Er schlug sich vor den Kopf vor Entsetzen, dass er nicht schon früher darauf gekommen war: Natürlich durfte dieser einzigartige Duft nicht roh verwendet werden. Er musste ihn fassen wie den kostbarsten Edelstein. Ein Duftdiadem musste er schmieden, an dessen erhabenster Stelle, zugleich eingebunden in andere Düfte und sie beherrschend, sein Duft strahlte. Ein Parfum würde er machen nach allen Regeln der Kunst, und der Duft des Mädchens hinter der Mauer sollte die Herznote sein.
Als Adjuvantien freilich, als Basis-, Mittel- und Kopfnote, als Spitzengeruch und als Fixateur waren nicht Moschus und Zibet, nicht Rosenöl oder Neroli geeignet, das stand fest. Für ein solches Parfum, für ein Menschenparfum, bedurfte es anderer Ingredienzen.
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Im Mai desselben Jahres fand man in einem Rosenfeld, halben Wegs zwischen Grasse und dem östlich gelegenen Flecken Opio, die nackte Leiche eines fünfzehnjährigen Mädchens. Es war mit einem Knüppelhieb auf den Hinterkopf erschlagen worden. Der Bauer, der es entdeckt hatte, war von dem grausigen Fund so verwirrt, dass er sich fast selbst in Verdacht brachte, indem er dem Polizeilieutenant mit zitternder Stimme meldete, er habe so etwas Schönes noch nie gesehen – wo er doch eigentlich hatte sagen wollen, er habe so etwas Entsetzliches noch nie gesehen.
Tatsächlich war das Mädchen von exquisiter Schönheit. Es gehörte jenem schwerblütigen Typ von Frauen an, die wie aus dunklem Honig sind, glatt und süß und ungeheuer klebrig; die mit einer zähflüssigen Geste, einem Haarwurf, einem einzigen langsamen Peitschenschwung ihres Blickes den Raum beherrschen und dabei ruhig wie im Zentrum eines Wirbelsturmes stehen, der eigenen Gravitationskraft scheinbar unbewusst, mit der sie Sehnsüchte und Seelen von Männern wie von Frauen unwiderstehlich an sich reißen. Und sie war jung, blutjung, der Reiz des Typus war noch nicht ins Sämige verflossen. Noch waren ihre schweren Glieder glatt und fest, die Brüste wie aus dem Ei gepellt, und ihr flächiges Gesicht, vom schwarzen starken Haar umflogen, besaß noch zarteste Konturen und geheimste Stellen. Das Haar selbst freilich war weg. Der Mörder hatte es ihr abgeschnitten und mitgenommen, ebenso wie die Kleider.
Man verdächtigte die Zigeuner. Den Zigeunern war alles zuzutrauen. Zigeuner woben bekanntlich Teppiche aus alten Kleidern und stopften Menschenhaar in ihre Kissen und fertigten aus Haut und Zähnen von Gehenkten kleine Puppen. Für ein so perverses Verbrechen kamen nur Zigeuner in Frage. Es waren aber zu der Zeit keine Zigeuner da, weit und breit nicht, das letzte Mal hatten Zigeuner die Gegend im Dezember durchzogen.
In Ermangelung von Zigeunern verdächtigte man daraufhin italienische Wanderarbeiter. Italiener waren aber auch keine da, für sie war es zu früh im Jahr, sie würden erst im Juni zur Jasminernte ins Land kommen, sie konnten's also nicht gewesen sein. Schließlich gerieten die Perückenmacher in Verdacht, bei denen man nach dem Haar des ermordeten Mädchens fahndete. Vergeblich. Dann sollten es die Juden gewesen sein, dann die angeblich geilen Mönche des Benediktinerklosters – die freilich alle schon weit über siebzig waren – , dann die Zisterzienser, dann die Freimaurer, dann die Geisteskranken aus der Charité, dann die Köhler, dann die Bettler und zu guter Letzt der sittenlose Adel, insbesondere der Marquis von Cabris, denn der war schon zum dritten Mal verheiratet, veranstaltete, wie es hieß, in seinen Kellern orgiastische Messen und trank dabei Jungfrauenblut, um seine Potenz zu steigern. Konkretes ließ sich freilich nicht beweisen. Niemand hatte den Mord beobachtet, Kleider und Haare der Toten wurden nicht gefunden. Nach einigen Wochen stellte der Polizeilieutenant seine Nachforschungen ein.
