Er packte das Telegramm und blickte auf die Datumszeile. Zürich.
Herrgott! Zürich!
Jemand in Zürich — jemand, der sich Da Vinci nannte, jemand, der seinen wirklichen Namen kannte, der John Tanner kannte, der über die Ostermans Bescheid wußte, warnte ihn.
Joe Cardone starrte zum Fenster hinaus auf den Rasen seines Hinterhofs. Da Vinci, Da Vinci!
Leonardo.
Künstler, Soldat, Kriegsarchitekt — für jeden etwas.
Mafia!
Herrgott! Wer?
Die Costellanos? Die Batellas? Die Latronas, vielleicht.
Welche der Familien hatte sich gegen ihn gewandt? Und warum? Er war ihr Freund!
Seine Hände zitterten, als er das Telegramm auf den Küchentisch legte. Er las es noch einmal. Jeder Satz beschwor immer gefährlicher werdende Bedeutungen herauf.
Tanner! John Tanner hatte etwas in Erfahrung gebracht! Aber was?
Und warum kam die Nachricht aus Zürich? Was hatten sie mit Zürich zu tun?
Oder die Ostermans?
Was hatte Tanner entdeckt? Was würde er tun? — Einer der Batella-Leute hatte Tanner einmal eine Bezeichnung gegeben… Wie war sie doch?
«Volturno!«
Geier.
«… kein Freund des Italieners… Vorsichtig… Schützen Sie sich… «
Wie? Vor was? Tanner würde sich ihm nicht anvertrauen. Warum sollte er?
Er, Joe Cordone, gehörte nicht dem Syndikat an; auch keiner Famiglia. Was konnte er wissen?
Aber >Da Vincis< Nachricht war aus der Schweiz gekommen.
Und das ließ eine Möglichkeit offen, eine besorgniserregende Möglichkeit. Die Cosa Nostra hatte von Zürich erfahren! Sie würden das gegen ihn verwenden, wenn er nicht imstande war, den >hellbraunen Mann<, den Feind des Italieners, unter Kontrolle zu halten. Wenn er das nicht verhindern konnte, was John Tanner im Begriff war zu tun, was auch immer es sein mochte, würde er vernichtet werden.
Zürich! Die Ostermans!
Er hatte das getan, was er für richtig gehalten hatte! Was er hatte tun müssen, um zu überleben. Osterman hatte ihm das auf eine Art und Weise klargemacht, die keinen Zweifel ließ. Aber jetzt war das in anderen Händen. Nicht in seinen.
Joe Cardone verließ die Küche und kehrte in seine Miniaturturnhalle zurück. Ohne Handschuhe anzuziehen, fing er an, auf den Sack einzuschlagen. Schneller und schneller, immer härter.
In seinem Kopf war ein schrilles Kreischen zu hören.
>Zürich! Zürich! Zürich!<
Virginia Tremayne hörte ihren Mann um Viertel nach sechs aus dem Bett steigen und wußte sofort, daß etwas nicht stimmte. Ihr Mann stand selten so früh auf.
Sie wartete ein paar Minuten. Als er nicht zurückkehrte, zog sie ihren Morgenrock an und ging hinunter. Er war im Wohnzimmer, stand am Erkerfenster, rauchte eine Zigarette und las etwas, das auf einem Stück Papier stand.
«Was machst du denn?«
«Sieh dir das an«, antwortete er mit leiser Stimme.
«Was denn?«Sie nahm ihm das Papier aus der Hand.
Seien Sie mit Ihrem Reporterfreund äußerst vorsichtig. Seine Freundschaft geht nicht über seinen Ehrgeiz hinaus. Er ist nicht das, was er zu sein scheint. Es kann sein, daß wir seine Besucher aus Kalifornien melden müssen. Blackstone
«Was ist das? Wann hast du das bekommen?«
«Ich hörte vor etwa zwanzig Minuten Geräusche vor dem Fenster. Gerade laut genug, um mich zu wecken. Und dann wurde ein Wagen angelassen. Der Motor wurde immer wieder hochgejagt… Ich dachte, du hättest es auch gehört. Du hast die Zudecke hochgezogen.«
«Ich denke schon. Ich habe nicht darauf geachtet…«
«Ich ging hinunter und hab' die Tür geöffnet. Dieser Umschlag lag auf dem Fußabstreifer.«
«Was hat das zu bedeuten?«
«Das weiß ich noch nicht genau.«
«Wer ist Blackstone?«
«Die Kommentare. Die Basis unseres juristischen Systems…«Richard Tremayne warf sich in einen Sessel und preßte sich die
Hand gegen die Stirn. Mit der anderen rollte er seine Zigarette vorsichtig über den Rand eines Aschenbechers.
