Sie konnten einander nicht sehen, doch das mühsame Atmen sagte ihnen, daß sie nicht weit voneinander entfernt waren.
»Jennings …«, keuchte Thorn.
»Ich bin hier.«
»Ich kann nichts sehen.«
»Dieses Schwein …«
»Warten Sie auf mich.«
»Es bleibt mir nichts anderes übrig«, meinte Jennings. »Wir stehen direkt vor einer festen Mauer.«
Thorn machte noch einige Schritte, dann berührte er Jennings und schließlich befühlte er die Wand. Ihr Weg war zu Ende und der Araber verschwunden.
»Ich begreif’s nicht ganz«, sagte Jennings. »Jedenfalls ist er nicht an uns vorbeigekommen. Vielleicht ist er irgendwo unterwegs abgebogen.«
Er zündete ein Streichholz an, das für Sekunden eine kleine Stelle erleuchtete. Es war wie ein Grab. Die Felsendecke schien sie zu erdrücken. Die Risse waren naß, Asseln krochen über die Steine.
»Ist das ein Abwasserkanal?« fragte Thorn.
»Es ist naß«, bemerkte Jennings. »Warum, zum Teufel, ist es naß?«
Sein Streichholz ging aus, und sie standen wieder in der Dunkelheit.
»Aber das ist doch Wüste. Wo kommt bloß das Wasser her?«
»Es muß eine unterirdische Quelle geben …«, überlegte Thorn.
»Oder Zisternen. Ich wäre nicht überrascht, wenn wir diesen unterirdischen Kanälen nahe wären. Man hat da draußen in der Wüste Muscheln gefunden. Es ist doch durchaus möglich, daß damals, als diese Stadt Meggido verschwand, unter der Erde Wasser zurückgeblieben ist.«
Thorn schwieg, sein Atem ging immer noch schwer.
»Lassen Sie uns gehen«, keuchte er.
»Durch die Wand?«
»Zurück. Wir wollen sehen, wie wir hier zurückfinden.«
Sie streckten die Hände aus, um die feuchte Felswand zu berühren. So konnten sie ihren Weg finden. Sie kamen nur langsam voran. Da sie nichts sehen konnten, schien jeder Zentimeter wie ein Kilometer zu sein. Und dann fuhr Jennings Hand plötzlich ins Leere.
»Thorn?«
Er ergriff Thorns Arm und zog ihn zu sich heran. Gleich hier zweigte ein Korridor ab in anderer Richtung – vielleicht in einem Winkel von neunzig Grad. Sie hatten ihn vorhin übersehen.
»Da hinten ist irgendwo ein Licht«, flüsterte Thorn.
»Wahrscheinlich unser kleiner Gandhi.«
Vorsichtig bewegten sie sich in diesem zweiten Korridor weiter. Es schien kein Dränagekanal zu sein, eher eine Kaverne. Felsbrocken lagen in ihrem Weg, die Wände waren uneben und dadurch wurde dieser Korridor manchmal ungewöhnlich breit.
Während sie sich vorsichtig weitertasteten, entdeckten sie schließlich, was vor ihnen lag. Es war nicht nur das Licht einer einzelnen Fackel, sondern eine hellerleuchtete Kammer. Wie Schatten standen zwei Männer da, die sie beobachteten und auf sie warteten, während sie langsam weitergingen.
Da war auch wieder der arabische Bettler. Er hielt die erloschene Fackel in der Hand. Der andere war ein älterer Mann in Khaki-Shorts und einem kurzärmeligen Hemd. Sein Anzug glich dem der Archäologen, die sie in der Wüste bei der Ausgrabungsstätte gesehen hatten.
Das Gesicht des Mannes war ernst und gespannt, das Hemd klebte ihm am schweißigen Körper. Hinter ihnen konnten sie einen Holztisch sehen, auf dem Stapel von Papieren und Schriftrollen lagen.
Jennings und Thorn stiegen über eine Türschwelle von behauenen Felssteinen und betraten den Raum. Blinzelnd versuchten sie in dem hellen Licht etwas zu erkennen. Die Kammer war von Dutzenden brennender Laternen erleuchtet. Das Dunkel ließ Gebäude und steinerne Treppen vermuten, die mit den Felsen zu verschmelzen schienen. Der Boden unter ihnen war aus hartem Lehm, doch konnten sie ab und zu Kopf Steinpflaster erkennen; es mußte sich um eine alte Straße handeln.
»Zweihundert Drachmen«, sagte der Araber mit ausgestreckter Hand.
»Können Sie ihn bezahlen?« fragte der Mann mit den Khaki-Shorts.
