Thorn kletterte über den Zaun. »Jennings?«
Kein Laut. Kein Geräusch. Thorn musterte jede einzelne Statue, indem er ganz langsam weiterging. Bei jedem Schritt durch den Schlamm gurgelte es in seinen Schuhen. Und auch er erschrak, als er dieses Ungeheuer aus Stein erblickte.
Eine merkwürdige Ruhe lag über allem. Es war eine gespannte Ruhe, es war, als hielte die Welt den Atem an. Er hatte Ähnliches zuvor in Pereford einmal erlebt – an jenem Abend, als er das Gefühl gehabt hatte, zwei Augen starrten ihn vom Wald her an. Er betrachtete immer wieder die Statuen, dann sah er ein mächtiges Kreuz, das kopfüber über dem regennassen Boden stand. Er hielt den Atem an. Von irgendwo hinter dem Kreuz kam noch einmal dieser seltsame Laut. Wieder war es, als ob sich jemand bewegte, doch diesmal kam es schnell und direkt auf ihn zu. Am liebsten wäre Thorn weggelaufen, doch er blieb wie angewurzelt stehen.
»Thorn!«
Es war Jennings, der atemlos und mit wilden Augen durch die Büsche gerannt kam. Thorn vermochte das Zittern seines Körpers kaum zu bändigen. Schnell bewegte sich Jennings auf ihn zu. Er hatte das Montiereisen in der Hand.
»Ich hab’s gefunden!« keuchte er. »Ich hab’s gefunden!«
»Was haben Sie gefunden?«
»Kommen Sie mit. Schnell, kommen Sie mit!«
Jennings drehte sich um und lief voraus. Schlamm und Erde spritzten hoch, als er wie ein Hürdenläufer über die Grabsteine sprang. Thorn hatte Mühe, hinter ihm zu bleiben.
»Dort!« rief Jennings, während er in einer Lichtung stehenblieb. »Sehen Sie. Das sind sie!«
Vor ihm lagen zwei Gräber dicht nebeneinander. Im Gegensatz zu den anderen Gräbern auf diesem Friedhof waren sie verhältnismäßig neu. Das eine hatte die Größe eines erwachsenen Menschen, das andere war klein. Die Grabsteine waren schmucklos, sie trugen nur Namen und Daten.
»Sehen Sie die Daten?« fragte Jennings erregt. »Sechster Juni. Sechster Juni! Vor vier Jahren. Hier die Mutter. Hier das Kind.«
Langsam kam Thorn näher und betrachtete die Inschriften.
»Das sind die einzigen neueren Gräber auf dem ganzen Friedhof«, erklärte Jennings stolz. »Die anderen sind so alt, daß man nicht mal die Namen lesen kann.«
Jennings ließ sich auf die Knie nieder. Er wischte Staub und Schmutz von den Steinen, damit er besser sehen konnte, was da geschrieben stand.
»… Maria Aredia Santora …«, las er. »Bambino Santora … In Morte et in Nate Amplexarantur Generationes.«
»Was soll das bedeuten?«
»Es ist lateinisch.«
»Und was heißt das?«
»… im Tod … und Geburt … Umarmung von Generationen.«
»Das ist vielleicht ein Fund, was?«
Jennings bemerkte erst in diesem Augenblick, daß sein Begleiter weinte. Thorn senkte den Kopf, aber er verbarg seine Tränen nicht. Jennings schwieg.
»Das ist es«, stöhnte Thorn. »Ich weiß es. Hier liegt mein Kind begraben.«
»Und wahrscheinlich die Frau, die das Geschöpf zur Welt gebracht hat, das Sie nun aufziehen.«
Thorn machte ein entsetztes Gesicht.
»Maria Santora«, sagte Jennings und wies auf den Grabstein. »Eine Mutter und ein Kind.«
Thorn schüttelte den Kopf. Noch war ihm nicht alles klar.
»Sehen Sie«, sagte Jennings. »Sie haben von Spilletto verlangt, daß er Ihnen sage, wo die Mutter war. Dies ist die Mutter. Und dies ist wahrscheinlich Ihr Kind.«
»Aber warum hier? Warum auf diesem Friedhof?«
»Das weiß ich auch nicht.«
»Warum an diesem schrecklichen Ort?«
Jennings beobachtete Thorn. Er war genauso bestürzt wie sein Begleiter.
»Es gibt nur einen einzigen Weg, um es herauszufinden, Thorn. Wir haben es bis hierher geschafft, nun können wir die Sache auch zu Ende bringen.«
Er hob sein Eisen und stieß es kräftig in die Erde. Ein dumpfer Laut ertönte. Es war fast völlig in die Erde eingedrungen.
