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Er überlegte, ob er einfach durch die Toreinfahrt in das Anwesen eindringen sollte. Aber da waren unterdessen so viele Leute mit dem Abladen und dem Kontrollieren der Fässer beschäftigt, dass er sicher aufgefallen wäre. Er entschloss sich, die Straße zurückzugehen, um eine Gasse oder einen Durchlaß zu finden, der vielleicht an der Querseite des Hauses entlangführte. Nach wenigen Metern hatte er das Stadttor am Beginn der Rue Droite erreicht. Er durchschritt es, hielt sich scharf links und folgte dem Verlauf der Stadtmauer bergabwärts. Nicht weit, und er roch den Garten, erst schwach, noch mit der Luft der Felder vermischt, dann immer stärker. Schließlich wusste er, dass er ihm ganz nahe war. Der Garten grenzte an die Stadtmauer. Er war direkt neben ihm. Wenn er ein wenig zurücktrat, konnte er über die Mauer hinweg die obersten Zweige der Orangenbäume sehen.

Wieder schloss er die Augen. Die Düfte des Gartens fielen über ihn her, deutlich und klar konturiert wie die farbigen Bänder eines Regenbogens. Und der eine, der kostbare, der, auf den es ihm ankam, war darunter. Grenouille wurde es heiß vor Wonne und kalt vor Schrecken. Das Blut stieg ihm zu Kopfe wie einem ertappten Buben, und es wich zurück in die Mitte des Körpers, und es stieg wieder und wich wieder, und er konnte nichts dagegen tun. Zu plötzlich war diese Geruchsattacke gekommen. Für einen Augenblick, für einen Atemzug lang, für die Ewigkeit schien ihm, als sei die Zeit verdoppelt oder radikal verschwunden, denn er wusste nicht mehr, war jetzt jetzt und war hier hier, oder war nicht vielmehr jetzt damals und hier dort, nämlich Rue des Marais in Paris, September 1753: Der Duft, der aus dem Garten herüberwehte, war der Duft des rothaarigen Mädchens, das er damals ermordet hatte. Dass er diesen Duft in der Welt wiedergefunden hatte, trieb ihm Tränen der Glückseligkeit in die Augen – und dass es nicht wahr sein konnte, ließ ihn zu Tode erschrecken.

Ihm schwindelte, und er taumelte ein wenig und musste sich gegen die Mauer stützen und langsam an ihr herab in die Hocke gleiten lassen. Sich dort versammelnd und seinen Geist bezähmend, begann er, den fatalen Duft in kürzeren, weniger riskanten Atemzügen einzuziehen. Und er stellte fest, dass der Duft hinter der Mauer dem Duft des rothaarigen Mädchens zwar extrem ähnlich, aber nicht vollkommen gleich war. Freilich stammte er ebenfalls von einem rothaarigen Mädchen, daran war kein Zweifel möglich. Grenouille sah dieses Mädchen in seiner olfaktorischen Vorstellung wie auf einem Bilde vor sich: Es saß nicht still, sondern es sprang hin und her, es erhitzte sich und kühlte sich wieder ab, offenbar spielte es ein Spiel, bei dem man sich rasch bewegen und rasch wieder stillstehen musste – mit einer zweiten Person übrigens von völlig unsignifikantem Geruch. Es hatte blendendweiße Haut. Es hatte grünliche Augen. Es hatte Sommersprossen im Gesicht, am Hals und an den Brüsten… das heisst – Grenouille stockte für einen Moment der Atem, dann schnupperte er heftiger und versuchte, die Geruchserinnerung an das Mädchen aus der Rue des Marais zurückzudrängen – … das heißt, dieses Mädchen hatte noch gar keine Brüste im wahren Sinne des Wortes! Es hatte kaum beginnende Ansätze von Brüsten. Es hatte unendlich zart und gering duftende, von Sommersprossen umsprenkelte, sich vielleicht erst seit wenigen Tagen, vielleicht erst seit wenigen Stunden,… seit diesem Augenblick eigentlich erst, sich zu dehnen beginnende Häubchen von Brüstchen. Mit einem Wort: Das Mädchen war noch ein Kind. Aber was für ein Kind!