Mitte Juni kamen die Italiener, viele mit ihren Familien, um sich als Pflücker zu verdingen. Die Bauern beschäftigten sie zwar, verboten aber, eingedenk des Mordes, ihren Frauen und Töchtern den Umgang mit ihnen. Sicher war sicher. Denn obwohl die Wanderarbeiter für den geschehenen Mord tatsächlich nicht verantwortlich waren, so hätten sie doch prinzipiell dafür verantwortlich sein können, und deshalb war es besser, vor ihnen auf der Hut zu sein.
Nicht lange nach Beginn der Jasminernte geschahen zwei weitere Morde. Wieder waren die Opfer bildschöne Mädchen, wieder gehörten sie jenem schwerblütigen schwarzhaarigen Typus an, wieder fand man sie nackt und geschoren und mit einer stumpfen Wunde am Hinterkopf in den Blumenfeldern liegen. Wieder fehlte vom Täter jede Spur. Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer, und es drohten schon Feindseligkeiten gegen das zugezogene Volk auszubrechen, als bekannt wurde, dass beide Opfer Italienerinnen waren, Töchter eines Genueser Taglöhners.
Nun legte sich die Furcht über das Land. Die Leute wussten nicht mehr, auf wen sie ihre ohnmächtige Wut richten sollten. Wohl gab es noch welche, die die Irren oder den obskuren Marquis verdächtigten, aber so recht wollte niemand daran glauben, denn jene standen Tag und Nacht unter Aufsicht, und dieser war schon vor langer Zeit nach Paris abgereist. Also rückte man näher zusammen. Die Bauern öffneten den Zugewanderten, die bis dahin auf freiem Feld gelagert hatten, ihre Scheunen. Die Städter richteten in jedem Viertel einen nächtlichen Patrouillendienst ein. Der Polizeilieutenant verstärkte die Wachen an den Toren. Doch alle Vorkehrungen nützten nichts. Wenige Tage nach dem Doppelmord fand man wieder eine Mädchenleiche, ebenso zugerichtet wie die vorigen. Diesmal handelte es sich um eine sardische Wäscherin aus dem bischöflichen Palais, die nahe dem großen Wasserbecken an der Fontaine de la Foux, also direkt vor den Toren der Stadt, erschlagen worden war. Und obwohl die Konsuln, von der erregten Bürgerschaft gedrängt, weitere Maßnahmen ergriffen – schärfste Kontrollen an den Toren, Verstärkung der Nachtwachen, Ausgangsverbot für alle weiblichen Personen nach Einbruch der Dunkelheit – , verging in diesem Sommer keine Woche mehr, in der nicht die Leiche eines jungen Mädchens gefunden wurde. Und immer waren es solche, die gerade erst begonnen hatten, Frauen zu sein, und immer waren es die schönsten und meist jener dunkle, haftende Typus. – Obwohl der Mörder bald auch nicht mehr den in der einheimischen Bevölkerung vorherrschenden weichen, weißhäutigen und etwas beleibteren Mädchenschlag verschmähte. Sogar brünette, sogar dunkelblonde – sofern sie nicht zu mager waren – fielen ihm neuerdings zum Opfer. Er spürte sie überall auf, nicht mehr nur im Umland von Grasse, sondern mitten in der Stadt, ja sogar in den Häusern. Die Tochter eines Tischlers wurde in ihrer Kammer im fünften Stock erschlagen aufgefunden, und niemand im Haus hatte das geringste Geräusch gehört, und keiner der Hunde, die sonst jeden Fremden witterten und verbellten, hatte angeschlagen. Der Mörder schien unfassbar, körperlos, wie ein Geist zu sein.