»Hast du mich verstanden?« fragte Katherine.
»Wie kann denn das möglich sein?« flüsterte Thorn.
»Ich nehme doch nicht die Pille, ich trage eine Spirale. Manchmal passiert halt so etwas.«
»Du bist schwanger?« keuchte er.
»Gerade am Anfang.«
Thorns Hände zitterten, als er auf den Tisch starrte.
»Hast du es jemandem gesagt?« fragte er.
»Nur Dr. Greer.«
»Bist du ganz sicher?«
»Daß ich es nicht behalten möchte?«
»Daß du schwanger bist.«
»Ja.«
Unbeweglich blieb Thorn sitzen. Sein Blick wanderte durchs Zimmer, als ob er eine Antwort suchte. Neben ihm klingelte das Telefon, und automatisch griff er zum Hörer.
»Ja?«
Er schwieg einen Augenblick, er erkannte die Stimme nicht. »Ja, das ist er.« Verstört sah er Katherine an. »Was? Wer ist da? Hallo? Hallo?«
Der Anrufer legte auf. Unbeweglich und mit starrem Blick saß Thorn da.
»Was war denn das?« fragte Katherine.
»Irgend etwas wegen der Zeitungen …«
»Wieso irgend etwas wegen der Zeitungen?«
»Jemand hat mich angerufen … und gesagt … ich solle sie heute lesen.«
Er betrachtete die zusammengefalteten Zeitungen auf dem Tisch vor ihm und öffnete sie langsam. Plötzlich fuhr zu zusammen. Er hatte das Foto auf der ersten Seite entdeckt.
»Was ist das?« fragte Katherine. »Was ist los?«
Er war unfähig, ihr zu antworten. Sie nahm ihm die Zeitung aus der Hand, dann betrachtete sie das Foto eines Priesters, dessen Körper von einer Eisenstange durchbohrt war. Unter dem Bild stand: PRIESTER AUF TRAGISCHE WEISE GETÖTET.
Katherine sah Jeremy forschend an. Er zitterte. Verwirrt ergriff sie seine Hand. Sie war kalt.
»Jeremy …«
Steifbeinig erhob sich Thorn, dann ging er auf die Tür zu, um das Zimmer zu verlassen.
»Hast du ihn gekannt?« fragte Katherine.
Aber er antwortete nicht. Wieder betrachtete Katherine das Bild, und als sie den Artikel zu lesen begann, hörte sie, wie Thorns Auto ansprang und davonbrauste.
*
Für Mrs. James Akrevian, Lehrerin in der dritten Klasse der Bishops Industriell School, hatte der Tag wie jeder andere begonnen. Es war Freitag, und als es zu regnen anfing, ließ sie gerade ihre Klasse die Bücher aufschlagen, um die Schüler laut vorlesen zu lassen. Obgleich es nicht ins Klassenzimmer hineinregnete, versuchte sie das Fenster zu schließen, weil der prasselnde Regen zuviel Lärm verursachte
Sie hatte sich schon etliche Male über die altertümlichen Fenster beschwert, denn sie konnte nicht einmal mit der Fensterschließstange die obersten erreichen, sondern brauchte dazu auch noch einen Stuhl.
Da es ihr nicht gelang, den Haken der Stange zwischen den Metallring des Fensters zu bringen, schob sie die Stange nach außen und versuchte, die untere Kante des Fensters zu erreichen, um es heranzuziehen.
Aber die Stange entschlüpfte ihrem Griff, fiel aus dem Fenster und traf diesen Passanten, der wahrscheinlich gerade Schutz vor dem Regen suchen wollte.
Der Name des Toten wird wahrscheinlich von der Polizei erst dann veröffentlicht werden, wenn sie Verbindung mit seinen Angehörigen aufgenommen hat.
Katherine wußte nicht, was sie damit anfangen sollte. Sie rief Thorns Büro an und hinterließ, er möchte sie anrufen, sobald er dort auftauchte. Offensichtlich war er aber nicht ins Büro gegangen, denn um die Mittagszeit hatte er immer noch nicht angerufen.
Sie telefonierte mit Greer, dem Psychiater, aber dieser war zu beschäftigt und konnte nicht an den Apparat kommen. Schließlich rief sie das Hospital an, um sich für eine Abtreibung anzumelden.
9
Nachdem er das Foto des Priesters gesehen hatte, fuhr Thorn sofort nach London. Seine Gedanken überschlugen sich. Er wußte nicht, wo er zuerst anfangen sollte.
