Es war der Hund, den er schon einmal gesehen hatte, und damals hatte er befohlen, ihn aus dem Haus zu schaffen. Doch nun war er wieder da. Er saß mit gespitzten Ohren auf dem Boden, als ob er den schlafenden Jungen bewachen müßte.
Mit angehaltenem Atem schloß Thorn leise die Tür; er ging den Flur hinunter, bis er vor seinem Zimmer war. Einen Augenblick blieb er hier stehen und versuchte, seinen zitternden Körper zu beruhigen. Und dann wurde die Stille plötzlich zerrissen. Das Telefon klingelte. Er lief zu seinem Nachttisch, um den Hörer abzunehmen.
»Hallo …«
»Hier ist Jennings«, sagte eine Stimme. »Sie wissen, der Mann, dessen Kamera Sie beschädigt haben?«
»Ja.«
»Ich wohne Ecke Grosvenor und Fifth – und ich halte es für besser, wenn Sie sofort herkommen.«
»Was wollen Sie?«
»Es ist etwas passiert, Mr. Thorn. Etwas, das Sie wissen sollten.«
*
Jennings’ Wohnung befand sich in einem Slumdistrikt, und Thorn hatte Mühe, sie zu finden. Ein leichter Regen fiel. Er wollte das Suchen schon aufgeben, als er noch über der Straße in einem Türmchen einen roten Schimmer entdeckte.
Jennings stand am Fenster und winkte ihm zu, dann ging er ins Zimmer zurück. Eigentlich hätte er für einen solch distinguierten Gast ein bißchen aufräumen sollen, überlegte er.
Er warf einige Kleidungsstücke in einen Schrank und glättete die Wolldecke auf dem Bett, dann öffnete er die Tür, um Thorn hereinzubitten.
Ein bißchen außer Atem, nachdem er fünf Stockwerke hochgeklettert war, tauchte der Botschafter auf.
»Ich hab’ Brandy da, wenn Sie mögen.«
»Bitte.«
»Aber nicht von der Art, wie Sie ihn gewöhnt sind. Bestimmt nicht.«
Jennings schloß die Tür und verschwand in einem Alkoven, während Thorn sich in dem dunklen Zimmer umsah. Nur ein rötliches Glühen, das aus der offenen Tür einer schrankgroßen Dunkelkammer kam, ließ ihn einige Dinge erkennen. An den Wänden hingen Vergrößerungen.
»Hier haben wir’s schon«, sagte Jennings, als er mit einer Flasche und Gläsern zurückkam. »Ein bißchen davon, und Sie sind wieder in Ordnung.«
Thorn nahm das Glas, und Jennings goß ihm ein. Dann setzte sich der Fotograf aufs Bett und wies auf einen Stapel Kissen neben der Tür, doch Jennings blieb stehen.
»Zum Wohl«, sagte Jennings. »Möchten Sie was rauchen?«
Thorn schüttelte den Kopf. Die Lässigkeit des Mannes zerrte an seinen Nerven.
»Sagen Sie – was ist passiert?«
»Fast hätt’ ich’s vergessen …«
»Ich hätte gern gewußt, wie Sie das gemeint haben.«
Jennings musterte ihn sorgfältig.
»Wissen Sie es nicht bereits schon?«
»Nein, keine Ahnung.«
»Warum sind Sie dann hergekommen?«
»Weil Sie’s mir am Telefon nicht gesagt haben.«
Jennings nickte. Er stellte das Glas hin.
»Ich konnte es nicht erklären, weil es etwas ist, was Sie sehen müssen.«
»Was ist es denn?«
»Es sind Fotos.« Er stand auf, ging in die Dunkelkammer und Thorn folgte ihm. »Ich dachte nur, wir sollten uns zuerst ein wenig unterhalten.«
»Ich bin sehr müde.«
»Na schön, aber hier wird Ihr Herz gleich schneller schlagen.«
Er schaltete eine kleine Lampe ein, und ein heller Strahl beleuchtete die Fotos. Thorn setzte sich auf einen Stuhl neben Jennings.
»Erkennen Sie die da?«
Es waren Bilder der Party. Der Party zu Damiens Geburtstag; Schnappschüsse von Kindern auf dem Karussell, von Katherine, die in die Menge schaute.
»Ja«, antwortete Thorn.
»Und nun sehen Sie sich mal dies da an.«
Jennings schob die oberen Fotos zur Seite und dann lag das Bild von Chessa, Damiens erstem Kindermädchen, da. Sie stand in ihrem Clownskostüm auf der Wiese, im Hintergrund war das Haus.
