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Allmählich wich der Schock. Allmählich lockerte sich der Griff der Angst, und Grenouille begann sich sicherer zu fühlen. Gegen Mittag hatte er seine Kaltblütigkeit wiedergewonnen. Er legte Zeige- und Mittelfinger der linken Hand unter die Nase und atmete zwischen den Fingerrücken hindurch. Er roch die feuchte, anemonenwürzige Frühlingsluft. Von seinen Fingern roch er nichts. Er drehte die Hand um und schnupperte an ihrer Innenseite. Er spürte die Wärme der Hand, aber er roch nichts. Nun krempelte er den zerschlissenen Ärmel seines Hemdes hoch, vergrub die Nase in der Ellbogenbeuge. Er wusste, dass dies die Stelle war, wo alle Menschen nach sich selber riechen. Er jedoch roch nichts. Er roch auch nichts unter seiner Achsel, nichts an den Füßen, nichts am Geschlecht, zu dem er sich, so weit es ging, hinunterbeugte. Es war grotesk: Er, Grenouille, der jeden anderen Menschen meilenweit erschnuppern konnte, war nicht imstande, sein weniger als eine Handspanne entferntes eigenes Geschlecht zu riechen! Trotzdem geriet er nicht in Panik, sondern sagte sich, kühl überlegend, das folgende: »Es ist nicht so, dass ich nicht rieche, denn alles riecht. Es ist vielmehr so, dass ich nicht rieche, dass ich rieche, weil ich mich seit meiner Geburt tagaus tagein gerochen habe und meine Nase daher gegen meinen eigenen Geruch abgestumpft ist. Könnte ich meinen Geruch, oder wenigstens einen Teil davon, von mir trennen und nach einer gewissen Zeit der Entwöhnung zu ihm zurückkehren, so würde ich ihn – und also mich – sehr wohl riechen können.«

Er legte die Pferdedecke ab und zog seine Kleider aus der das, was von seinen Kleidern noch übriggeblieben war, die Fetzen, die Lumpen zog er aus. Sieben Jahre lang hatte er sie nicht vom Leib genommen. Sie mussten durch und durch getränkt sein von seinem Geruch. Er warf sie auf einen Haufen vor den Eingang der Höhle und entfernte sich. Dann stieg er, zum ersten Mal seit sieben Jahren, wieder auf den Gipfel des Berges hinauf. Dort stellte er sich an dieselbe Stelle, an der er damals bei seiner Ankunft gestanden war, hielt die Nase nach Westen und ließ sich den Wind um den nackten Körper pfeifen. Seine Absicht war, sich vollkommen auszulüften, sich so sehr mit Westwind – und das hieß mit dem Geruch von Meer und feuchten Wiesen – vollzupumpen, dass dieser den Geruch seines eigenen Körpers überwog und sich somit ein Duftgefälle zwischen ihm, Grenouille, und seinen Kleidern herstellen möge, welches er dann deutlich wahrzunehmen in der Lage wäre. Und um möglichst wenig Eigengeruch in die Nase zu bekommen, beugte er den Oberkörper nach vorn, machte den Hals so lang es ging gegen den Wind und streckte die Arme nach hinten. Er sah aus wie ein Schwimmer, kurz bevor er ins Wasser springt.

In dieser äußerst lächerlichen Haltung verharrte er mehrere Stunden lang, wobei sich seine lichtentwöhnte madenweiße Haut trotz der noch schwachen Sonne langustenrot färbte. Gegen Abend stieg er wieder zur Höhle hinab. Schon von weitem sah er den Kleiderhaufen liegen. Auf den letzten Metern hielt er sich die Nase zu und öffnete sie erst wieder, als er sie dicht über den Haufen gesenkt hatte. Er machte die Schnüffelprobe, wie er sie bei Baldini gelernt hatte, riss die Luft ein und ließ sie etappenweise wieder ausströmen. Um den Geruch zu fangen, bildete er mit seinen beiden Händen eine Glocke über den Kleidern, in die er wie einen Klöppel seine Nase steckte. Er stellte alles mögliche an, um seinen eigenen Geruch aus den Kleidern herauszuriechen. Aber der Geruch war nicht darin. Er war entschieden nicht darin. Tausend andre Gerüche waren darin. Der Geruch von Stein, Sand, Moos, Harz, Rabenblut – sogar der Geruch der Wurst, die er vor Jahren in der Nähe von Sully gekauft hatte, war noch deutlich wahrnehmbar. Die Kleider enthielten ein olfaktorisches Tagebuch der letzten sieben, acht Jahre. Nur seinen eigenen Geruch, den Geruch dessen, der sie in dieser Zeit ohne Unterlass getragen hatte, enthielten sie nicht.

