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Im Januar ehelichte die Witwe Arnulfi ihren ersten Gesellen Dominique Druot, der damit zum Maitre Gantier et Parfumeur avancierte. Es gab ein großes Essen für die Gildenmeister, ein bescheideneres für die Gesellen, Madame kaufte eine neue Matratze für ihr Bett, das sie nun offiziell mit Druot teilte, und holte ihre bunte Garderobe aus dem Schrank. Sonst blieb alles beim alten. Sie behielt den guten alten Namen Arnulfi bei, behielt das ungeteilte Vermögen, die finanzielle Leitung des Geschäfts und die Schlüssel zum Keller; Druot erfüllte täglich seine sexuellen Pflichten und erfrischte sich danach beim Wein; und Grenouille, obwohl nun erster und einziger Geselle, verrichtete das Gros der anfallenden Arbeit für unverändert kleinen Lohn, bescheidene Verpflegung und karge Unterkunft.
Das Jahr begann mit der gelben Flut von Kassien, mit Hyazinthen, Veilchenblüte und narkotischen Narzissen. An einem Sonntag im März – es mochte etwa ein Jahr seit seiner Ankunft in Grasse vergangen sein – machte sich Grenouille auf, nach dem Stand der Dinge im Garten hinter der Mauer am anderen Ende der Stadt zu sehen. Er war diesmal auf den Duft vorbereitet, wusste ziemlich genau, was ihn erwartete… und doch, als er sie dann erwitterte, an der Porte Neuve schon, auf halbem Wege erst zu jener Stelle an der Mauer, da klopfte sein Herz lauter, und er spürte, wie das Blut in seinen Adern prickelte vor Glück: sie war noch da, die unvergleichlich schöne Pflanze, sie hatte den Winter unbeschadet überdauert, stand im Saft, wuchs, dehnte sich, trieb prächtigste Blütenstände! Ihr Duft war, wie er es erwartet hatte, kräftiger geworden, ohne an Feinheit einzubüßen. Was noch vor einem Jahr sich zart versprenkelt und vertröpfelt hatte, war nun gleichsam legiert zu einem leicht pastosen Duftfluss, der in tausend Farben schillerte und trotzdem jede Farbe band und nicht mehr abriss. Und dieser Fluss, so stellte Grenouille selig fest, speiste sich aus stärker werdender Quelle. Ein Jahr noch, nur noch ein Jahr, nur noch zwölf Monate, dann würde diese Quelle überborden, und er könnte kommen, sie zu fassen und den wilden Ausstoß ihres Duftes einzufangen.
Er lief an der Mauer entlang bis zur bewussten Stelle, hinter der sich der Garten befand. Obwohl das Mädchen offenbar nicht im Garten, sondern im Haus war, in einer Kammer hinter geschlossenen Fenstern, wehte ihr Duft wie eine stete sanfte Brise herab. Grenouille stand ganz still. Er war nicht berauscht oder benommen wie das erste Mal, als er sie gerochen hatte. Er war vom Glücksgefühl des Liebhabers erfüllt, der seine Angebetete von fern belauscht oder beobachtet und weiß, er wird sie heimholen übers Jahr. Wahrhaftig, Grenouille, der solitäre Zeck, das Scheusal, der Unmensch Grenouille, der Liebe nie empfunden hatte und Liebe niemals inspirieren konnte, stand an jenem Märztag an der Stadtmauer von Grasse und liebte und war zutiefst beglückt von seiner Liebe.
Freilich liebte er nicht einen Menschen, nicht etwa das Mädchen im Haus dort hinter der Mauer. Er liebte den Duft. Ihn allein und nichts anderes, und ihn nur als den künftigen eigenen. Er würde ihn heimholen übers Jahr, das schwor er sich bei seinem Leben. Und nach diesem absonderlichen Gelöbnis, oder Verlöbnis, diesem sich selbst und seinem künftigen Duft gegebenen Treueversprechen, verließ er den Ort frohgemut und kehrte durch die Porte du Cours in die Stadt zurück.
Als er nachts in der Kabane lag, holte er den Duft noch einmal aus der Erinnerung herauf- er konnte der Versuchung nicht widerstehen – und tauchte in ihm unter, liebkoste ihn und ließ sich selbst von ihm liebkosen, so eng, so traumhaft nah, als besäße er ihn schon wirklich, seinen Duft, seinen eigenen Duft, und er liebte ihn an sich und sich durch ihn eine berauschte köstliche Weile lang. Er wollte dieses selbstverliebte Gefühl mit in den Schlaf hinübernehmen. Aber gerade m dem Moment, als er die Augen schloss und nur noch einen Atemzug lang Zeit gebraucht hätte, um einzuschlummern, da verließ es ihn, war plötzlich weg, und anstatt seiner stand der kalte scharfe Ziegenstallgeruch im Raum.
