Tanner überraschte das nicht.
Er preßte seinen Rücken gegen die Mauer und hoffte, daß man ihn nicht sehen würde, aber er war ein kräftig gebauter Mann. Aus keinem anderen Grund, als weil es ihm ein Gefühl der Sicherheit vermittelte, zog Tanner die Pistole aus dem Gürtel. Wenn nötig, würde er Cardone töten.
Als der Wagen noch vierzig Fuß von ihm entfernt war, ließen zwei kurze Hupentöne eines zweiten Fahrzeugs, das aus der entgegengesetzten Richtung kam, Cardone anhalten.
Der zweite Wagen rollte schnell heran.
Es war Tremayne. Als er an der Gasse vorbeirollte, konnte Tanner sein von panischer Angst verzerrtes Gesicht sehen.
Der Anwalt hielt neben Cardone an, und die beiden Männer redeten schnell, mit leiser Stimme miteinander. Tanner konnte nichts verstehen, merkte aber, daß die beiden Männer schnell und in großer Erregung redeten. Tremayne wendete auf der Straße, und dann rasten die beiden Fahrzeuge in der gleichen Richtung davon.
Tanner entspannte sich, dehnte die verkrampften Glieder. Jetzt wußte er über alle Bescheid. Über alle, die er kannte, und einen weiteren, von dem er nichts wußte. Omega plus eins, überlegte er. Wer war in dem schwarzen Wagen gesessen? Wer hatte versucht, ihn zu überfahren?
Es hatte keinen Sinn, noch länger zu warten. Er hatte gesehen, was er sehen mußte. Er würde jetzt bis auf ein paar hundert Meter an den Lassiter-Bahnhof heranfahren und darauf warten, daß Omega sich erklärte.
Er ging aus der Gasse heraus, auf den Wagen zu. Dann blieb er stehen.
Mit dem Wagen stimmte etwas nicht. Im gedämpften Licht der Gaslaternen konnte er sehen, daß das Hinterende des Wagens auf die Straße heruntergesunken war. Die verchromte Stoßstange stand nur ein paar Zoll über dem Pflaster.
Er rannte auf den Wagen zu und holte die Taschenlampe heraus. Die beiden hinteren Reifen waren platt, das Gewicht des schweren Wagens ruhte auf den Felgen. Er kauerte sich nieder und sah zwei Messer in den Reifen stecken.
Wie? Wann? Er war die ganze Zeit höchstens zwanzig Meter entfernt gewesen! Die Straße war verlassen! Niemand! Niemand hatte sich an den Mercedes heranschleichen können, ohne ihm aufzufallen!
Höchstens vielleicht in diesen paar Augenblicken in der Gasse. Jenen Augenblicken, in denen er sich die Zigarette angezündet und sich an die Wand gepreßt hatte, um Tremayne und Cardone zu beobachten. Jenen Sekunden, in denen er geglaubt hatte, Schritte zu hören.
Die Reifen waren vor höchstens fünf Minuten aufgeschlitzt worden!
Herrgott, dachte Tanner. Es hatte doch noch nicht aufgehört! Omega war ihm auf den Fersen. Sie wußten Bescheid. Wußten über jeden Schritt, den er tat, Bescheid. Jede Sekunde!
Was hatte Ali am Telefon sagen wollen? Bernie hatte was? Er ging auf die Zelle zu, holte den letzten Dime aus der Tasche. Während er die Straße überquerte, zog er die Pistole aus dem Gürtel. Vielleicht wartete derjenige, der ihm die Reifen aufgeschnitten hatte, irgendwo, beobachtete ihn.
«Ali?«
«Darling, um Gottes willen, komm nach Hause!«
«Es dauert richt mehr lange, Honey. Ehrlich, es gibt keine Probleme. Gar keine Probleme… Ich möchte dich nur etwas fragen. Das ist wichtig.«
«Es ist genauso wichtig, daß du nach Hause kommst!«
«Du hast vorher gesagt, Bernie hätte sich zu etwas entschlossen. Was war das?«
«Oh… Als du das erstemal anriefst. Leila ist dir nachgefahren; Bernie wollte uns nicht alleine lassen. Aber er machte sich Sorgen, daß du nicht auf sie hören würdest, und dann hat er beschlossen, sich selbst auf die Suche nach dir zu machen, nachdem ja Polizei hier war.«
«Hat er den Triumph genommen?«»Nein. Er hat sich von einem der Polizisten einen Wagen ausgeliehen.«
«O Gott!«Tanner wollte nicht ins Telefon schreien, aber er konnte nicht anders. Der schwarze Wagen, der plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht war! Das plus eins war in Wirklichkeit doch Teil der drei!» Ist er zurück?«
«Nein. Aber Leila ist wieder da. Sie meint, er hat sich vielleicht verfahren.«
«Ich rufe wieder an. «Tanner legte auf. Natürlich hatte Bernie sich >verfahren<. Er hatte noch nicht genügend Zeit gehabt, zurückzufahren. Nicht, seit Tanner in der Gasse gewesen war, nicht, seit man ihm die Reifen aufgeschlitzt hatte.