Nun wurde ihm doch etwas bang. Die Sonne war untergegangen. Er stand nackt am Eingang des Stollens, an dessen dunklem Ende er sieben Jahre lang gelebt hatte. Der Wind blies kalt, und er fror, aber er merkte nicht, dass er fror, denn in ihm war eine Gegenkälte, nämlich Angst. Es war nicht dieselbe Angst, die er im Traum empfunden hatte, diese gräßliche Angst des Ansich-selbst-Erstickens, die es um jeden Preis abzuschütteln galt und der er hatte entfliehen können. Was er jetzt empfand, war die Angst, über sich selbst nicht Bescheid zu wissen. Sie war jener Angst entgegengesetzt. Ihr konnte er nicht entfliehen, sondern er musste ihr entgegengehen. Er musste – und wenn auch die Erkenntnis furchtbar war – ohne Zweifel wissen, ob er einen Geruch besaß oder nicht. Und zwar jetzt gleich. Sofort.

Er ging zurück in den Stollen. Nach ein paar Metern schon umgab ihn völlige Dunkelheit, doch er fand sich zurecht wie im hellsten Licht. Viele tausend Male war er den Weg gegangen, kannte jeden Tritt und jede Windung, roch jede niederhängende Felsnase und jeden kleinsten vorspringenden Stein. Den Weg zu finden war nicht schwierig. Schwierig war, gegen die Erinnerung an den klaustrophobischen Traum anzukämpfen, die wie eine Flutwelle in ihm hoch und höher schwappte, je weiter er voranschritt. Aber er war mutig. Das heißt, er bekämpfte mit der Angst, nicht zu wissen, die Angst vor dem Wissen, und es gelang ihm, weil er wusste, dass er keine Wahl hatte. Als er am Ende des Stollens angekommen war, dort wo die Geröllverschüttung anstieg, fielen beide Ängste von ihm ab. Er fühlte sich ruhig, sein Kopf war ganz klar und seine Nase geschärft wie ein Skalpell. Er hockte sich nieder, legte die Hände über die Augen und roch. An diesem Ort, in diesem weltfernen steinernen Grab, hatte er sieben Jahre lang gelegen. Wenn irgendwo auf der Welt, so musste es hier nach ihm riechen. Er atmete langsam. Er prüfte genau. Er ließ sich Zeit mit dem Urteil. Eine Viertelstunde lang blieb er hocken. Er hatte ein untrügliches Gedächtnis und wusste genau, wie es vor sieben Jahren an dieser Stelle gerochen hatte: steinig und nach feuchter, salziger Kühle und so rein, dass kein lebendes Wesen, Mensch oder Tier, den Platz jemals betreten haben konnte… Genau so aber roch es auch jetzt.

Er blieb noch eine Weile hocken, ganz ruhig, nur leise mit dem Kopfe nickend. Dann drehte er sich um und ging, zunächst gebückt, und als die Höhe des Stollens es zuließ, in aufrechter Haltung, hinaus ins Freie. Draußen zog er seine Lumpen an (die Schuhe waren ihm schon vor Jahren vermodert), legte sich die Pferdedecke über die Schultern und verließ noch in derselben Nacht den Plomb du Cantal in südlicher Richtung.

30

Er sah fürchterlich aus. Die Haare reichten ihm bis zu den Kniekehlen, der dünne Bart bis zum Nabel. Seine Nägel waren wie Vogelkrallen, und an Armen und Beinen, wo die Lumpen nicht mehr hinreichten, den Körper zu bedecken, fiel ihm die Haut in Fetzen ab.

Die ersten Menschen, denen er begegnete, Bauern auf einem Feld nahe der Stadt Pierrefort, rannten schreiend davon, als sie ihn sahen. In der Stadt selbst dagegen machte er Sensation. Die Leute liefen zu Hunderten zusammen, um ihn zu begaffen. Manche hielten ihn für einen entkommenen Galeerensträfling. Manche sagten, er sei gar kein richtiger Mensch, sondern eine Mischung aus einem Menschen und einem Bären, eine Art Waldwesen. Einer, der früher zur See gefahren war, behauptete, er sehe aus wie der Angehörige eines wilden Indianerstammes in Cayenne, welches jenseits des großen Ozeans liege. Man führte ihn dem Bürgermeister vor. Dort wies er zum Erstaunen der Versammelten seinen Gesellenbrief vor, machte seinen Mund auf und erzählte in ein wenig kollernden Worten – denn es waren die ersten Worte, die er nach siebenjähriger Pause von sich gab – , aber gut verständlich, dass er auf seiner Wanderschaft von Räubern überfallen, verschleppt und sieben Jahre lang in einer Höhle gefangengehalten worden sei. Er habe in dieser Zeit weder das Sonnenlicht noch einen Menschen gesehen, sei mittels eines von unsichtbarer Hand ins Dunkle herabgelassenen Korbes ernährt und schließlich mit einer Leiter befreit worden, ohne zu wissen, warum, und ohne seine Entführer oder Retter je gesehen zu haben. Diese Geschichte hatte er sich ausgedacht, denn sie schien ihm glaubhafter als die Wahrheit, und sie war es auch, denn dergleichen räuberische Überfälle geschahen in den Bergen der Auvergne, des Languedoc und in den Cevennen durchaus nicht selten. Jedenfalls nahm sie der Bürgermeister anstandslos zu Protokoll und erstattete über den Vorfall Bericht an den Marquis de la Taillade-Espinasse, Lehensherrn der Stadt und Mitglied des Parlaments in Toulouse.