter.«
Langsam schüttelte Thorn den Kopf. »Wir wollten ein eigenes Kind haben«, sagte er.
»Wenn ich vorschlagen dürfte … schauen Sie die Ähnlichkeit.«
Wieder sah Thorn durch die Glasscheibe. Es stimmte. Die Hautfarbe des Kindes glich der Katherines, die Gesichtszüge seinen eigenen. Es hatte ein festes, robustes Kinn, es hatte sogar das Grübchen im Kinn, das auch Thorn besaß.
»Die Signora braucht es nicht zu wissen«, drängte der Priester.
Da Thorn schwieg, wußte er, daß er gewonnen hatte. Thorns Hand begann zu zittern, und sogleich nahm der Priester diese Hand, um dem Zögernden Mut und Vertrauen einzuflößen.
»Ist … ist es ein gesundes Kind?« fragte Thorn mit zitternder Stimme.
»In jeder Beziehung. Vollkommen gesund …«
»Hat es Verwandte?«
»Niemanden.«
Wieder schien die Stille in dem leeren Korridor zu dröhnen. Es war eine Stille, welche schmerzte.
»Ich bin derjenige hier, der entscheidet«, sagte der Priester. »Es gibt keine Eintragungen, keine Aufzeichnungen. Niemand wird es jemals erfahren.«
Thorn wich dem Blick des Priesters aus. Er versuchte verzweifelt, eine Entscheidung zu treffen.
»Könnte ich … mein eigenes Kind sehen?« fragte er.
»Was hätten Sie davon?« fragte der Priester. »Schenken Sie Ihre Liebe diesem lebendigen Geschöpf.«
Hinter der Glasscheibe hob das Kind beide Arme, hob sie Thorn entgegen, es war eine wunderbare Geste des Vertrauens.
»Ihrer Frau zuliebe, Signore. Gott wird diesen Betrug verzeihen. Diesem Kind zuliebe, das sonst keine Heimat haben wird …«
Er schwieg. Es war nicht nötig, mehr zu sagen.
»In dieser Nacht, Mr. Thorn, hat Gott Ihnen einen Sohn geschenkt.«
Und droben am Nachthimmel erreichte der schwarze Stern in diesem Augenblick den Scheitelpunkt. Ein Lichtstrahl löste sich. Im Kindbett lag Katherine Thorn. Sie kam langsam zu sich. Dies Erwachen schien ihr ganz natürlich. Was wußte sie von jener Injektion, die man ihr soeben gegeben hatte!
Zehn Stunden lang hatte sie alle Leiden der werdenden Mutter erlebt. Sie hatte die letzten Wehen gefühlt und war dann bewußtlos geworden, ehe sie das Kind sehen konnte. Jetzt, da ihre Gedanken wie aus weiter Ferne zurückzukehren schienen, erfüllte Angst sie, aber sie kämpfte dagegen an und versuchte sich zu beruhigen. Da – plötzlich Schritte, draußen im Korridor … dann an der Tür. Die Tür fliegt auf, und da steht ihr Mann … in seinen Armen ein Kind!
»Unser Kind«, sagt Thorn und seine Stimme zittert, so bewegt ist er. »Wir haben einen Sohn.«
Katherine streckt die Hände aus und nimmt das Baby, während Tränen der Freude ihre Wangen netzen. Wie er seine Frau so durch die verweinten Augen betrachtet, sagt Thorn: »Dem Herrn sei Lob und Dank.«
2
Die Thorns gehörten beide der katholischen Glaubensgemeinschaft an, aber keiner von ihnen war übermäßig fromm. Ab und zu betete Katherine, und zu Weihnachten und Ostern besuchte sie die Kirche, aber eigentlich nur, weil sie es von ihrer Kindheit her so gewohnt war – nicht aus dem unbedingten Glauben an das Dogma.
Im Gegensatz zu Katherine nahm es Thorn nicht ernst, daß ihr Sohn Damien nicht getauft war. Natürlich hatten sie es versucht. Sofort nach seiner Geburt hatten sie das Kind in die Kirche gebracht, aber sowie sie die Pforte der Kathedrale durchschritten hatten, begann es so heftig zu schreien und war so sehr von Angst erfüllt, daß sie die Zeremonie wieder absagten. Mit dem Wassergefäß in der Hand war ihnen der Priester hinaus auf die Straße gefolgt. Er hatte sie gewarnt, wenn das Kind nicht getauft würde, könnte es niemals in das himmlische Reich gelangen. Doch Thorn weigerte sich, die Zeremonie fortzusetzen, denn er sah deutlich, in welchem Zustand sich das Kind befand. Um Katherine zu beruhigen, improvisierten sie eine Zeremonie zu Hause. Sie war im Grunde genommen niemals völlig beruhigt, und sie gab die Absicht, mit Damien eines Tages doch in eine Kirche zu gehen, um ihn in die christliche Glaubensgemeinschaft aufnehmen zu lassen, nicht auf.
Dieser Tag kam allerdings nie, denn es gab ständig unendlich viel zu tun, und die Taufe wurde vergessen. Die Weltwirtschaftskonferenz war zu Ende. Sie kehrten nach Washington zurück. Thorn legte sein Amt als Berater des Präsidenten nieder und versuchte auf eigene Faust politische Karriere zu machen. Der große Besitz in McLean, Virginia, wurde zum Treffpunkt zahlreicher Landespolitiker. Immer häufiger tauchte der Name Thorn in den Schlagzeilen der Zeitungen und Magazine auf, und zwischen New York und Kalifornien war bald jedermann mit den Gesichtern der Thorns vertraut.
Sie waren außergewöhnlich fotogen, sie waren reich, und sie waren auf dem Weg nach oben. Man sah sie jetzt auffallend häufig zu Gast beim Präsidenten. Es war klar, daß Thorn protegiert wurde, und politische Spekulanten waren daher nicht im geringsten überrascht, als er eines Tages am Hof von St. James die Rolle des amerikanischen Botschafters spielte. Damit befand er sich in einer Schlüsselposition, welche ihm tausend Möglichkeiten und Vorteile bot.
Die Thorns übersiedelten nach London und bezogen ein Haus aus dem siebzehnten Jahrhundert in Pereford. Das Leben wurde zu einem schönen Traum, besonders für Katherine. Es war so vollkommen, daß sie manchmal Angst bekam. Hier auf dem Landsitz fand sie jene Abgeschiedenheit, in der sie nichts anderes zu sein brauchte als eine Mutter für ihr angebetetes Kind; dennoch konnte sie jederzeit eine freundliche und schöne Helferin bei den diplomatischen Aufgaben ihres Gatten sein. Nun hatte sie ja ihr Kind, und so war sie eigentlich wunschlos glücklich. Jeremy betete sie an. Wie blühte sie plötzlich auf! In ihrer Frische und Schönheit erntete sie die Bewunderung aller. »Katherine Thorn?« hieß es. »Sie ist so schön, so zart und so zerbrechlich wie die Blüte einer Orchidee.«