Der Plan war fein ausgedacht. Und wieder müssen wir Richis' Gespür bewundern, mit dem er der Wahrheit nahekam. Denn in der Tat hätte die Heimführung der Laure Richis durch den Sohn des Baron de Bouyon für den Grasser Mädchenmörder eine vernichtende Niederlage bedeutet. Aber noch war der Plan nicht verwirklicht. Noch hatte Richis seine Tochter nicht unter die rettende Haube gebracht. Noch hatte er sie nicht in das sichere Kloster von Saint-Honorat übergesetzt. Noch schlugen sich die drei Reiter durch das unwirtliche Gebirge des Tanneron. Manchmal waren die Wege so schlecht, dass man von den Pferden absitzen musste. Es ging alles sehr langsam. Gegen Abend hofften sie das Meer bei Napoule zu erreichen, einem kleinen Ort westlich von Cannes.
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Zu dem Zeitpunkt, da Laure Richis mit ihrem Vater Grasse verließ, befand sich Grenouille am andern Ende der Stadt im Arnulfischen Atelier und mazerierte Jonquillen. Er war allein, und er war guter Dinge. Seine Zeit in Grasse neigte sich dem Ende zu. Der Tag des Triumphes stand bevor. Draußen in der Kabane lagen in einem wattegepolsterten Kästchen vierundzwanzig winzige Flakons mit der zu Tropfen geronnenen Aura von vierundzwanzig Jungfrauen – kostbarste Essenzen, die Grenouille im vergangenen Jahr durch kalte Fettenfleurage der Körper, Digerieren von Haaren und Kleidern, Lavage und Destillation gewonnen hatte. Und die fünfundzwanzigste, die köstlichste und wichtigste, wollte er sich heute holen. Er hatte schon ein Tiegelchen mit mehrfach gereinigtem Fett, ein Tuch von feinstem Leinen und einen Ballon hochrektifizierten Alkohols für diesen letzten Fischzug vorbereitet. Das Terrain war aufs genaueste sondiert. Es herrschte Neumond.
Er wusste, dass ein Einbruchsversuch in das gut gesicherte Anwesen an der Rue Droite sinnlos war. Deshalb wollte er sich schon bei Anbruch der Dämmerung, ehe noch die Tore geschlossen wurden, einschleichen und im Schutz der eigenen Geruchlosigkeit, die ihn wie eine Tarnkappe der Wahrnehmung von Mensch und Tier entzog, in irgendeinem Winkel des Hauses verbergen. Später dann, wenn alles schlief, würde er, vom Kompass seiner Nase durch die Dunkelheit geführt, zur Kammer seines Schatzes hinaufsteigen. Er würde ihn an Ort und Stelle im fettgetränkten Tuch verarbeiten. Nur Haar und Kleider würde er wie gewöhnlich mitnehmen, da diese Teile direkt in Weingeist ausgewaschen werden konnten, was sich bequemer in der Werkstatt machen ließ. Für die Endverarbeitung der Pomade und das Abdestillieren zu Konzentrat veranschlagte er eine weitere Nacht. Und wenn alles gutging – und er hatte keinen Grund, daran zu zweifeln, dass alles gutgehen würde – , dann war er übermorgen im Besitz sämtlicher Essenzen für das beste Parfum der Welt, und er würde Grasse verlassen als der bestriechende Mensch auf Erden.
Gegen Mittag war er mit seinen Jonquillen fertig. Er löschte das Feuer, deckte den Fettkessel zu und ging vor die Werkstatt, um sich abzukühlen. Der Wind kam von Westen.
Schon mit dem ersten Atemzug merkte er, dass etwas nicht stimmte. Die Atmosphäre war nicht in Ordnung. Im Duftkleid der Stadt, diesem vieltausendfädig gewebten Schleier, fehlte der goldene Faden. Während der letzten Wochen war dieser duftende Faden so kräftig geworden, dass Grenouille ihn sogar noch jenseits der Stadt bei seiner Kabane deutlich wahrgenommen hatte. Jetzt war er weg, verschwunden, durch intensivstes Schnuppern nicht mehr aufzuspüren. Grenouille war wie gelähmt vor Schreck.
Sie ist tot, dachte er. Dann, noch entsetzlicher: Es ist mir ein anderer zuvorgekommen. Ein anderer hat meine Blume abgerupft und ihren Duft an sich gebracht! Einen Schrei brachte er nicht heraus, dazu war seine Erschütterung zu groß, aber zu Tränen reichte es, die in seinen Augenwinkeln schwollen und plötzlich beiderseits der Nase herabstürzten.