»Sehen Sie irgend etwas Ungewöhnliches?« fragte Jennings.
»Nein.«
Jennings streckte den Zeigefinger aus und wies auf den vagen Schleier, der über ihrem Hals und dem Kopf hing.
»Ich dachte zuerst, es ist bloß ein Fleck«, sagte Jennings. »aber sehen Sie sich das mal bei dem nächsten Bild an.«
Er griff nach einem Bild von Chessa, als sie vom Dach herunterhing.
»Ich verstehe nicht«, sagte Thorn.
»Haben Sie Nachsicht mit mir.«
Jennings schob einen Stapel Fotos beiseite und legte ein anderes Bild vor. Es war eine Aufnahme des Priesters Tassone, der sich gerade von der Botschaft entfernte.
»Wie wär’s mit dem da?«
Verblüfft sah ihn Thorn von der Seite an.
»Wo haben Sie das her?«
»Aufgenommen.«
»Ich dachte, Sie suchten nach diesem Mann. Sie haben gesagt, Sie seien mit ihm verwandt.«
»Ich hab’ Sie angelogen. Sehen Sie sich jetzt erst einmal das Bild an.«
Jennings berührte das Bild und legte seinen Finger auf den ›Speer‹, der über dem Kopf des Priesters schwebte.
»Meinen Sie diesen Schatten über dem Kopf?« fragte Thorn.
»Ja. Und dann sehen Sie sich dieses Bild an. Das habe ich zehn Tage später aufgenommen.«
Er legte ein anderes Foto in den Lichtkreis. Es war die Vergrößerung einer Gruppe von Menschen, die am Ende eines Saales stand. Man konnte Tassones Gesicht nicht sehen, nur das Priestergewand, aber dort, wo der Kopf sein mußte, befand sich der gleiche speerähnliche Schatten.
»Ich nehme an, es ist derselbe Mann. Sie können sein Gesicht nicht sehen, aber Sie können sehen, was über ihm ist.«
Verwirrt betrachtete Thorn das Bild.
»Diesmal ist es ein bißchen ausgeprägter«, fuhr Jennings fort. »Wenn Sie sich die Größe seines Gesichtes vorstellen, dann werden Sie sich auch vorstellen können, daß es gerade seinen Kopf berührt. In den zehn Tagen zwischen dem ersten Bild und diesem ist dieses speerähnliche Gebilde tiefer gegangen. Was immer es auch ist, es kam dem Kopf näher.«
Verblüfft betrachtete Thorn die Vergrößerung. Jennings schob sie weg und legte dann das Foto hin, das auf der Vorderseite der Zeitungen gewesen war: Der Priester lag da, von einer speerähnlichen Stange aufgespießt.
»Dämmert Ihnen was? Merken Sie, daß hier irgendeine Verbindung bestehen muß?« fragte Jennings.
Wie betäubt saß Thorn da. Hinter ihm lief der automatische Wecker ab, und Jennings drückte auf den Knopf einer zweiten Lampe, dann drehte er sich um und sah Thorn in die Augen.
»Ich kann’s auch nicht erklären«, sagte er. »Und deswegen habe ich angefangen, mich um die Sache zu kümmern.«
Er nahm zwei Pinzetten, dann ging er zu einer Schale, holte eine Vergrößerung heraus, ließ das Wasser abtropfen, brachte sie zum Tisch und schob sie unters Licht.
»Ich hab’ ein paar Freunde bei der Polizei. Sie haben mir Negative gegeben, und ich hab’ Vergrößerungen davon gemacht. Nach dem Bericht des Leichenbeschauers hatte er Krebs. Die meiste Zeit mußte er sich Morphium spritzen, er tat es selbst. Zwei- oder dreimal am Tag.«
Als Thorn die Vergrößerungen betrachtete, zog sich sein Magen zusammen. Drei verschiedene Bilder waren auf der Vergrößerung, und jedes zeigte den nackten Körper des Priesters in einer anderen Stellung.
»So gesehen, von außen, sieht sein Körper völlig normal aus«, fuhr Jennings fort. »Bis auf das kleine Ding da auf der Innenseite seines linken Oberschenkels.«
Er gab Thorn eine Lupe und führte seine Hand zu dem letzten Foto. Mit grotesk gespreizten Beinen lag der Priester da, seine Genitalien und die Oberschenkel waren deutlich zu erkennen. Thorn sah die Stelle, die Jennings gemeint hatte. Es sah aus wie eine Tätowierung.
»Was ist denn das?« fragte Thorn.
»Das sind drei Sechsen. Sechshundertsechsundsechzig.«
»War er vielleicht in einem Konzentrationslager?«