«Bitte — laß mich nachdenken.«
Virginia Tremayne sah wieder auf das Papier mit der geheimnisvollen Nachricht.»>Reporterfreund<. Bedeutet das…?«
«Tanner hat irgend etwas in Erfahrung gebracht, und der
Betreffende, der uns das gebracht hat, ist in Panik geraten.
Jetzt versuchen sie, mich auch in Panik zu treiben.«
«Warum?«
«Das weiß ich nicht. Vielleicht glauben sie, daß ich ihnen helfen kann. Und wenn nicht, dann bedrohen sie mich. Uns alle.«
«Die Ostermans.«
«Genau. Sie bedrohen uns mit Zürich.«
«Oh, mein Gott! Sie wissen es! Jemand hat es herausgebracht!«
«So sieht es aus.«
«Meinst du, Bernie hat kalte Füße bekommen? Darüber geredet?«
Tremaynes Auge zuckte.»Er wäre von Sinnen, wenn er das täte. Man würde ihn ans Kreuz schlagen, auf beiden Seiten des Atlantik… Nein, das ist es nicht.«
«Was ist es dann?«
«Wer auch immer das geschrieben hat, es ist jemand, mit dem ich in der Vergangenheit zusammengearbeitet habe oder den ich abgelehnt habe. Vielleicht ist es einer meiner augenblicklichen Fälle. Vielleicht eine der Akten, die jetzt auf meinem Tisch liegen. Und Tanner hat Wind davon bekommen und macht jetzt Lärm. Sie erwarten von mir, daß ich ihn aufhalte. Wenn ich das nicht tue, bin ich erledigt. Ehe ich es mir leisten kann… Ehe Zürich für uns zu arbeiten beginnt.«
«Sie können dir doch unmöglich etwas anhaben!«sagte Tremaynes Frau mit gekünstelter Sicherheit.
«Komm schon, Darling. Wir wollen uns doch nichts vormachen. Höflich ausgedrückt, bin ich Spezialist für Firmenübernahmen. Aber in den Vorstandsetagen bin ich ein Pirat. Um Richter Hand zu zitieren, der Firmenmarkt ist zur Zeit mit falschen Käufen verrückt gemacht. Falsch. Das bedeutet Schwindel. Käufe mit Papier.«
«Hast du Schwierigkeiten?«
«Nein, das nicht — ich könnte immer sagen, daß man mich falsch informiert hat. Die Gerichte mögen mich.«
«Sie respektieren dich! Du hast härter gearbeitet als jeder Mann, den ich kenne. Du bist der beste Anwalt, den es gibt!«»Ich wollte, es wäre so.«
«Du bist es!«
Richard Tremayne stand an dem großen Erkerfenster und blickte auf den Rasen seines Vierundsiebzigtausend-Dollar-Ranch-Hauses hinaus.»Ist das nicht komisch. Wahrscheinlich hast du recht. Ich bin einer der besten, die es gibt, in einem System, das ich verachte… Ein System, das Tanner in einem seiner Programme in Stücke reißen würde, wenn er wüßte, was wirklich dahinter steckt. Und das ist es, was dieser Zettel hier meint.«
«Ich glaube, du hast unrecht. Ich glaube, das ist jemand, den du einmal geschlagen hast und der sich an dir rächen möchte. Der Versuch, dir Angst zu machen.«
«Das ist ihm dann auch gelungen. Was dieser — Blackstone mir sagt, ist nichts, was ich nicht schon weiß. Was ich bin und was ich tue, macht mich zu Tanners natürlichem Feind. Er würde das zumindest so sehen. Wenn er die Wahrheit wüßte.«
Er sah sie an und zwang sich zu einem Lächeln.»Die in Zürich kennen die Wahrheit.«
Kapitel 6
Dienstag — 9.30 Uhr, Kalifornische Zeit
Osterman schlenderte ziellos auf dem Studiogelände herum und versuchte Ablenkung von dem Anruf in der frühen Morgenstunde zu finden. Aber er kam nicht davon los. Weder er noch Leila hatten wieder einschlafen können. Sie hatten versucht, die einzelnen Möglichkeiten zu überprüfen und einzuschränken. Und als sie damit nicht weiter kamen, hatten sie sich der viel wichtigeren Frage zugewandt, weshalb dieser Anruf gekommen war.
Warum war gerade er angerufen worden? Was stand dahinter? Arbeitete Tanner wieder an einem seiner Exposes?