Und jetzt erkannte er, daß er irgendwie zum Lassiter-Bahnhof mußte. Ihn erreichen und dort Stellung beziehen mußte, ehe irgendein Teil von Omega ihn aufhalten konnte oder erfuhr, wo er war.
Die Lassiter Road lag in nordwestlicher Richtung, etwa drei Meilen vom Ortszentrum entfernt. Und ein oder zwei Meilen dahinter stand der alte Bahnhof. Er würde zu Fuß gehen. Das war alles, was er tun konnte.
Er machte sich so schnell er konnte auf den Weg. Die Schmerzen in seinem Bein ließen bald nach. Nach einer Weile duckte er sich in eine Türnische. Niemand folgte ihm.
Er setzte seinen Marsch im Zick-Zackkurs in nordwestlicher Richtung fort, bis er den Rand der Ortschaft erreichte — dort gab es keine Bürgersteige mehr, nur große Rasenflächen. Lassiter war jetzt nicht mehr weit. Zweimal legte er sich flach auf den Boden, wenn Autos an ihm vorbeirasten, deren Fahrer nur auf die Straße vor ihnen achteten, sonst auf nichts.
Schließlich erreichte er durch ein kleines Wäldchen hinter einem gepflegten Rasen die Lassiter Road.
Auf der grob geteerten Straße bog er nach links und setzte zum letzten Teilstück seines Abenteuers an. Seiner Berechnung nach hatte er höchstens noch eine oder eineinhalb Meilen zu gehen. Wenn sein Bein ihm nicht den Dienst versagte, würde er die verlassene Station in fünfzehn Minuten erreichen. Wenn nicht, dann würde er einfach sein Tempo verlangsamen — aber er würde hinkommen. Seine Uhr zeigte ein Uhr einundvierzig. Er hatte noch Zeit.
Omega würde nicht vor der Zeit kommen. Das konnte man sich nicht leisten. Es — oder sie — wußte nicht, was sie erwartete.
Tanner hinkte die Straße entlang und stellte fest, daß e sich besser — sicherer fühlte, wenn er Scanlans Pistole in der Hand hielt. Er sah ein Licht, das hinter ihm aufblitzte. Scheinwerfer, drei- oder vierhundert Meter entfernt. Er drang in das Wäldchen ein, das die Straße säumte, und legte sich flach auf den schlammigen Boden.
Der Wagen rollte langsam an ihm vorbei. Es war derselbe schwarze Wagen, der ihn an der Valley Road attackiert hatte.
Er konnte den Fahrer nicht sehen; die Straße war nicht beleuchtet, es war also recht dunkel.
Als der Wagen verschwunden war, ging Tanner zur Straße zurück. Er hatte überlegt, ob er vielleicht zwischen den Büschen weitergehen sollte, aber das ging nicht. Auf der Asphaltstraße würde er schneller vorankommen. Er ging weiter, humpelte jetzt wieder, fragte sich, ob der schwarze Wagen einem Polizisten gehörte, der augenblicklich auf 22, Orchard Drive, stationiert war. Ob der Fahrer vielleicht ein Schriftsteller namens Osterman war?
Er hatte fast eine halbe Meile zurückgelegt, als die Lichter wieder auftauchten, nur diesmal vor ihm. Er warf sich in das Gebüsch und hoffte, daß man ihn nicht gesehen hatte, entsicherte seine Pistole, während er auf dem Boden lag.
Der Wagen näherte sich jetzt mit unglaublicher Geschwindigkeit. Der Fahrer raste zurück, um irgend jemanden zu finden.
War es sein Ziel, ihn zu finden? Oder Leila Osterman?
Oder wollte er Cardone erreichen, der keinen sterbenden Vater in Philadelphia hatte. Oder Tremayne, der nicht zu dem Motel am Kennedy Airport unterwegs war.
Tanner stand auf und ging weiter. Sein Bein fühlte sich so an, als würde es ihm jeden Augenblick den Dienst versagen. Er hielt die Pistole fest in der Hand.
Die Straße beschrieb einen leichten Bogen, und dann war er da. Eine einzige Straßenlampe, die schon etwas durchhing, beleuchtete das zerfallende Stationsgebäude. Das alte Bahnhofsgebäude war mit Brettern vernagelt, und aus den Spalten in dem halbverfaulten Holz wucherte Unkraut. Kleine, häßliche Blätter wuchsen aus dem Fundament. Kein Wind, kein Regen war zu verspüren, kein Laut, nur das rhythmische Tropfen von Wasser von Tausenden von Ästen und Blättern — die letzten erschöpften Nachwirkungen des Sturms.