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Der Himmel hatte über dem Exodus auf Kamelrücken gewacht, nun erhoben sich riesige Wolkenkratzer und turmhohe Hotels. Der Lärm von Bauplätzen hallte von den Wänden wider. Gigantische Krane bewegten sich wie mechanische Elefanten, schwangen die mächtigen Ladungen des Baumaterials dorthin, wo es gebraucht wurde. Die ganze Stadt schien entschlossen zu sein, sich so weit auszudehnen, wie es nur möglich war.

Preßlufthämmer rissen Bürgersteige und Straßen wieder auf, die erst vor wenigen Jahren asphaltiert worden waren; überall hingen Schilder, die Ausflüge ins Gelobte Land anboten; und die Polizisten, die Gepäckstücke oder Handtaschen überprüften und ständig Ausschau nach möglichen Saboteuren hielten, waren überall.

Thorn und Jennings wurden am Flughafen angehalten, weil ihre Gesichtsverletzungen Argwohn erweckten. Thorn benutzte seinen Zivilpaß und wurde durchgelassen, aber keiner hatte gemerkt, daß er ein Beamter der amerikanischen Regierung war. Auf dem Flug nach Rom hatte der private Jet, obwohl er weniger Sicherheit bot, seinen Zweck erfüllt, aber hier war es wichtig, anonym zu reisen und so auszusehen wie Herr Jedermann.

Sie fuhren mit einem Taxi zum Hilton, dann kauften sie sich leichte Bekleidung im Herrenausstattungsgeschäft. Heiß war es in der Stadt, und das Pflaster machte alles noch viel heißer. Thorns Schweiß drang durch die Bandage, und die Wunde unter dem Arm begann wieder zu schmerzen. Als Jennings die Wunde sah, schlug er dem Botschafter vor, zu einem Arzt zu gehen. Aber Thorn wollte nicht. Er wollte nur eines: er wollte diesen Bugenhagen finden.

Als sie fertig waren, war es bereits dunkel. Sie gingen durch die Straßen der City, bis die Suche beginnen konnte. Thorn fühlte sich schwach, er schwitzte stark. Sie blieben an einem Straßencafe stehen und bestellten sich Tee, denn sie hofften, er würde sich ein wenig erholen. Jetzt hatten sie einander wenig zu sagen. Jennings war nervös, er fühlte sich unbehaglich, weil sein Begleiter kaum sprach. Während er das geschäftliche Leben in der Straße beobachtete, entdeckte er zwei Frauen, die sie aus der Nähe beobachteten.

»Wissen Sie, was wir brauchen«, sagte er zu Thorn. »damit unser Verstand wieder funktionstüchtig wird?«

Thorns Augen folgten Jennings’ Blicken, und er entdeckte die Frauen, die nun auf den Tisch zukamen.

»Ich schnappe mir die mit den Leberflecken«, sagte Jennings.

Angeekelt betrachtete Thorn seinen Gefährten. Der Fotograf stand höflich auf und bot den Frauen einen Platz an ihrem Tisch an.

»Sprechen Sie Englisch?« fragte Jennings, als die Schönen sich’s bequem gemacht hatten.

Sie lächelten nur, ein Hinweis, daß sie kein Englisch konnten.

»Auf diese Weise ist es noch viel netter«, sagte Jennings zu Thorn. »Sie brauchen nur mit den Händen zu sprechen.«

Thorn verzog angewidert das Gesicht.

»Ich gehe ins Hotel zurück«, sagte er.

»Warum warten Sie nicht und sehen erst mal zu, was auf der Speisekarte steht?« »Ich bin nicht hungrig.«

»Könnte aber recht gut schmecken«, lächelte Jennings. Plötzlich merkte Thorn, was er meinte. Er stand auf und ging.

»Kümmern Sie sich nicht um ihn«, sagte Jennings zu den Mädchen. »Er ist Antisemit.«

Auf der Straße blickte Thorn noch einmal zurück. Er sah, daß Jennings die Frauen bereits befühlte; er drehte sich um und verschwand schnell in der Nacht.

Ziellos wanderte er umher, während er versuchte, nicht daran zu denken, was mit Katherine geschehen war. Er spürte das schmerzhafte Klopfen unter seinem Arm. Die nächtlichen Laute waren ihm fremd. Wenn nun der Tod ihn plötzlich rief, so würde er nicht unwillkommen sein.