Thorn und Jennings starrten ihn an. Der Mann zuckte mit den Schultern.
»Sind Sie …?«
Das plötzliche Nicken des Mannes unterbrach ihn. »Sie sind Bugenhagen?«
»Ja.«
Jennings betrachtete ihn argwöhnisch.
»Bugenhagen war ein Exorzist im siebzehnten Jahrhundert.«
»Das war vor neun Generationen.«
»Ich bin der letzte«, erwiderte der Mann. »Und ich werde der letzte bleiben.«
Er ging hinter seinen Tisch und setzte sich schwerfällig hin. Das Licht der Tischlampe beleuchtete sein Gesicht, das fast durchsichtig erschien. Klar waren die Venen an den Schläfen und die Glatze zu erkennen. Sein Gesicht war gespannt, irgendwie verbittert, als ob ihm das, was er nun tun sollte, nicht gefiele.
»Was ist das hier für ein Ort?« fragte Thorn.
»Die Innenstadt von Jezreel, die Stadt Meggido«, antwortete der Mann ausdruckslos. »Meine Festung, mein Gefängnis. Der Ort, wo das Christentum begann.«
»Ihr Gefängnis …?« fragte Thorn.
»Geographisch gesehen ist es das Herz der Christenheit. Solange ich hier drin bleibe, kann mir nichts geschehen.«
Er schwieg und wartete auf ihre Reaktion. Noch zweifelten sie, und der Zweifel stand auf ihren Gesichtern geschrieben.
»Können Sie meinen Boten bezahlen, bitte?« fragte er.
Thorn griff in die Tasche und holte ein paar Banknoten heraus. Der Araber nahm sie und verschwand sofort in der Richtung, aus der er gekommen war. Die drei Männer sahen einander schweigend an. Der Raum war kalt und feucht. Thorn und Jennings erschauerten, als sie sich umsahen.
»Über diesen Platz«, sagte Bugenhagen. »sind einstmals römische Armeen marschiert, und die alten Männer saßen auf steinernen Bänken. Flüsternd sprachen sie über die Geburt Christi. Die Geschichten, die sie erzählten, wurden hier aufgeschrieben«, fuhr er fort und machte eine umfassende Handbewegung. »in diesem Gebäude – mühselig niedergeschrieben alles – und zu Büchern vereinigt, die wir als Bibel kennen.«
Jennings entdeckte eine dunkle Höhle hinter ihnen, und Bugenhagens Augen folgten seinem Blick.
»Die ganze Stadt ist hier«, sagte er. »Fünfunddreißig Kilometer von Norden nach Süden. Das meiste ist passierbar, allerdings ist in der letzten Zeit einiges eingestürzt. Sie graben da oben weiter und dadurch stürzt manches hier unten ein. Aber bis sie unten sind, wird alles Schutt sein.« Er schwieg und in seinem Gesicht stand die Trauer.
Thorn und Jennings hörten ihm lange zu und versuchten sich das zu merken, was sie sahen und hörten.
»Der kleine Priester«, sagte Bugenhagen. »Er ist jetzt tot?«
Thorn wandte sich ihm zu, plötzlich überkam ihn die Erinnerung an Tassone.
»Ja«, antwortete er.
»Dann nehmen Sie Platz, Mr. Thorn. Wir sollten nun an die Arbeit gehen.«
Doch Thorn blieb stehen. Der alte Mann sah Jennings an.
»Sie müssen mir verzeihen. Aber das ist eine Sache, die allein Mr. Thorn angeht.«
»In dieser Angelegenheit gehöre ich zu ihm«, erwiderte Jennings.
»Ich fürchte nein.«
»Ich habe ihn hierher gebracht.«
»Sicher wird er Ihnen dankbar sein.«
»Thorn …?«
»Tun Sie, was er sagt«, antwortete Thorn.
Jennings’ Augenbrauen zogen sich zusammen. Warum war Thorn so ungehalten?
»Wo, zum Teufel, soll ich denn hingehen?«
»Nehmen Sie eine Lampe«, sagte Bugenhagen.
Widerwillig tat Jennings, was ihm der Mann gesagt hatte. Er warf einen wütenden Blick auf Thorn, dann hob er die Lampe vom Haken an der Wand und verschwand in der Dunkelheit.
Eine Weile herrschte Stille. Der alte Mann erhob sich hinter seinem Schreibtisch und wartete, bis er die schlurfenden Geräusche von Jennings’ Schritten nicht mehr hörte.
»Trauen Sie ihm?« fragte Bugenhagen.
»Ja.«
»Trauen Sie keinem.«