»Das schaffen wir leicht. Sie liegen höchstens einen Fuß tief begraben.«
Er begann mit dem Montiereisen zu graben und die Erde zu lockern. Dann nahm er seine Hände zu Hilfe.
»Wollen Sie mir nicht dabei helfen?« sagte er, und Thorn tat es höchst widerwillig. Seine Finger wurden taub vor Kälte, als er half, die Erde beiseite zu schaffen.
Eine halbe Stunde später waren sie verdreckt von oben bis unten. Beide schwitzten. Immerhin hatten sie die ganze Erdschicht beseitigt und zwei Zementplatten freigelegt. Jetzt überlegten sie, was nun getan werden mußte.
»Riechen Sie’s?« fragte Jennings.
»Ja.«
»Muß ein gräßlicher Job sein. Nicht gerade gesund, könnt ich mir denken.«
Thorn antwortete nicht. Er sah bedrückt aus.
»Welche zuerst?« fragte Jennings.
»Müssen wir denn das tun?«
»Ja.«
»Ich habe ein ungutes Gefühl.«
»Wenn Sie wollen, werde ich den Taxifahrer holen.«
Thorn biß die Zähne aufeinander, dann schüttelte er den Kopf.
»Also dann los«, mahnte Jennings. »Nehmen wir das große zuerst.«
Jennings schlug mit dem Eisen ein paarmal fest zu, dann versuchte er damit unter die Seite der großen Zementplatte zu gelangen. Schließlich gelang es ihm, mit den Fingern die Kante der Zementplatte zu fassen.
»Los, verdammt noch mal!« brüllte er. Thorn reagierte schnell. Seine Arme zitterten, als er Jennings half, den schweren Zementblock hochzuheben und zur Seite zu schieben.
»Das Ding wiegt mindestens ’ne Tonne!« stöhnte Jennings. Er bot seine letzte Kraft auf, und langsam hob sich der Deckel. Die beiden Männer versuchten ihn hochzuhalten, während sie in das dunkle Loch starrten.
»Mein Gott!« keuchte Jennings.
Es war der Kadaver eines Schakals! Würmer und anderes Geschmeiß hatten der Verwesung nachgeholfen, aber noch hing etwas Fleisch an den Knochen.
Mit aufgerissenem Mund warf sich Thorn zurück; die Zementplatte entschlüpfte seinen Händen, fiel krachend herunter und zerbrach in zwei Teile.
Ein erboster Fliegenschwarm kam aus dem Grab und stürzte sich auf sie. Plötzlich war Jennings von Panik ergriffen, er rutschte im Schlamm aus, als er Thorn vom Grab wegzuziehen versuchte.
»Nein!« schrie Thorn.
»Lassen Sie uns gehen!«
»Nein!« keuchte der Botschafter. »Das andere … das andere!«
»Wozu? Wir haben doch gesehen, was wir sehen wollten!«
»Nein, das andere«, stöhnte Thorn verzweifelt. »Vielleicht ist es auch ein Tier!«
»Na und?«
»Dann lebt vielleicht mein Kind irgendwo hier in der Gegend!«
Die Trostlosigkeit in Thorns Augen hieß Jennings bleiben. Er holte sein Eisen und versuchte, die kleinere Platte hochzuheben. Schnell hatte Thorn zugegriffen. Er schob die Finger unter den Deckel, als es Jennings gelang, ihn ein wenig hochzuschieben.
Im nächsten Augenblick rutschte er zur Seite, und Thorn erstarrte. In einem kleinen Weidenkorb lagen die Überreste einer Kindesleiche, deren Schädel zerschmettert war.
»Der Kopf …«, schluchzte Thorn.
»O mein Gott!«
»Sie haben es umgebracht!«
»Raus hier! Nur weg von hier!«
»Sie haben meinen Sohn ermordet!« schrie Thorn und schlug den Deckel wieder zu. Dann sahen sich die beiden Männer ratlos an.
»Sie haben ihn umgebracht«, jammerte Thorn. »Sie haben meinen Sohn umgebracht!«
Jennings zog Thorn hoch. Er bot ihm seinen ganzen Beistand. Doch dann blieb er stehen, und er stand da wie gelähmt.
»Thorn.«
Thorn drehte sich um; er schaute dorthin, wo sein Begleiter hinstarrte, und da entdeckte er den Kopf eines schwarzen deutschen Schäferhundes. Die Augen waren halb geschlossen und glänzten; Speichel lief aus seinem Maul und dann entrang sich seiner Kehle ein dumpfes Heulen.