Noch immer war Thorn nicht imstande, irgend etwas zu sagen.
»Ich möchte in keinem Falle behaupten, daß das Kind nicht wichtig für sie ist«, fuhr Greer fort. »Im Gegenteil. Es ist das Wichtigste in ihrem Leben. Aber aus irgendeinem Grunde fühlt sie sich dadurch bedroht. Ich weiß wirklich nicht, ob es bei dieser Angst um die Mutterschaft geht, um eine emotionelle Bindung oder einfach um den Glauben, daß sie unfähig sei, dem Kind eine richtige Mutter zu sein.«
»Aber sie wollte doch ein Kind«, entgegnete Thorn.
»Ihnen zuliebe!«
»Nein …«
»Unbewußt. Sie hatte das Gefühl, sie müßte beweisen, wie wertvoll sie für Sie ist. Was hätte sie Besseres tun können, als Ihnen das durch die Geburt eines Kindes zu beweisen?«
Thorn sah geradeaus, immer noch stand Verzweiflung in seinen Augen.
»Und nun entdeckt sie, daß sie damit nicht fertig wird«, fuhr Greer fort. »Sie sucht also nach einem Grund, um sich nicht selbst vorzuwerfen, sie sei unzulänglich. Sie bildet sich ein, daß das Kind nicht von ihr ist, daß das Kind böse ist …«
»Wie? Was?«
»Sie ist einfach nicht imstande, Damien zu lieben«, erklärte Dr. Greer. »also erfindet sie einen Grund, warum er ihrer Liebe nicht würdig ist.«
»Sie glaubt, das Kind sei böse?«
Thorn zuckte heftig zusammen bei diesem Wort. Aber Greer fuhr fort: »Es ist notwendigerweise gerade jetzt richtig für sie, so zu fühlen«, erklärte der Psychiater. »Aber jetzt, in ihrem Zustand, wäre ein weiteres Kind verhängnisvoll für sie.«
»In welcher Weise … böse?«
»Das ist doch nur Fantasie. Genau wie sie sich vorstellt, daß das Kind nicht ihr Kind sei.«
Thorn holte tief Luft, er mußte gegen ein Gefühl der Übelkeit ankämpfen.
»Es gibt keinen Grund, deswegen verzweifelt zu sein«, beruhigte ihn Greer.
»Doktor?«
»Ja?«
Aber Thorn konnte nicht weitersprechen. Die beiden Männer saßen schweigend da und sahen sich an.
»Sie wollten etwas sagen?« ermunterte ihn Greer. Der Arzt sah ihn besorgt an, denn der Mann hatte offensichtlich die Sprache verloren.
»Mr. Thorn? Ist alles in Ordnung?«
Thorn flüsterte: »Ich fürchte mich.«
»Natürlich fürchten Sie sich.«
»Ich meine … ich habe Angst.«
»Das ist ganz natürlich.«
»Irgend etwas … Schreckliches wird geschehen.«
»Ja. Aber Sie beide werden es durchstehen.«
»Sie verstehen mich nicht.«
»O ja.«
»Nein.«
»Glauben Sie mir. Ich verstehe es.«
Thorn schlug die Hände vors Gesicht.
»Sie befinden sich in einem Streßzustand, Mr. Thorn. Und er ist größer, als Sie es wahrscheinlich wissen.«
»Ich weiß nicht, was ich tun soll«, stöhnte Thorn.
»Erstens einmal sollten Sie einer Abtreibung zustimmen.«
Thorn hob das Gesicht und sah Greer fest in die Augen.
»Nein«, sagte er.
Der Psychiater sah ihn überrascht an.
»Wenn es um Ihre religiösen Prinzipien geht …«
»Nein.«
»Wahrscheinlich können Sie die Notwendig …«
»Ich lasse es nicht zu«, erklärte Thorn resolut.
»Sie müssen.«
»Nein.«
Greer lehnte sich im Stuhl zurück und betrachtete den Botschafter bestürzt.
»Ich hätte gern Ihren Grund kennengelernt«, sagte er ruhig.
Unbeweglich starrte Thorn ihn an.
»Es ist vorhergesagt worden, daß dieses Kind im Leib meiner Frau nicht ausgetragen werden würde«, sagte er. »und ich werde alles tun, daß das Kind doch auf die Welt kommt.«
Verwirrt und besorgt sah ihn der Arzt an.
