Die Fahrt in die Wüste war weniger amüsant. Der Reiseführer erzählte aus der jüngsten Geschichte Israels. Er berichtete vom Krieg zwischen den Arabern und den Juden. Er sprach von den Golanhöhen, wo die meisten Schlachten ausgetragen worden waren.
Sie rumpelten durch das Dorf Daa-Lot, in dem eine Gruppe jüdischer Schulkinder von arabischen Terroristen massakriert worden war, und nun erzählte der Führer von einer anderen Gruppe Terroristen, wie diese gefangengenommen und getötet wurden, und daß man ihre Leichen zertrampelt habe, um die toten Schulkinder zu rächen.
»Nun wissen wir, warum sie an der Mauer jammern«, murmelte Jennings.
Thorn gab keine Antwort. Schweigend saßen sie nebeneinander, während der Kleinbus dahinrollte.
*
Als sie glücklich die archäologischen Ausgrabungsstätten erreichten, waren die Touristen müde und in Schweiß gebadet. Sie beschwerten sich sehr, als der Reiseführer sie in ein von Seilen umfriedetes Gebiet führte und ihnen erklärte, daß hier an Ausgrabungen gearbeitet werde.
Unter ihren Füßen befanden sich des Königs Salomon Quellen – ein ausgeklügeltes System von Gruben und Kanälen, die sich wahrscheinlich bis Jerusalem erstreckten, welches ungefähr sechzig Meilen entfernt lag.
Irgendwo innerhalb des Systems standen die Ruinen einer alten Stadt, und viele hielten diese Stadt für den Ort, wo die Bibel geschrieben worden war. Man hatte Texte gefunden, deren Inhalt sich auf das Alte Testament bezog. Die Ausgrabung war ein ehrgeiziges Projekt, denn kein Mensch wußte genau, wo die Stadt lag. Hier konnten keine Bulldozer eingesetzt werden, die die Erde aufrissen. Hier wurde, Zentimeter für Zentimeter, Erdreich mit Schaufeln und Bürsten entfernt.
Während der Fremdenführer erzählte, sprachen Jennings und Thorn mit einigen Studenten, die bei den archäologischen Ausgrabungen mitarbeiteten. Aber sie erfuhren nichts. Niemand kannte den Namen Bugenhagen, und alles, was sie von der Stadt Meggido wußten, war, daß vor vielen Jahrhunderten irgendeine Bodenumwälzung sie in die Erde hatte versinken lassen. Vielleicht war es ein Erdbeben, möglicherweise eine Überschwemmung gewesen, denn man hatte Muscheln hier gefunden – an einer Stelle, die weit vom Wasser entfernt war.
Thorn und Jennings kehrten in ihr Hotel zurück. Sie erfrischten sich, dann gingen sie über die Marktplätze und fragten jeden, den sie nur ansprechen konnten, ob er den Namen Bugenhagen jemals gehört habe.
Niemand hatte ihn gehört. Doch sie gaben nicht auf. Thorn war nun niedergeschlagen, und seine Kraft ließ mehr und mehr nach. Die meiste Arbeit übernahm Jennings. Er besuchte Geschäfte und Fabriken. Er prüfte Telefonbücher. Er ging sogar zur Polizei.
»Vielleicht hat er seinen Namen geändert«, seufzte Jennings, als sie am Morgen des zweiten Tages auf einer Parkbank saßen. »Vielleicht heißt er George Bugen oder Jim Hagen. Oder Izzy Hagenberg?«
*
Am nächsten Tag fuhren sie nach Jerusalem hinein und nahmen sich ein Zimmer in einem kleinen Hotel. Wieder versuchten sie jemanden zu finden, der diesen so fremdartig klingenden Namen gehört hatte. Doch es war zwecklos. Sie konnten so nicht weitermachen.
»Ich sage, wir geben auf«, meinte Jennings, während er den Blick von der Veranda ihres Zimmers über die Stadt schweifen ließ.
Im Zimmer war es heiß. Schweißbedeckt lag Thorn auf dem Bett.
»Wenn es hier einen Bugenhagen gibt, dann haben wir überhaupt keine Chance, ihn zu finden. Und soweit wir wissen, existiert er nicht einmal.«
Er ging ins Zimmer und holte eine Zigarette.
»Lieber Himmel, dieser kleine Priester stand doch die ganze Zeit unter der Einwirkung von Morphium. Wir verlassen uns auf sein Wort, als ob es ein Name aus der Bibel wäre. Bloß gut, daß er Ihnen nicht gesagt hat, Sie sollten zum Mond fliegen.«
Er setzte sich schwer aufs Bett und sah zu Thorn hinüber.