Grenouille stand der Schweiß auf der Stirn. Er wusste, dass Kinder nicht sonderlich rochen, ebensowenig wie die grün aufschießenden Blumen vor ihrer Blüte. Diese aber, diese fast noch geschlossene Blüte hinter der Mauer, die gerade eben erst, und noch von niemandem als ihm, Grenouille, bemerkt, die ersten duftenden Spitzen hervortrieb, duftete schon jetzt so haarsträubend himmlisch, dass, wenn sie sich erst zu ganzer Pracht entfaltet haben würde, sie ein Parfum verströmen würde, wie es die Welt noch nicht gerochen hatte. Sie riecht schon jetzt besser, dachte Grenouille, als damals das Mädchen aus der Rue des Marais – nicht so kräftig, nicht so voluminös, aber feiner, facettenreicher und zugleich natürlicher. In ein bis zwei Jahren aber würde dieser Geruch gereift sein und eine Wucht bekommen, der sich kein Mensch, weder Mann noch Frau, würde entziehen können. Und die Leute würden überwältigt sein, entwaffnet, hilflos vor dem Zauber dieses Mädchens, und sie würden nicht wissen, warum. Und weil sie dumm sind und ihre Nasen nur zum Schnaufen gebrauchen können, alles und jedes aber mit ihren Augen zu erkennen glauben, würden sie sagen, es sei, weil dieses Mädchen Schönheit besitze und Grazie und Anmut. Sie würden in ihrer Beschränktheit seine ebenmäßigen Züge rühmen, die schlanke Figur, den tadellosen Busen. Und ihre Augen, würden sie sagen, seien wie Smaragde und die Zähne wie Perlen und ihre Glieder elfenbeinglatt – und was der idiotischen Vergleiche noch mehr sind. Und sie würden sie zur Jasminkönigin küren, und sie würde gemalt werden von blöden Porträtisten, ihr Bild würde begafft werden, man würde sagen, sie sei die schönste Frau Frankreichs. Und Jünglinge werden nächtelang zu Mandolinenklängen heulend unter ihrem Fenster sitzen… dicke reiche alte Männer auf den Knien rutschend ihren Vater um ihre Hand anbetteln… und Frauen jeden Alters werden bei ihrem Anblick seufzen und im Schlaf davon träumen, nur einen Tag lang so verführerisch auszusehen wie sie. Und sie werden alle nicht wissen, dass es nicht ihr Aussehen ist, dem sie in Wahrheit verfallen sind, nicht ihre angeblich makellose äußere Schönheit, sondern einzig ihr unvergleichlicher, herrlicher Duft! Nur er würde es wissen, er Grenouille, er allein. Er wusste es ja jetzt schon.

Ach! Er wollte diesen Duft haben! Nicht auf so vergebliche, täppische Weise haben wie damals den Duft des Mädchens aus der Rue des Marais. Den hatte er ja nur in sich hineingesoffen und damit zerstört. Nein, den Duft des Mädchens hinter der Mauer wollte er sich wahrhaftig aneignen; ihn wie eine Haut von ihr abziehen und zu seinem eigenen Duft machen. Wie das geschehen sollte, wusste er noch nicht. Aber er hatte ja zwei Jahre Zeit, es zu lernen. Es konnte im Grunde nicht schwieriger sein, als den Duft einer seltenen Blume zu rauben.

Er stand auf. Andächtig fast, als verließe er etwas Heiliges oder eine Schläferin, entfernte er sich, geduckt, leise, dass niemand ihn sehe, niemand ihn höre, niemand auf seinen köstlichen Fund aufmerksam werde. So floh er an der Mauer entlang bis ans entgegengesetzte Ende der Stadt, wo sich das Mädchenparfum endlich verlor und er an der Porte des Feneants wieder Einlass fand. Im Schatten der Häuser blieb er stehen. Der stinkende Dunst der Gassen gab ihm Sicherheit und half ihm, die Leidenschaft, die ihn überfallen hatte, zu bändigen. Nach einer Viertelstunde war er wieder vollkommen ruhig geworden. Fürs erste, dachte er, würde er nicht mehr in die Nähe des Gartens hinter der Mauer gehen. Es war nicht nötig. Es erregte ihn zu sehr. Die Blume dort gedieh ohne sein Zutun, und auf welche Weise sie gedeihen würde, wusste er ohnehin. Er durfte sich nicht zur Unzeit an ihrem Duft berauschen. Er musste sich in Arbeit stürzen. Er musste seine Kenntnisse erweitern und seine handwerklichen Fähigkeiten vervollkommnen, um für die Zeit der Ernte gerüstet zu sein. Er hatte noch zwei Jahre Zeit.

36

Nicht weit von der Porte des Feneants, in der Rue de la Louve, entdeckte Grenouille ein kleines Parfumeuratelier und fragte nach Arbeit.