Katherine war tatsächlich schwanger. Der Priester hatte recht gehabt. Nun mußte er auch all das andere ernst nehmen, das Tassone gesagt hatte. Er versuchte sich an ihre Begegnung im Park zu erinnern: – an all die Namen und an die Orte, die er aufsuchen sollte. Er versuchte sich zu beruhigen, sich mit dem zu beschäftigen, was in den letzten Minuten geschehen war. An die Unterhaltung mit Katherine … an jenen anonymen Anruf.
»Lesen Sie die Zeitungen«, hatte die Stimme gesagt. Diese Stimme war ihm vertraut, doch Thorn wußte nicht, zu wem sie gehörte. Wer um alles in der Welt wußte, daß er etwas mit dem Priester zu tun hatte? Der Fotograf! Es war seine Stimme gewesen. Die Stimme Haber Jennings!
Thorn fuhr ins Büro und sagte, er müsse sich mit wichtigen Arbeiten beschäftigen und wolle ungestört bleiben. Und dann bat er durch die Gegensprechanlage seine Sekretärin, eine Verbindung mit Haber Jennings herzustellen. Sie versuchte es, doch Jennings hatte auf seinem Anrufbeantworter hinterlassen, er sei jetzt nicht zu erreichen. Sie meldete es Thorn und erwähnte den Anrufbeantworter.
Thorn ließ sich die Nummer geben und wählte selbst. Er wollte noch einmal Jennings Stimme hören … sie war es tatsächlich! Es war die Stimme, die ihn angerufen hatte. Doch warum hatte er sich nicht zu erkennen gegeben? Was für ein Spiel spielte er?
Wenige Minuten später teilte man Thorn mit, Katherine habe angerufen, aber er zögerte den Rückruf hinaus. Sie würde bestimmt mit ihm über die Abtreibung sprechen wollen, und er war nicht bereit, ihr eine Antwort darauf zu geben.
»Er wird es töten.« Ganz deutlich erinnerte sich Thorn an die Worte des Priesters. »Er wird es noch im Mutterleib töten.«
Thorn suchte nach der Telefonnummer von Dr. Charles Greer und erklärte ihm, er komme sofort, denn es handele sich um eine Angelegenheit von höchster Wichtigkeit.
Es war keine Überraschung für Dr. Greer, daß Thorn zu ihm kommen wollte, denn er hatte die Verschlechterung im Zustand Katherines wohl bemerkt. Es gab eine feine Grenze zwischen Angst und Verzweiflung, und ein paarmal hatte er erlebt, daß sie diese Grenze nach dieser oder jener Seite überschritten hatte. Die Angstgefühle konnten so stark werden, daß ein Selbstmordversuch nicht auszuschließen sei.
»Man weiß niemals, wie tief diese Angst geht«, sagte er zu Thorn, als ihm der Botschafter in seiner Praxis gegenübersaß. »Ich will ganz offen zu Ihnen sein. Ich glaube nicht, daß ich hier meine ärztliche Schweigepflicht überschreite, wenn ich Ihnen sage, daß sie sich in einem Zustand befindet, in dem sie durchaus ernsthafte emotionale Schwierigkeiten bekommen könnte.«
Aufrecht und angespannt saß Thorn auf einem hochlehnigen Stuhl, während der junge Psychiater im Zimmer umherging und seine Pfeife rauchte.
»Es ist also schlimmer geworden?« fragte Thorn mit zitternder Stimme.
»Lassen Sie uns sagen, es entwickelt sich in dieser Richtung.«
»Und es gibt nichts, was Sie tun könnten?«
»Ich sehe sie zweimal in der Woche. Ich glaube, sie braucht eine ständige Betreuung.«
»Wollen Sie mir damit sagen, daß sie geisteskrank ist?«
»Ich will’s ein wenig anders ausdrücken: Ihre Frau lebt von Fantasievorstellungen, und ihre Fantasien sind weit stärker als die Realität. Leider nährt sie mit ihren Fantasien auch ihre Angstzustände. Kommt hinzu, daß sie auf Angstgefühle leicht reagiert. Sie sehen, eins gibt das andre …«
»Was sind das für Fantasien?« fragte Thorn.
Greer schwieg einen Augenblick, während er überlegte, wie weit er in die Einzelheiten gehen sollte. Er ließ sich in seinen Stuhl fallen und gewahrte Thorns verzweifelten Blick.
»Da ist einmal folgendes – sie glaubt, daß ihr Kind in Wirklichkeit nicht ihr eigenes ist.«
Die Feststellung traf Thorn wie ein Keulenschlag.
»Ich deute die Sache so: Es handelt sich nicht so sehr um ein Angstgefühl, sondern eher um einen Wunsch. In ihrem Unterbewußtsein wünscht sie sich, sie hätte kein Kind. Das ist eine Möglichkeit, die Sache zu deuten. Wenigstens auf der emotionellen Basis.«