Grenouille schrak auf. »Was ist«, so dachte er, »wenn dieser Duft, den ich besitzen werde… was ist, wenn er zu Ende geht? Es ist nicht wie in der Erinnerung, wo alle Düfte unvergänglich sind. Der wirkliche verbraucht sich an die Welt. Er ist flüchtig. Und wenn er aufgebraucht sein wird, dann wird es die Quelle, aus der ich ihn genommen habe, nicht mehr geben. Und ich werde nackt sein wie zuvor und mir mit meinen Surrogaten weiterhelfen müssen. Nein, schlimmer wird es sein als zuvor! Denn ich werde ja inzwischen ihn gekannt und besessen haben, meinen eigenen herrlichen Duft, und ich werde ihn nicht vergessen können, denn ich vergesse nie einen Duft. Und also werde ich zeitlebens von meiner Erinnerung an ihn zehren, wie ich schon jetzt, für einen Moment, aus meiner Vorerinnerung an ihn, den ich besitzen werde, gezehrt habe… Wozu also brauche ich ihn überhaupt?«
Dieser Gedanke war Grenouille äußerst unangenehm. Es erschreckte ihn maßlos, dass er den Duft, den er noch nicht besaß, wenn er ihn besäße, unweigerlich wieder verlieren musste. Wie lange würde er vorhalten? Einige Tage? Ein paar Wochen? Vielleicht einen Monat lang, wenn er sich ganz sparsam damit parfumierte? Und dann? Er sah sich schon den letzten Tropfen aus der Flasche schütteln, den Flakon mit Weingeist spülen, damit auch nicht der kleinste Rest verlorenginge, und sah dann, roch es, wie sich sein geliebter Duft für immer und unwiederbringlich verflüchtigte. Es würde sein wie ein langsames Sterben, eine Art umgekehrten Erstickens, ein qualvolles allmähliches Hinausverdunsten seiner selbst in die gräßliche Welt.
Er fröstelte. Es überkam ihn das Verlangen, seine Pläne aufzugeben, hinaus in die Nacht zu gehen und davonzuziehen. Über die verschneiten Berge wollte er wandern, ohne Rast, hundert Meilen weit in die Auvergne, und dort in seine alte Höhle kriechen und sich zutode schlafen. Aber er tat es nicht. Er blieb sitzen und gab dem Verlangen nicht nach, obwohl es stark war. Er gab ihm nicht nach, weil es ein altes Verlangen von ihm war, davonzuziehen und sich in einer Höhle zu verkriechen. Erkannte das schon. Was er allerdings noch nicht kannte, war der Besitz eines menschlichen Duftes, so herrlich wie der Duft des Mädchens hinter der Mauer. Und wenn er auch wusste, dass er den Besitz dieses Duftes mit seinem anschließenden Verlust würde entsetzlich teuer bezahlen müssen, so schienen ihm doch Besitz und Verlust begehrenswerter als der lapidare Verzicht auf beides. Denn verzichtet hatte er Zeit seines Lebens. Besessen und verloren aber noch nie.
Allmählich wichen die Zweifel und mit ihnen das Frösteln. Er spürte, wie das warme Blut ihn wieder belebte und wie der Wille, das zu tun, was er sich vorgenommen hatte, wieder Besitz von ihm ergriff. Und zwar mächtiger als zuvor, da dieser Wille nun nicht mehr einer reinen Begierde entsprang, sondern dazu noch einem erwogenen Entschluss. Der Zeck Grenouille, vor die Wahl gestellt, in sich selbst zu vertrocknen oder sich fallenzulassen, entschied sich für das zweite, wohl wissend, dass dieser Fall sein letzter sein würde. Er legte sich aufs Lager zurück, wohlig ins Stroh, wohlig unter die Decke, und kam sich sehr heroisch vor.
Grenouille wäre aber nicht Grenouille gewesen, wenn ihn ein fatalistisch-heroisches Gefühl lange befriedigt hätte. Dazu besaß er einen zu zähen Selbstbehauptungswillen, ein zu durchtriebenes Wesen und einen zu raffinierten Geist. Gut – er hatte sich entschlossen, jenen Duft des Mädchens hinter der Mauer zu besitzen. Und wenn er ihn nach wenigen Wochen wieder verlöre und an dem Verlust stürbe, so sollte auch das gut sein. Besser aber wäre es, nicht zu sterben und den Duft trotzdem zu besitzen, oder zumindest seinen Verlust so lange als irgend möglich hinauszuzögern. Man müsste ihn haltbarer machen. Man müsste seine Flüchtigkeit bannen, ohne ihm seinen Charakter zu rauben – ein parfumistisches Problem.
Es gibt Düfte, die haften jahrzehntelang. Ein mit Moschus eingeriebener Schrank, ein mit Zimtöl getränktes Stück Leder, eine Amberknolle, ein Kästchen aus Zedernholz besitzen geruchlich fast das ewige Leben. Und andere – Limettenöl, Bergamotte, Narzissen- und Tuberosenextrakte und viele Blütendüfte verhauchen sich schon nach wenigen Stunden, wenn man sie rein und ungebunden der Luft aussetzt. Der Parfumeur begegnet diesem fatalen Umstand, indem er die allzu flüchtigen Düfte durch haftende bindet, ihnen also gleichsam Fesseln anlegt, die ihren Freiheitsdrang zügeln, wobei die Kunst darin besteht, die Fesseln so locker zu lassen, dass der gebundene Geruch seine Freiheit scheinbar behält, und sie doch so eng zu schnüren, dass er nicht fliehen kann. Grenouille war dieses Kunststück einmal in perfekter Weise beim Tuberosenöl gelungen, dessen ephemeren Duft er mit winzigen Mengen von Zibet, Vanille, Labdanum und Zypresse gefesselt und damit erst recht eigentlich zur Geltung gebracht hatte. Warum sollte etwas Ähnliches nicht auch mit dem Duft des Mädchens möglich sein? Weshalb sollte er diesen kostbarsten und fragilsten aller Düfte pur verwenden und verschwenden? Wie plump! Wie außerordentlich unraffiniert! Ließ man Diamanten ungeschliffen? Trug man Gold in Brocken um den Hals? War er, Grenouille, etwa ein primitiver Duftstoffräuber wie Druot und wie die anderen Mazeratoren, Destillierer und Blütenquetscher? Oder war er nicht vielmehr der größte Parfumeur der Welt?