»Es war irgend etwas wie … aus dem Meer erheben …«, murmelte Thorn, während er sich verzweifelt zu erinnern versuchte. »… über Tod … und Armeen … das Römische Reich …«
»Es wäre besser gewesen, wenn Sie genau zugehört hätten.«
»Ach, ich war sehr aufgeregt. Ich hielt ihn doch für verrückt! Ich habe überhaupt nicht richtig zugehört.«
»Aber Sie haben zugehört. Sie haben es gehört. Der Schlüssel zu der ganzen Geschichte liegt in Ihrer Hand, versuchen Sie doch endlich, sich zu erinnern.«
»Ich kann nicht!«
»Versuchen Sie es … versuchen Sie es!«
Enttäuschung tauchte auf Thorns Gesicht auf. Er schloß die Augen und versuchte seinen Verstand in eine Richtung zu zwingen, in die zu bewegen er sich weigerte.
»Ich erinnere mich … oh ja, er bat mich, die Kommunion zu nehmen, das Blut Christi zu trinken. Genau das hat er gesagt. Trinken Sie das Blut Christi …«
»Wozu?«
»Um den Sohn des Teufels zu besiegen. Er sagte: Trinken Sie das Blut Christi, um den Sohn des Teufels zu besiegen.«
»Was sonst?«
»Ein alter Mann. Er sagte irgend etwas über einen alten Mann …«
»Was für ein alter Mann?«
»Er sagte, ich solle einen alten Mann aufsuchen.«
»Weiter … weiter.«
»Ich kann mich nicht erinnern …!«
»Hat er Ihnen einen Namen genannt?«
»M … Magdo … Meggido. Nein, das war die Stadt.«
»Was für eine Stadt?« drängte Jennings.
»Die Stadt, wohin ich gehen sollte. Ja, das stimmt. Meggido. Ich bin ganz sicher, daß sie so hieß. Er hat gesagt, dorthin solle ich gehen.«
Aufgeregt suchte Jennings in seiner Aktentasche herum, dann holte er eine Landkarte heraus.
»Meggido …«, murmelte er. »Meggido …« »Haben Sie diesen Namen jemals gehört?« fragte Thorn. »Ich möchte wetten, daß es eine italienische Stadt ist.« Aber es war keine italienische Stadt. Sie war nirgends verzeichnet, es gab sie in keinem Land auf dem europäischen Kontinent. Jennings studierte seine Landkarte fast eine halbe Stunde lang, dann faltete er sie wieder zusammen und schüttelte enttäuscht den Kopf.
Er warf einen Blick auf Thorn und sah, daß der Botschafter eingeschlafen war. Er weckte ihn nicht, statt dessen nahm er sich die okkulten Bücher vor. Als die kleine Maschine durch den mitternächtlichen Himmel raste, verlor er sich in den Prophezeiungen des zweiten Kommens Christi. Dieses Kommen war verbunden mit dem Erscheinen des Antichrist, des Unheiligen, des Untiers, des Wilden Messias:
… und auf diese Erde wird kommen der Wilde Messias, der Abkömmling Satans in menschlicher Form, geboren durch die Vergewaltigung eines vierbeinigen Tieres. Als junger Christus wird er Liebe und Freundlichkeit verbreiten, als Antichrist aber Haß und Furcht … er wird seine Befehle direkt von der Hölle erhalten.
Das Flugzeug setzte auf. Haber Jennings sammelte seine Bücher zusammen. Sie waren am Ziel. In Rom regnete es. Ober ihnen grollte der Himmel.
Mit raschen Schritten überquerten sie den vereinsamten Platz des Flughafens, an dessen Ausgang ein Taxi auf sie wartete. Sie stiegen ein, und Jennings schlief, kaum daß der Wagen sich in Bewegung gesetzt hatte. Ein Regenschauer ging über Rom nieder, doch Thorn erinnerte sich plötzlich daran, wie er mit Katherine – beide jung und voller Hoffnung – durch die römischen Straßen flaniert war. Wie naiv, wie verliebt waren sie gewesen. Ganz genau erinnerte er sich an ihr Parfüm und an ihr helles wundervolles Lachen. Sie hatten damals ihr Glück, ihr ganz privates Glück nach Rom gebracht, und deshalb war es ihre Stadt, ihre eigene Stadt, die sie erkundeten. Nur manchmal … manchmal blieben sie am Nachmittag im Hotel, blieben im Bett und liebten sich. Beteten ihre nackten Körper an. Gaben sich der wundervollen Lust hin, die sie zu verzehren schien.
