Nun war ihm wohler. Nachdem es ihm gelungen war, seine nächtlichen Überlegungen betreffs Kampf mit dem Dämon auf die Ebene einer geschäftlichen Auseinandersetzung herabzudrücken, spürte er, wie frischer Mut, ja Übermut ihn erfasste. Verflogen war der letzte Rest von Angst, verschwunden das Gefühl von Verzagtheit und grämlicher Sorge, das ihn wie einen senilen Tattergreis gequält hatte, weggeblasen der Nebel von düsteren Ahnungen, in dem er seit Wochen herumtappte. Er befand sich auf vertrautem Terrain und fühlte sich jeder Herausforderung gewachsen.
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Erleichtert, vergnügt fast, sprang er aus dem Bett, zog am Klingelband und befahl seinem schlaftrunken hereintaumelnden Diener, Kleider und Proviant zu packen, da er gedächte, bei Tagesanbruch in Begleitung seiner Tochter nach Grenoble zu reisen. Dann zog er sich an und scheuchte das übrige Personal aus den Betten.
Mitten in der Nacht erwachte das Haus in der Rue Droite zu emsigem Leben. In der Küche flammten die Feuer auf, durch die Gänge huschten die aufgeregten Mägde, treppauf treppab eilte der Diener, in den Kellergewölben klapperten die Schlüssel des Lagerverwalters, im Hof leuchteten Fackeln, Knechte liefen um Pferde, andere zerrten die Maultiere aus den Ställen, es wurde gezäumt, gesattelt, gerannt und geladen – man hätte glauben können, die austrosardischen Horden seien plündernd und sengend im Anmarsch wie anno 1746 und der Hausherr rüste in panischer Eile zur Flucht. Doch keineswegs! Der Hausherr saß souverän wie ein Marschall von Frankreich am Schreibtisch seines Kontors, trank Milchkaffee und erließ seine Anweisungen an die ständig hereinstürzenden Domestiken. Nebenher schrieb er Briefe an den Bürgermeister und Ersten Konsul, an seinen Notar, an seinen Anwalt, an seinen Bankier in Marseille, an den Baron de Bouyon und an diverse Geschäftspartner.
Gegen sechs Uhr früh hatte er die Korrespondenz erledigt und alle zu seinen Plänen notwendigen Verfügungen getroffen. Er steckte zwei kleine Reisepistolen zu sich, schnallte sich seinen Geldgürtel um und sperrte den Schreibtisch zu. Dann ging er seine Tochter wecken.
Um acht setzte sich die kleine Karawane in Bewegung. Richis ritt voran, er war prächtig anzusehen in einem weinroten, goldbetressten Rock, schwarzer Redingote und schwarzem Hut mit kessem Federbusch. Ihm folgte seine Tochter, bescheidener gekleidet, aber so strahlend schön, dass das Volk auf der Straße und an den Fenstern nur Augen für sie hatte, dass andächtige Ahs und Ohs durch die Menge gingen und die Männer ihren Hut zogen – scheinbar vor dem zweiten Konsul, in Wahrheit aber vor ihr, der königlichen Frau. Dann kam, fast unbeachtet, die Zofe, dann Richis' Diener mit zwei Packpferden – die Verwendung eines Wagens verbot sich wegen des berüchtigt schlechten Zustands der Grenobler Route – , und den Abschluss des Zuges bildeten ein Dutzend mit allen möglichen Waren beladene Maultiere unter Aufsicht zweier Knechte. An der Porte du Cours präsentierten die Wachen das Gewehr und ließen es erst wieder sinken, als das letzte Maultier vorübergetippelt war. Kinder liefen hinterher, noch eine ganze Weile lang, winkten dem Tross nach, der sich langsam auf dem steilen, gewundenen Weg bergwärts entfernte.
Auf die Menschen machte der Auszug des Antoine Richis mit seiner Tochter einen seltsam tiefen Eindruck. Ihnen war, als hätten sie einem archaischen Opfergang beigewohnt. Es hatte sich herumgesprochen, dass Richis nach Grenoble reiste, in jene Stadt also, wo neuerdings das mädchenmordende Monster hauste. Die Leute wussten nicht, was sie davon halten sollten. War es sträflicher Leichtsinn, was Richis tat, oder bewundernswerter Mut? War es eine Herausforderung oder eine Besänftigung der Götter? Sie ahnten nur sehr undeutlich, dass sie das schöne Mädchen mit den roten Haaren soeben zum letzten Mal gesehen hatten. Sie ahnten, dass Laure Richis verloren war.