»Ich weiß nicht, Thorn. Vorher ergab das alles einen Sinn, aber jetzt ist es irgendwie verrückt.«
Thorn nickte. Mühsam richtete er sich auf. Sein Verband hatte sich gelöst, und Jennings verzog das Gesicht, als er die Wunde sah.
»Das sieht aber verdammt mies aus«, meinte er.
»Es ist schon gut.«
»Glaube ich nicht. Das sieht aus, als ob die Wunde eitern würde.«
»Es ist gut«, wiederholte Thorn.
»Warum lassen Sie uns nicht zu einem Arzt gehen?«
»Suchen Sie diesen alten Mann«, zischte Thorn. »er ist der einzige, der mich interessiert.«
Jennings wollte ihm gerade eine scharfe Antwort geben, als er durch ein leises Klopfen an der Tür unterbrochen wurde. Er ging hin und öffnete sie. Im Flur stand ein Bettler. Ein kleiner Mann, ein Araber – alt und nackt sein Oberkörper. Als er lächelte, zeigte er einen Goldzahn. Er verbeugte sich mit übertriebener Höflichkeit.
»Was wollen Sie?« fragte Jennings.
»Sie suchen den alten Mann?«
Jennings und Thorn sahen sich an.
»Was für einen alten Mann?« fragte Jennings vorsichtig.
»Auf dem Marktplatz haben Sie erzählt, daß Sie den alten Mann suchten.«
»Wir suchen einen Mann«, gab Jennings vorsichtshalber zu.
»Ich werde Sie hinbringen.«
Schwerfällig erhob sich Thorn. Er starrte Jennings an.
»Beeilen – beeilen«, drängte der Araber. »Er sagt, Sie sollen gleich kommen.«
Schweigend folgten sie zu Fuß dem kleinen Araber durch die Straßen Jerusalems. Er ging für einen alten Mann überraschend schnell. Thorn und Jennings hatten Mühe, mit ihm Schritt zu halten. Einmal hätten sie ihn fast verloren, als er in der Menge auf dem Marktplatz war, doch dann tauchte er auf der anderen Seite oben auf einer Mauer wieder auf.
Ihre Müdigkeit schien ihn zu belustigen. Er war ihnen immer einige Meter voraus, wenn er sich behende durch die engen Gäßchen und Tore bewegte. Als sie aufgeholt hatten und heftig nach Atem rangen, verzog er seinen Mund wie ein Kater. Offensichtlich hatten sie das Ende ihres Weges erreicht, doch sie sahen jetzt nur eine Wand aus Ziegelsteinen. Plötzlich war ihnen der Gedanke gekommen, man wolle sie in irgendeine Falle locken.
»Unten«, sagte der Araber. Er entfernte ein Gitter und machte eine Handbewegung, daß sie hinuntersteigen sollten.
»Was, zum Teufel, ist das?« fragte Jennings.
»Beeilen – beeilen«, wiederholte der Araber grinsend.
Wieder sahen sich Thorn und Jennings an. Sie wußten nicht, ob es richtig war, dem Araber zu folgen, aber dann zuckte Thorn mit den Schultern. Der Araber schob das Gitter wieder vor, als sie hinter ihm eintraten.
Im Innern war es dunkel. Der Mann entzündete eine Fackel und ging schnell vor ihnen her. Er stieg nach unten, und sie konnten in dem trüben Licht eine schlüpfrige Treppe erkennen, die aus rohen Steinen gehauen war. Und diese Steine waren durch die Straßendränage von dicken braunen Algen überzogen, die entsetzlich stanken und jede Bewegung zu einem Abenteuer werden ließen. Sie stolperten, als sie vorsichtig weitergingen, aber als sie endlich auf festem Boden standen, überraschte der Araber sie, denn plötzlich rannte er los.
Sie versuchten ihm zu folgen, aber sie konnten sich auf den glitschigen Steinen unter ihren Füßen nicht schnell genug bewegen. Der kleine Mann rannte. Seine Fackel wurde zu einem langen Lichtstreifen in der Ferne. Nun war es dunkel, der Tunnel war eng, ihre Arme berührten fast die Seitenwände.
Es war wie ein gewaltiger Dränagekanal, vielleicht überhaupt die Kanalisation der Stadt, und Jennings überlegte, daß es gut möglich war, daß sie durch das verwirrende System der alten Wasserkanäle wanderten, die ihnen von den Archäologen bei den Ausgrabungen in der Wüste erklärt worden waren.
Festes Gemäuer und Dunkelheit ringsum. Sie tasteten sich blindlings weiter. Ihre Schritte erklangen im Tunnel. Es war das Echo. Das Fackellicht war nun ganz verschwunden. Sie gingen langsamer, als sie merkten, daß sie allein waren.