Die Menschen empörten sich und beschimpften die Obrigkeit. Das kleinste Gerücht führte zu Zusammenrottungen. Ein fahrender Händler, der Liebespulver und andere Quacksalbereien verkaufte, wurde fast massakriert, denn es hieß, seine Mittelchen enthielten gemahlenes Mädchenhaar. Auf das Hotel de Cabris und auf das Hospiz der Charité wurden Brandanschläge verübt. Der Tuchhändler Alexandre Misnard erschoss seinen eigenen Hausdiener bei dessen nächtlicher Heimkehr, weil er ihn für den berüchtigten Mädchenmörder hielt. Wer es sich leisten konnte, schickte seine heranwachsenden Töchter zu entfernten Verwandten oder in Pensionate nach Nizza, Aix oder Marseille . Der Polizeilieutenant wurde auf Drängen des Stadtrats seines Postens enthoben. Sein Nachfolger ließ die Leichen der geschorenen Schönheiten von einem Ärztekollegium auf ihren virginalen Zustand untersuchen. Es fand sich, dass sie alle unberührt geblieben waren.
Sonderbarerweise vermehrte diese Erkenntnis das Entsetzen, anstatt es zu mindern, denn insgeheim hatte jedermann angenommen, dass die Mädchen missbraucht worden seien. Man hätte dann wenigstens ein Motiv des Mörders gekannt. Nun wusste man nichts mehr, nun war man völlig ratlos. Und wer an Gott glaubte, rettete sich ins Gebet, es möge doch wenigstens das eigene Haus von der teuflischen Heimsuchung verschont bleiben.
Der Stadtrat, ein Gremium der dreißig reichsten und angesehensten Großbürger und Adligen von Grasse, in ihrer Mehrzahl aufgeklärte und antiklerikale Herren, die den Bischof bisher einen guten Mann hatten sein lassen und aus den Klöstern und Abteien am liebsten Warenlager oder Fabriken gemacht hätten – die stolzen, mächtigen Herren des Stadtrats ließen sich in ihrer Not herbei, Monseigneur den Bischof in einer unterwürfig abgefassten Petition zu bitten, er möge das mädchenmordende Monster, dessen die weltliche Macht nicht habhaft werden könne, verfluchen und mit Bann belegen, ebenso, wie es sein erlauchter Vorgänger im Jahre 1708 mit den entsetzlichen Heuschrecken gemacht habe, die damals das Land bedrohten. Und in der Tat wurde Ende September der Grasser Mädchenmörder, der bis dahin nicht weniger als vierundzwanzig der schönsten Jungfrauen aus allen Schichten des Volkes hinweggerafft hatte, per schriftlichem Anschlag sowie mündlich von sämtlichen Kanzeln der Stadt, darunter der Kanzel von Notre-Dame-du-Puy, durch den Bischof persönlich in feierlichen Bann und Fluch getan.
Der Erfolg war durchschlagend. Die Morde hörten auf, von einem Tag zum anderen. Oktober und November vergingen ohne Leiche. Anfang Dezember kamen Berichte aus Grenoble, dass dort neuerdings ein Mädchenmörder umgehe, der seine Opfer erdrossle und ihnen die Kleider in Fetzen vom Leibe und die Haare in Büscheln vom Kopfe reiße. Und obwohl diese grobschlächtigen Verbrechen keineswegs in Einklang mit den sauber ausgeführten Grasser Morden standen, war doch alle Welt davon überzeugt, es handle sich um ein und denselben Täter. Die Grasser schlugen drei Kreuze vor Erleichterung, dass die Bestie nicht mehr bei ihnen, sondern im sieben Tagereisen entfernten Grenoble wütete. Sie organisierten einen Fackelzug zu Ehren des Bischofs und hielten am 24. Dezember einen großen Dankgottesdienst ab. Zum 1. Januar 1766 wurden die verstärkten Sicherheitsvorkehrungen gelockert und die nächtliche Ausgangssperre für Frauen aufgehoben. Mit unglaublicher Schnelligkeit kehrte die Normalität ins öffentliche und private Leben zurück. Die Angst war wie weggeblasen, niemand redete mehr von dem Grauen, das noch vor wenigen Monaten Stadt und Umland beherrscht hatte. Nicht einmal in den betroffenen Familien sprach man noch davon. Es war, als habe der bischöfliche Fluch nicht nur den Mörder, sondern auch jede Erinnerung an ihn verbannt. Und den Menschen war es recht so.
Nur wer eine Tochter hatte, die gerade in das wundersame Alter kam, der ließ sie immer noch nicht gerne ohne Aufsicht, dem wurde bange, wenn es dämmerte, und morgens, wenn er sie gesund und munter vorfand, war er glücklich – freilich ohne sich den Grund dafür recht eingestehen zu wollen.