Diese Ahnung sollte sich als richtig erweisen, obwohl sie auf völlig falschen Voraussetzungen beruhte. Richis zog nämlich keineswegs nach Grenoble. Der pompöse Auszug war nichts als eine Finte gewesen. Anderthalb Meilen nordwestlich von Grasse, in der Nähe des Dorfes Saint-Vallier, ließ er anhalten. Er händigte seinem Diener Vollmachten und Begleitschreiben aus und befahl ihm, den Maultiertreck allein mit den Knechten nach Grenoble zu bringen.
Er selbst wandte sich mit Laure und der Zofe in Richtung Cabris, wo er eine Mittagspause einlegte, und ritt dann quer durch das Gebirge des Tanneron nach Süden. Der Weg war äußerst beschwerlich, aber er gestattete es, Grasse und das Grasser Becken in einem weiten westlichen Bogen zu umgehen und bis zum Abend unerkannt die Küste zu erreichen… Am folgenden Tag – so Richis' Plan – wollte er sich mit Laure nach den Lerinischen Inseln übersetzen lassen, auf deren kleinerer sich das wohlbefestigte Kloster Saint-Honorat befand. Es wurde von einem Häuflein greiser, aber noch durchaus wehrfähiger Mönche bewirtschaftet, mit denen Richis gut bekannt war, denn er kaufte und vertrieb schon seit Jahren die gesamte klösterliche Produktion an Eukalyptuslikör, Pinienkernen und Zypressenöl. Und eben dort, im Kloster Saint-Honorat, dem neben dem Zuchthaus von Chateau d'If und dem Staatsgefängnis der Ile Sainte-Mar-guerite wohl sichersten Ort der Provence, gedachte er seine Tochter fürs erste unterzubringen. Er selbst würde unverzüglich wieder aufs Festland zurückkehren, Grasse diesmal via Antibes und Cagnes östlich umgehen, um noch am Abend desselben Tages in Vence einzutreffen. Dorthin hatte er bereits seinen Notar bestellt zwecks einer zu treffenden Vereinbarung mit dem Baron de Bouyon über die Verehelichung ihrer Kinder Laure und Alphonse. Er wollte Bouyon ein Angebot machen, das dieser nicht würde ablehnen können: Übernahme von Schulden in Höhe von 40000 Livre, Mitgift bestehend aus einer Summe in gleicher Höhe sowie diversen Ländereien und einer Ölmühle bei Maganosc, eine jährliche Rente von 3000 Livre für das junge Paar. Einzige Bedingung Richis' war, dass die Ehe innerhalb von zehn Tagen eingegangen und am Hochzeitstag vollzogen würde, und dass das Paar anschließend Wohnung in Vence nahm.
Richis wusste, dass er durch ein so eiliges Vorgehen den Preis für die Verbindung seines Hauses mit dem Haus derer von Bouyon ganz unverhältnismäßig in die Höhe trieb. Bei längerem Zuwarten hätte er sie billiger bekommen. Gebettelt hätte der Baron darum, die Tochter des bürgerlichen Großhändlers durch seinen Sohn standesmäßig erhöhen zu dürfen, denn der Ruhm von Laures Schönheit würde ja noch wachsen, ebenso wie Richis' Reichtum und wie Bouyons finanzielle Misere. Aber sei's drum! Nicht der Baron war bei diesem Handel der Gegner, sondern der unbekannte Mörder war es. Ihm galt es das Geschäft zu versalzen. Eine verheiratete Frau, defloriert und womöglich schon geschwängert, passte nicht mehr in seine exklusive Galerie. Der letzte Mosaikstein wäre blind geworden, Laure hätte für den Mörder jeden Wert verloren, sein Werk wäre gescheitert. Und diese Niederlage sollte er zu spüren bekommen! Richis wollte die Hochzeit in Grasse abhalten, mit großem Pomp und in aller Öffentlichkeit. Und wenn er seinen Gegner auch nicht kannte und niemals kennen würde, so sollte es ihm doch ein Genuss sein, zu wissen, dass dieser dem Ereignis beiwohnte und mit eignen Augen zusehen musste, wie ihm das Begehrteste vor der Nase weggeschnappt wurde.