Dieses fürchterliche Ding. Es war purpurfarben, hauchdünn und einfach lachhaft in den Augen einer Frau, deren Arm festgegipst auf einer Stütze lag. Katherine zerrte an den Knöpfen, und ihre Enttäuschung wuchs, als sie diese Knöpfe nicht öffnen konnte. Dann verlor sie vollends die Geduld. Sie zerrte am Verschluß. Die Knöpfe sprangen ab. Katherine versuchte, das Ding über den Kopf zu ziehen, doch Gesicht und Haare wurden dieses fürchterliche Gewirr aus dünnem, purpurfarbenem Stoff nie und nimmer los …
Auf dem Friedhof wuchs das Geheul der Hunde zum Wutgeheul; im Hospital kämpfte Katherine gegen den Zugriff dieses Stoffungeheuers, das sich immer enger um ihren Kopf und ihren Hals schlang. Panische Angst kam über sie. Sie begann zu keuchen, aber dann öffnete sich eine Tür und sie entspannte sich, weil sie wußte, daß endlich Hilfe gekommen war.
Das schaurige Geheul der Hunde dröhnte über den Cimitero di Sant’ Angelo. Es wurde von Augenblick zu Augenblick stärker.
»Hallo«, sagte Katherine und versuchte zu sehen, wer hereingekommen war.
Aber als ihr niemand antwortete, wirbelte sie herum. Aber sie sah nichts als den schleierartigen Stoff.
»Ist jemand hier?«
Und dann sah sie die Frau.
Es war Mrs. Baylock. Ihr Gesicht war weiß gepudert, der grinsende Mund dick mit einem roten Lippenstift bemalt. Sprachlos starrte Katherine die Frau an, die langsam an ihr vorbeiging, die Fenster öffnete und dann auf die Straße hinuntersah.
»Könnten Sie mir helfen …«, flüsterte Katherine. »Ich scheine … ich scheine hier alles verdreht zu haben.«
Mrs. Baylock grinste. Katherine lachte beim Anblick dieses komischen Gesichtes.
»Es ist ein schöner Tag, Katherine«, sagte die Frau. »Ein schöner Tag zum Fliegen.«
Und dann machte sie ein paar Schritte und ihre Hände griffen fest in das rote Nachthemd.
»Bitte …«, sagte Katherine.
Einen langen letzten Augenblick sahen sie sich in die Augen.
»Sie sind eine wunderschöne Frau«, sagte Mrs. Baylock. »Geben wir uns einen Kuß?«
Sie beugte sich vor, und Katherine wich zurück, aber die Frau zog sie mit einer heftigen Bewegung zum Fenster.
Am Eingang der Notstation fuhr mit heulender Sirene und Rotlicht ein Krankenwagen vor, als hoch über ihm in einem Fenster des sechsten Stocks die Gestalt einer Frau auftauchte – ein purpurfarbenes Nachthemd überm Kopf, als sie graziös hinabzuschweben begann.
Wie in Zeitlupe schien die Gestalt sich zu senken. Es war, als hinterließe sie ein Zeichen in der Luft. Niemand sah es, bis der Körper auf dem Dach des Krankenwagens landete, noch einmal hochflog, ehe er zur Ruhe kam … ehe er schließlich wie tot in der Einfahrt zur Unfallstation liegenblieb.
Ruhe war nun eingekehrt in Cerveteri. Die Gräber waren zugedeckt, die Hunde im Dickicht verschwunden.
*
Das Telefon weckte Thorn, der in einem todesähnlichen Schlaf lag. Nun war es dunkel geworden. Jennings war nicht da.
»Ja?« fragte Thorn schlaftrunken.
Es war Dr. Becker, und schon als Thorn seine Stimme hörte, wußte er, daß etwas geschehen war.
»Ich bin froh, daß ich Sie gefunden habe«, sagte der Arzt. »Der Name Ihres Hotels war auf Katherines Nachttisch geschrieben worden, aber ich hatte Mühe, Sie trotzdem aufzutreiben …«
»Was ist los?« fragte Thorn.
»Es tut mir leid, daß ich Ihnen das so mitteilen muß … durch ein Ferngespräch.«
»Was ist passiert?«
»Katherine ist aus dem Krankenhausfenster gesprungen.«
»Was …?« keuchte Thorn.
»Sie ist tot, Mr. Thorn. Wir haben getan, was wir nur tun konnten.«
Thorns Kehle war wie zugeschnürt. Er konnte nicht mehr sprechen.