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Einen Mann aber gab es in Grasse, der traute dem Frieden nicht. Er hieß Antoine Richis, bekleidete das Amt des Zweiten Konsuls und wohnte in einem stattlichen Anwesen am Beginn der Rue Droite.
Richis war Witwer und hatte eine Tochter namens Laure. Obwohl keine vierzig Jahre alt und von ungebrochner Vitalität, gedachte er eine neuerliche Verehelichung noch einige Zeit hinauszuschieben. Erst wollte er seine Tochter an den Mann bringen. Und zwar nicht an den ersten besten, sondern an einen von Stande. Es gab da einen Baron von Bouyon, Besitzer eines Sohnes und eines Lehens bei Vence, von guter Reputation und lausiger Finanzlage, mit dem Richis schon Abmachungen über eine künftige Heirat der Kinder getroffen hatte. Wenn Laure dann unter der Haube wäre, wollte er selbst seine freierlichen Fühler in Richtung der hochangesehenen Häuser Dree, Maubert oder Fontmichel ausstrecken – nicht weil er eitel war und auf Teufel komm raus ein adeliges Bettgemahl besitzen musste, sondern weil er eine Dynastie gründen und seine Nachkommenschaft auf ein Geleise setzen wollte, welches zu höchstem gesellschaftlichem Ansehen und politischem Einfluss führte. Dazu brauchte er noch mindestens zwei Söhne, deren einer sein Geschäft übernahm, während der andere via juristische Laufbahn und das Parlament in Aix selbst in den Adel aufrückte. Solche Ambitionen konnte er jedoch als Mann seines Standes nur dann mit Aussicht auf Erfolg hegen, wenn er seine Person und seine Familie aufs engste mit der provenzalischen Nobilität verband.
Was ihn überhaupt zu derartig hochfliegenden Plänen berechtigte, war sein sagenhafter Reichtum. Antoine Richis war der mit Abstand vermögendste Bürger weit und breit. Er besaß Latifundien nicht nur im Grasser Raum, wo er Orangen, Öl, Weizen und Hanf anbauen ließ, sondern auch bei Vence und gegen Antibes zu, wo er verpachtet hatte. Er besaß Häuser in Aix, Häuser auf dem Lande, Anteile an Schiffen, die nach Indien fuhren, ein ständiges Kontor in Genua und das größte Handelslager für Duftstoffe, Spezereien, Öle und Leder Frankreichs.
Das Kostbarste jedoch, was Richis besaß, war seine Tochter. Sie war sein einziges Kind, gerade sechzehn Jahre alt, mit dunkelroten Haaren und grünen Augen. Sie hatte ein so entzückendes Gesicht, dass Besucher jeden Alters und Geschlechts augenblicks erstarrten und den Blick nicht mehr von ihr nehmen konnten, ihr Gesicht geradezu leckten mit den Augen, als leckten sie Eis mit der Zunge, und dabei den für solch leckende Beschäftigung typischen Ausdruck von dümmlicher Hingegebenheit annahmen. Selbst Richis, wenn er die eigne Tochter ansah, ertappte sich dabei, dass er für unbestimmte Zeit, für eine Viertelstunde, für eine halbe Stunde vielleicht, die Welt und damit seine Geschäfte vergaß – was ihm sonst nicht einmal im Schlaf passierte – , sich vollkommen auflöste in des herrlichen Mädchens Betrachtung und hinterher nicht mehr zu sagen wusste, was er eigentlich getan hatte. Und neuerdings – er nahm es mit Unbehagen wahr – , abends beim Zubettbringen oder manchmal morgens, wenn er ging, um sie zu wecken, und sie lag noch schlafend, wie von Gotteshänden hingelegt, und durch den Schleier ihres Nachtgewands drückten sich die Formen ihrer Hüften und ihrer Brüste ab, und aus dem Geviert von Busen, Achselschwung, Ellenbogen und glattem Unterarm, in das sie ihr Gesicht gelegt hatte, stieg ihr ausgestoßner Atem ruhig und heiß… – da ballte es sich ihm elend im Magen, und die Kehle wurde ihm eng, und er schluckte, und, weiß Gott! er verfluchte sich, dass er der Vater dieser Frau war und nicht ein Fremder, nicht irgendein Mann, vor dem sie so läge wie jetzt vor ihm, und der sich ohne Bedenken an sie, auf sie, in sie legen könnte mit all seiner Begehrlichkeit. Und der Schweiß brach ihm aus, und seine Glieder zitterten, indes er diese grauenvolle Lust in sich erwürgte und sich hinabbeugte zu ihr, um sie mit keuschem väterlichem Kuss zu wecken.