Nun, da Thorn in die Nacht hinausstarrte, fragte er sich, ob sie dieses Glück jemals wiederfinden konnten.
»Ospedale Generale«, sagte der Taxifahrer und hielt den Wagen an.
Jennings erwachte, und Thorn blinzelte in die Nacht hinaus, Enttäuschung machte sich auf seinem Gesicht breit.
»Das ist es nicht«, sagte Thorn.
»St. Ospedale Generale.«
»Nein, es war alt. Ein Gebäude aus Ziegelsteinen. Ich erinnere mich genau.«
»Ist das nicht die richtige Adresse?« fragte Jennings.
»Ospedale Generale«, wiederholte der Fahrer.
»E differente«, sagte Thorn.
»Ah«, antwortete der Fahrer. »Fuoco. Tre anni piü omeno.«
»Was hat er gesagt?« fragte Jennings.
»Feuer«, erwiderte Thorn. »FUOCO heißt Feuer.«
»Si«, sagte der Fahrer wieder. »Tre anni.«
»Was ist mit Feuer?« fragte Jennings.
»Offensichtlich ist das alte Hospital abgebrannt. Man hat ein neues gebaut.«
»Tre anni piu omeno. Multo morte.«
Thorn sah Jennings an. »Vor drei Jahren. Multo morte. Viele Tote.«
Sie bezahlten den Taxifahrer und baten ihn zu warten. Zuerst weigerte er sich, aber als er dann sah, wieviel Geld sie ihm gegeben hatten, war er dazu bereit. In gebrochenem Italienisch sagte ihm Thorn, er solle sie die ganze Zeit über, bis sie Rom wieder verließen, fahren. Der Fahrer nickte, er sagte, er müsse seine Frau anrufen, aber er versprach, wieder hierherzukommen.
Im Hospital wurden sie sofort enttäuscht. Da es spät war, erklärte man ihnen, die leitenden Ärzte würden erst am Morgen wieder da sein. Jennings ließ sich nicht ohne weiteres abspeisen, er suchte jemanden, der etwas zu sagen hatte, während Thorn eine englisch sprechende Nonne fand, die ihm bestätigte, daß das alte Hospital vor drei Jahren durch ein Feuer völlig zerstört worden sei.
»Sicherlich ist nicht alles vernichtet worden«, meinte Thorn. »Es müßte doch Aufzeichnungen geben …«
»Ich war damals nicht hier«, erwiderte sie in gebrochenem Englisch. »Aber sie sagen, es sei alles verbrannt.«
»Ist es möglich, daß Papiere anderswo aufbewahrt werden?«
»Ich weiß es nicht.«
Thorn zog eine Grimasse, als die Nonne mit den Schultern zuckte. Mehr konnte sie ihm nicht sagen.
»Hören Sie«, sagte Thorn. »Dies ist sehr wichtig für mich. Ich habe hier ein Kind adoptiert und ich suche nach einer Beurkundung seiner Geburt.«
»Hier fanden niemals Adoptionen statt.«
»Doch. Eine bestimmt. Es war eine Adoption, die hier erledigt wurde.«
»Sie irren sich. Unsere Adoptionen werden vom Sozialamt durchgeführt.«
»Gibt es Aufzeichnungen über Geburten? Ich meine, bewahren Sie Aufzeichnungen auf, wenn hier Kinder geboren werden?«
»Ja, natürlich.«
»Vielleicht, wenn ich Ihnen ein Datum sagen würde –«
»Es hat keinen Zweck«, unterbrach Jennings.
Thorn warf ihm einen verzweifelten Blick zu.
»Das Feuer ist in dem Raum, in dem die Aufzeichnungen aufbewahrt wurden, ausgebrochen. Unten im Keller. Dort lagen alle Papiere. Natürlich brannte das ganze Zeug wie eine Fackel. Das Feuer schoß die Treppen hinauf … und im dritten Stock war das reinste Inferno.«
»Im dritten Stock?«
»Ja. Da war die Geburtsstation«, nickte Jennings. »Nichts übriggeblieben außer Asche.«
Thorn lehnte sich müde gegen die Wand.
»Wenn Sie mich entschuldigen wollen«, sagte die Nonne.
»Warten Sie«, bat Thorn. »Und was war mit den Angestellten? Mit den Ärzten, den Pflegern, den Nonnen? Sicherlich haben doch einige überlebt.«