Er wollte nur dem Strafgericht entfliehen, das ihn verfolgte. Fern am Horizont zuckten noch Blitze, doch Tassone hatte keine Kraft mehr. Sein Herz schmerzte, als er um eine Ecke taumelte und vor einem Gebäude stehenblieb. Sein Mund war geöffnet, verzweifelt versuchte er, seine Lungen mit Luft zu füllen.
Seine Augen waren auf den Park gerichtet, der immer wieder von den Blitzen erhellt und vom Donner überrollt wurde. Er dachte nicht daran, nach oben zu sehen, als über ihm sich plötzlich etwas bewegte.
Ober ihm, im dritten Stock, löste sich eine Fensterschließstange, die Hände einer Frau griffen danach, doch sie konnte sie nicht mehr fassen, und die Stange fiel nach unten, die Metallspitze durchschnitt die Luft wie ein Speer. Und wie ein Speer fuhr diese Stange hinein in den Kopf des Priesters. Sie zerschmetterte seinen Schädel, sie durchschnitt seinen ganzen Körper. Wie von einem Spieß durchbohrt lag Tassone da.
Mit ausgebreiteten Armen lag er am Boden. Kein Mensch mehr, höchstens eine leblose Marionette …
Der Sommerregen hatte plötzlich aufgehört.
Aus dem dritten Stockwerk des Schulhauses steckte eine Lehrerin den Kopf aus dem Fenster und begann zu schreien. Und auf der anderen Straßenseite zogen ein paar Leute die Leiche des Fahrers aus einem zerschmetterten Lastwagen. Auf seiner Stirn war der blutige Abdruck des Lenkrades zu sehen, gegen das er geflogen war.
Als die Wolken sich teilten und die strahlende Sonne Häuser und Straßen in gleißendes Licht tauchte, versammelte sich in schweigender Neugier eine kleine Gruppe von Kindern um die Gestalt des toten Priesters, dessen erstarrter Mund noch den Ausdruck völliger Verwirrung trug.
Eine Pferdefliege kam dahergesurrt und ließ sich im toten Gesicht Tassones nieder.
*
Am folgenden Morgen holte Horton die Zeitungen vom Außentor und brachte sie in das Zimmer, in dem Thorn und Katherine frühstückten. Als er wieder ging, bemerkte Horton, daß Mrs. Thorns Gesichtszüge immer noch angespannt waren.
So sah sie jetzt seit Wochen aus, und er war sicher, daß es irgend etwas mit ihren regelmäßigen Fahrten nach London zu tun hatte, wo sie ihren Arzt besuchte.
Zuerst hatte er angenommen, daß es sich bei ihren Arztbesuchen um die Behandlung eines körperlichen Leidens handle, doch dann sah er auf den Schildern in der Lobby des Gebäudes, daß dieser Dr. Greer ein Psychiater war.
Horton selbst hatte nie das Bedürfnis gehabt, einen Psychiater aufzusuchen, er kannte auch keinen, und irgendwie hatte er das Gefühl, daß diese Ärzte bloß da waren, um die Leute verrückt zu machen. Wenn man in den Zeitungen las, daß Menschen Selbstmord begangen hatten, dann stand in diesen Artikeln oft, daß sie zuvor bei einem Psychiater gewesen waren. Ursache und Wirkung waren ihm völlig klar in solchen Fällen.
Nun, da er Mrs. Thorn beobachtete, schien sich seine Theorie zu bestätigen. Ganz gleich, wie fröhlich sie auf der Fahrt in die Stadt erschien – auf dem Heimweg sprach sie kaum ein Wort, und immer saß sie ganz zusammengesunken da.
Seit die Arztbesuche begonnen hatten, war ihre Stimmung immer düsterer geworden, und jetzt stand sie ganz klar unter Streß. Ihre Beziehungen zu den Angestellten beschränkten sich auf kurze Befehle, und ihre Beziehungen zu ihrem Kind waren noch schwieriger geworden.
Besonders unglücklich war, daß nun das Kind selbst begann, die Gesellschaft der Mutter zu suchen. Jene Wochen, da sie alles getan hatte, um seine Zuneigung zu erwerben, hatten ihre Wirkung gehabt. Jetzt aber, wenn Damien sie suchte, war sie nirgends zu finden.
Die Behandlung, der sich Katherine unterzog, machte sie nur noch unruhiger. Es war, als hätte man bis jetzt nur die Oberfläche ihrer Ängste angekratzt und darunter eine bodenlose Grube entdeckt, die randvoll mit Sorge und Verzweiflung war.