»Wir wissen nicht genau, wie es passiert ist. Sie hat gebeten, das Krankenhaus verlassen zu können, und dann fanden wir sie draußen auf der Straße.«
»Sie ist tot?«
»Ja. Der Tod trat auf der Stelle ein. Bei dem Aufprall wurde ihr Schädel gespalten.«
Thorn begann zu stöhnen, er drückte den Hörer gegen die Brust.
»Mr. Thorn?« fragte der Arzt.
Aber er bekam keine Antwort mehr.
In der Dunkelheit seines Zimmers saß Thorn und weinte. Sein Schluchzen war draußen auf dem Korridor zu hören. Ein Nachtportier lief zu seinem Zimmer und klopfte, aber es kam keine Antwort, und so blieb es für viele Stunden.
*
Gegen Mitternacht kam Jennings zurück. Er ging gebückt, so müde war er. Im Zimmer sah er, daß Thorn auf dem Bett lag.
»Thorn?«
»Ja?«
»Ich war in der Bibliothek und dann im Autoklub und schließlich habe ich die Royal Ceographic Society angerufen.«
Thorn antwortete nicht. Jennings setzte sich schwer auf die andere Seite des Bettes. Er konnte sehen, daß der Blutfleck auf Thorns Hemd größer geworden war; die Wunde unter seiner Armhöhle leuchtete dunkel und naß.
»Etwas habe ich über diese Stadt Meggido herausgekriegt. Der Name stammt von dem Wort Harmaggedon. Das Ende der Welt.«
»Wo ist sie?« fragte Thorn ausdruckslos.
»Ungefähr fünfzig Fuß unter der Erde, fürchte ich. Außerhalb Jerusalems. Man macht gerade dort Ausgrabungen. Irgendeine amerikanische Universität.«
Wieder bekam er keine Antwort, und Jennings ging zu seinem Bett. Erschöpft legte er sich hin.
»Ich will dorthin«, flüsterte Thorn.
Jennings nickte, er stieß einen Seufzer aus.
»Wenn Sie sich nur an den Namen des alten Mannes erinnern könnten …«
»Bugenhagen.«
Jennings schaute zum anderen Bett hinüber, doch er konnte Thorns Augen nicht sehen.
»Bugenhagen?«
»Ja. Ich habe mich auch an das Gedicht erinnert.«
Verwirrt sah ihn Jennings an. »Der Name des Mannes, den Sie besuchen sollen, heißt Bugenhagen?«
»Ja.«
»Bugenhagen war ein Exorzist, der im siebzehnten Jahrhundert lebte. In einem unserer Bücher ist er erwähnt.«
»Das war der Name«, sagte Thorn ausdruckslos. »Ich habe mich an alles erinnert. An alles, was er gesagt hat.«
»Halleluja«, murmelte Jennings.
»Wenn die Juden nach Zion zurückkehren …«, deklamierte Thorn leise. »… und wenn der Komet am Himmel erscheint … wenn das Heilige Römische Reich aufersteht … dann werden wir alle sterben.«
Jennings hörte ihm in der Dunkelheit zu; aber plötzlich fiel ihm die tonlose Stimme auf, und es war ihm klar, daß sich irgend etwas bei Thorn verändert hatte.
»Aus dem Ewigen Meer wird er aufsteigen …«, fuhr Thorn fort. »… mit Heeren an jeder Küste … der Mann wird sich gegen seinen Bruder wenden … bis keiner mehr existiert.«
Er schwieg; Jennings wartete, während ein Streifenwagen mit heulender Sirene näher und näher kam und dann am Fenster vorbeiraste.
»Ist etwas passiert?« fragte er.
»Katherine ist tot«, antwortete Thorn ohne jedes Gefühl. »Ich will, daß das Kind auch stirbt.«
Von der Straße klang der Lärm in ihr Zimmer, und beide blieben wach, bis es ruhig geworden war.
*
Um acht Uhr rief Jennings El-Al an und buchte den Nachmittagsflug nach Israel.
Thorn war noch nie in Israel gewesen. Sein Wissen über Land und Leute, über Kriege und Kämpfe, Attentate und Aufstände stammte aus den Zeitungen und natürlich aus seinen letzten Forschungen in der Bibel. Er war verblüfft, wie modern dieser Staat war. Er sah ein Land, von dem man sich bereits in den Zeiten der Pharaonen eine Vorstellung gemacht hatte, aber geboren wurde dieses Land erst im Zeitalter des Asphalts und des Betons.