Er ging an einem Nachtklub vorbei. Der Portier griff nach seinem Arm. Er versuchte ihn zu überreden: Mensch, komm doch rein. Doch Thorn ging weiter. Er schien nichts mehr zu hören, nichts mehr zu fühlen. Nicht einmal die Straßenlampen sah er durch die verschleierten Augen. Da in der Ferne strömten Leute aus einer Synagoge. Als Thorn sich ihr näherte, sah er, daß die Türen geöffnet waren. Er trat ein. Der Davidstern auf dem Altar war erleuchtet. Biblische Schriftrollen lagen unter Glas; Thorn näherte sich dem Altar, bis er vor ihm stand. Er allein, ein einsamer Mensch in der Stille der Synagoge.

»Kann ich Ihnen behilflich sein?« hörte er eine Stimme aus dem Schatten. Thorn drehte sich um. Ein alter Rabbi kam auf ihn zu.

Er war ganz in Schwarz gekleidet und ging gebeugt, als ob er Arthritis hätte; der kleine, runde schwarze Hut saß fest auf seinem Kopf.

»Dies ist die älteste Thora in Israel«, sagte er und zeigte auf die Schriftrollen. »Man hat sie am Ufer des Roten Meeres ausgegraben.«

Thorn betrachtete den Mann. Die alten wässerigen Augen leuchteten voller Stolz.

»Der Boden Israels ist geschichtlicher Boden«, flüsterte der alte Mann. »Schade, daß wir darauf gehen müssen.«

Dann wandte er sich an Thorn und lächelte.

»Sie sind Tourist?«

»Ja

»Was führt Sie hierher?«

»Ich suche jemanden.«

»Sehen Sie, deswegen bin ich auch hergekommen. Ich habe meine Schwester gesucht. Aber ich fand sie nicht.« Der Mann lächelte.

»Vielleicht gehen wir auch auf ihr.«

Einen Augenblick war alles still, dann hob der Mann die Hand und löschte eine Kerze.

»Haben Sie jemals den Namen Bugenhagen gehört?« fragte Thorn.

»Ist er Pole?«

»Ich weiß es nicht.«

»Er lebt in Israel?«

»Ich denke schon.«

»Was macht er hier?«

Thorn kam sich närrisch vor. Er schüttelte den Kopf.

»Ich weiß es nicht.«

»Es ist ein bekannter Name.«

Sie standen eine Weile in der Dunkelheit, und der Rabbi schien nachzudenken – vielleicht, daß er versuchte, sich an diesen Namen zu erinnern.

»Wissen Sie, was ein Exorzist ist?« fragte Thorn.

»Ein Exorzist?« lächelte der alte Mann. »Sie meinen … mit dem Teufel?«

»Ja

Der Rabbi lächelte und machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Warum lachen Sie?« fragte Thorn.

»So etwas gibt es nicht.«

»Nein?«

»Den Teufel. Den gibt es nicht.«

Er verschwand in der Dunkelheit, und Thorn hörte den Mann kichern, als ob er einen Witz gehört hätte. Wieder betrachtete Thorn die Schriftrollen, dann drehte er sich um und ging in die Nacht hinaus.

Jennings kehrte erst am folgenden Morgen zurück und ersparte es Thorn, Einzelheiten über sein Abenteuer in der vergangenen Nacht zu berichten. Die einzige Geste, daß er was mit den Frauen gehabt hatte, war, daß er bei geöffneter Tür im Badezimmer in die Hände urinierte und seine Genitalien mit dem Urin wusch.

Als er Thorns Gesichtsausdruck sah, der dieses merkwürdige und abstoßende Ritual beobachtete, sagte er: »Das habe ich in der RAF gelernt. Es ist so gut wie Penicillin.«

Thorn schloß die Tür und wartete ungeduldig darauf, daß Jennings sich anzog. Plötzlich widerte ihn die Begleitung dieses Mannes an. Aber noch mehr fürchtete er das Alleinsein.

»Gehen wir«, sagte Jennings. Er nahm sein Kameraetui. »Ich habe für uns eine Fahrt zu den Ausgrabungen gebucht, ehe ich herkam.«

Sie fuhren in einem Kleinbus mit zehn anderen Touristen durch die Altstadt Jerusalems. An der Klagemauer hielten sie. Die Touristen stiegen aus und fotografierten. Der Kommerzialismus war sogar hier grotesk. Verkäufer schoben sich durch die Menge der klagenden Juden. Sie priesen laut ihre Waren an – vom heißen Würstchen bis zum ›Plastiksouvenir mit Christus am Kreuz‹. Jennings kaufte zwei solche Kruzifixe, band eines um den Hals und gab das andere Thorn.

»Legen Sie das um, alter Junge. Vielleicht brauchen Sie’s.«

Aber Thorn weigerte sich. Er begriff nicht, wieso Jennings sich benahm, als ob sie sich auf Vergnügungsfahrt befänden.