Das Leben, das sie führte, war eine einzige Verwirrung, und sie hatte manchmal das Gefühl, als ob sie nicht mehr wüßte, wer sie eigentlich sei. Sie erinnerte sich, wer sie gewesen war und was sie einst gewollt hatte, doch das war jetzt alles verschwunden, und es schien für sie keine Zukunft mehr zu geben.
Die einfachsten Dinge erfüllten sie mit Angst: das Klingeln des Telefons, die Rufe der Angestellten, ein Lachen oder das Pfeifen des Teekessels … es war, als ob all das sich in ihr Herz bohrte.
Schließlich hatte sie einen Punkt erreicht, wo der Mensch dem Leben nicht mehr gewachsen war. Jeden Tag brauchte sie mehr Mut, um sich so zu geben, wie man es von ihr erwartete.
Mut brauchte sie auch an diesem Tag – viel, viel mehr Mut als sonst, denn sie hatte eine Entdeckung gemacht, bei der sofort gehandelt werden mußte. Es bedeutete eine Aussprache mit ihrem Mann, und sie hatte Angst davor.
Und dann war noch der Junge da. Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, sich jeden Morgen in ihrem Zimmer herumzutreiben, wobei er versuchte, ihre Aufmerksamkeit zu wecken: gerade heute fuhr er mit einem Plastikautomobil über den Parkettboden in dem sogenannten Sonnenzimmer, bumste ständig gegen ihren Sessel, pfiff und fauchte wie eine Lokomotive, auf die ihn seine Fantasie gesetzt hatte.
»Mrs. Baylock?!« rief Katherine.
Thorn, der ihr gegenüber saß und die Zeitung in der Hand hielt, zuckte zusammen, als er die Wut in ihrer Stimme vernahm.
»Ist etwas?« fragte er.
»Damien. Ich kann den Lärm nicht aushalten.«
»Ach, so schlimm ist es doch gar nicht …«
»Mrs. Baylock!« rief sie.
Das Kindermädchen kam dahergeschnauft.
»Ma’am?«
»Nehmen Sie ihn hier raus!« befahl Katherine.
»Er spielt doch nur«, widersprach Thorn.
»Ich habe gesagt, er soll rausgehen!«
»Ja, Ma’am«, antwortete Mrs. Baylock.
Sie nahm Damien bei der Hand und führte ihn aus dem Zimmer. Der Junge drehte sich um, sah seine Mutter an und seine Augen waren dunkel vor Schmerz.
Thorn sah es und wandte sich verzweifelt an Katherine. Sie führte einen Bissen zum Mund. Sie wich seinem Blick aus.
»Warum haben wir eigentlich ein Kind, Katherine?«
»Unser Ebenbild«, entgegnete sie ironisch.
»Was?«
»Wieso könnten wir kein Kind haben, Jeremy? Wer hat jemals davon gehört, daß eine schöne Familie kein schönes Kind haben könnte?«
Einen Augenblick lang sah Thorn sie schweigend an. Ihm gefiel ihr Ton nicht.
»Katherine …«
»Stimmt doch, nicht wahr? Wir haben nie daran gedacht, wie es sein würde, einmal ein Kind großzuziehen. Wir haben immer nur daran gedacht, wie – mit Kind – unsere Bilder in den Zeitungen aussehen könnten.«
Thorn war verblüfft, aber diesmal erwiderte sie seinen Blick.
»Es stimmt doch, nicht wahr?« fragte sie.
»Bringt dir vielleicht dein Doktor solche Dinge bei?«
»Ja.«
»Dann halte ich es für besser, wenn ich mal ein Wörtchen mit ihm rede.«
»Ja, er möchte ohnehin mit dir sprechen.«
Ihr Benehmen war direkt und kalt. Instinktiv hatte Thorn Angst davor, was sie nun noch alles sagen könnte.
»Worum geht es denn?« fragte er.
»Wir haben ein Problem, Jeremy«, sagte sie.
»Ja?«
»Ich will keine Kinder mehr. Niemals.«
Thorns Blicke suchten ihr Gesicht, er wartete, daß sie mehr sagte.
»Bist du damit einverstanden?« fragte sie.
»Wenn es bloß das ist, was du willst …«, entgegnete er.
»Dann stimmst du also einer Abtreibung zu?«
Thorn war bestürzt. Sein Mund öffnete sich. Wie betäubt saß er da.
»Ich bin schwanger, Jeremy. Ich habe es gestern morgen entdeckt.«
Minutenlange Stille. In Thorns Kopf drehte sich alles.