»Ich weiß, was Sie denken«, sagte Thorn. »und vielleicht bin ich tatsächlich verrückt.«
»Warum sagen Sie das?«
Thorn sah ihn an und sagte mit gepreßter Stimme: »Weil diese Schwangerschaft weitergehen muß, um mich davor zu bewahren, zu glauben …«
»Glauben …?«
»Wie es meine Frau tut. Daß das Kind …«
Das Wort blieb ihm im Hals stecken. Er stand auf, plötzlich hatte er es eilig. Eine Vorahnung überkam ihn. Er fürchtete, daß in diesem Augenblick irgend etwas Schlimmes geschah.
»Mr. Thorn?«
»Entschuldigen Sie mich …«
»Bitte, setzen Sie sich.«
Aber Thorn schüttelte den Kopf. Er lief zur Tür, ging mit schnellen Schritten aufgeregt den Flur hinunter, bis er zu der Treppe kam, die nach unten führte. Auf der Straße begann er zu rennen, die Angst in ihm wurde immer größer; er schaffte es bis zu seinem Wagen und fummelte mit den Schlüsseln herum. Irgend etwas war los. Irgend etwas. Er wollte nach Hause, ganz schnell nach Hause!
Die Reifen quietschten, als er den Wagen auf der Straße wendete und dann mit großer Geschwindigkeit auf den Highway zufuhr. Pereford war eine halbe Stunde entfernt, und er fürchtete, obwohl er nicht wußte, warum, daß er zu spät kam. Der Mittagsverkehr in London war stark. Thorn drückte auf die Hupe, überholte Autos, reihte sich wieder ein, überfuhr Kreuzungen bei Rot, indes die Verzweiflung immer stärker von ihm Besitz ergriff.
Im Pereford-Haus erging es Katherine nicht anders; sie beschäftigte sich im Haushalt, was nichts weiter war als ein Versuch, die nagende Angst in ihr zu ersticken.
Nun stand sie auf dem Treppenabsatz im zweiten Stock, die Gießkanne in der Hand und überlegte, wie sie die Pflanzen erreichen könnte, die über die Brüstung hingen.
Sie mußten gegossen werden, doch sie hatte Angst, Wasser zu vergießen. Im Spielzimmer fuhr Damien mit seinem kleinen Auto und stieß laute Pfiffe aus – wie eine Dampflokomotive, während er versuchte, immer schneller zu fahren.
In einer Ecke des Kinderzimmers, unbemerkt von Katherine, stand Mrs. Baylock. Ihre Augen waren geschlossen, als ob sie betete …
Das graue Band der Straße schien unter Thorn einfach wegzufliegen, als er auf die M-40 zuraste, die direkte Landstraße, die zu seinem Hause führte. Sein Gesicht war angespannt, die Hände umklammerten das Lenkrad und jede Fiber seines Körpers schien den Wagen vorwärts zu jagen.
Die Geschwindigkeit seines Autos war so groß, daß es dem Beschauer wie ein beigefarbener Blitz vorkommen mußte, und wenn er einen anderen Wagen passierte, war es ihm, als stünde dieser still. Thorn schwitzte. Jedes Auto vor ihm wurde zu einem Ziel, das er überholen mußte.
Er drückte unaufhörlich auf die Hupe, und die anderen Wagen machten sofort Platz, als sein Auto an ihnen vorbeischoß. Einen Augenblick dachte er an die Polizei und warf einen Blick in den Rückspiegel. Und so sah er den ominösen Schatten hinter sich. Es war ein anderes Auto, schwarz und massiv. Folgte es ihm? Ein Leichenwagen! Und wie er aufholte! Während Thorn im Rückspiegel sah, daß der Leichenwagen immer näher kam, da wuchs auch seine Furcht …
Damien fuhr in seinem Spielzeugauto immer schneller, er trieb es an, als ob es ein Rennpferd wäre. Draußen im Flur stellte sich Katherine auf einen Stuhl. In Damiens Zimmer sah Mrs. Baylock das Kind fest an, als ob sie es allein durch ihre Willenskraft dazu bewegen wollte, noch schneller zu fahren. Und der Junge tat es. Mit wilden Augen raste er durch den Raum …
In seinem Auto bot Thorn die letzte Kraft auf. Er drückte das Gaspedal fest auf den Boden. Der Leichenwagen kam näher. Thorn konnte das kalte Gesicht des Fahrers im Rückspiegel sehen. Thorns Tachometer zeigte 140, 150, aber der Leichenwagen kam näher. Thorn begann zu keuchen. Er wußte, daß das, was er tat, unvernünftig war, aber er konnte nicht anders. Er durfte nicht überholt werden. Der
Motor seines Wagens schien unter ihm wie wütend aufzuheulen, aber der Leichenwagen kam … er war neben ihm.
»Nein!« stöhnte Thorn. »Nein …!«