Da kam Druot aus den >Quatre Dauphins< zum Mittagessen nach Hause und erzählte en passant, heute früh sei der Zweite Konsul mit zwölf Maultieren und einer Tochter nach Grenoble gezogen. Grenouille schluckte die Tränen hinunter und rannte davon, quer durch die Stadt zur Porte du Cours. Auf dem Platz vor dem Tor hielt er an und schnupperte. Und im reinen, von den Stadtgerüchen unberührten Westwind fand er tatsächlich seinen goldenen Faden wieder, dünn und schwach zwar, aber dennoch unverkennbar. Allerdings wehte der geliebte Duft nicht von Nordwesten her, wohin die Straße nach Grenoble führte, sondern eher aus Richtung Cabris – wo nicht gar aus Südwesten.
Grenouille fragte die Wache, welche Straße der Zweite Konsul genommen habe. Der Posten wies nach Norden. Nicht die Straße nach Cabris? Oder die andere, die südlich nach Auribeau und La Napoule führte? – Bestimmt nicht, sagte der Posten, er habe es mit eigenen Augen gesehen.
Grenouille rannte zurück durch die Stadt zu seiner Kabane, packte Leintuch, Pomadentopf, Spatel, Schere und eine kleine glatte Keule aus Olivenholz in seinen Reisesack und machte sich unverzüglich auf den Weg – nicht auf den Weg nach Grenoble, sondern auf den Weg, den ihm seine Nase wies: nach Süden.
Dieser Weg, der direkte Weg nach Napoule, führte an den Ausläufern des Tanneron entlang durch die Flusssenken von Frayere und Siagne. Er war bequem zu gehen. Grenouille kam rasch voran. Als zu seiner Rechten Auribeau auftauchte, oben an den Bergkuppen hängend, roch er, dass er die Flüchtenden fast eingeholt hatte. Wenig später war er auf gleicher Höhe mit ihnen. Er roch sie jetzt einzeln, er roch sogar den Dunst ihrer Pferde. Sie konnten höchstens eine halbe Meile westlich sein, irgendwo in den Wäldern des Tanneron. Sie hielten nach Süden, aufs Meer zu. Genau wie er.
Gegen fünf Uhr nachmittag erreichte Grenouille La Napoule. Er ging in das Gasthaus, aß und bat um ein billiges Lager. Er sei ein Gerbergeselle aus Nizza, sagte er, auf dem Weg nach Marseille . Er könne im Stall nächtigen, hieß es. Dort legte er sich in eine Ecke und ruhte aus. Er roch, dass die drei Reiter sich näherten. Er brauchte nur noch zu warten.
Zwei Stunden später – es dämmerte schon stark kamen sie an. Um ihr Inkognito zu wahren, hatten sie die Kleider gewechselt. Die beiden Frauen trugen nun dunkle Gewänder und Schleier, Richis einen schwarzen Rock. Er gab sich als Edelmann aus, kommend von Castellane; morgen wolle er auf die Lerinischen Inseln übersetzen, der Wirt solle für ein Boot sorgen, das bei Sonnenaufgang bereitstünde. Ob außer ihm und seinen Leuten noch andere Gäste im Haus seien? Nein, sagte der Wirt, nur ein Gerbergeselle aus Nizza, der nächtige im Stall.
Richis schickte die Frauen auf die Zimmer. Er selbst ging in den Stall, um noch etwas aus den Satteltaschen zu holen, wie er sagte. Zunächst konnte er den Gerbergesellen nicht finden, er musste sich vom Rossknecht eine Laterne geben lassen. Dann sah er ihn, in einem Winkel auf Stroh und einer alten Decke liegend, den Kopf gegen seinen Reisesack gelehnt, tief schlafend. Er sah so vollkommen unscheinbar aus, dass Richis für einen Moment den Eindruck hatte, er sei gar nicht vorhanden, sondern nur eine von den schwankenden Schatten der Laternenkerze hingeworfene Schimäre. Jedenfalls stand für Richis augenblicklich fest, dass von diesem geradezu rührend harmlosen Wesen nicht die geringste Gefahr zu befürchten war, und er entfernte sich leise, um seinen Schlaf nicht zu stören, und kehrte ins Haus zurück.
Das Abendessen nahm er gemeinsam mit seiner Tochter auf dem Zimmer ein. Er hatte sie über Zweck und Ziel der seltsamen Reise nicht aufgeklärt, und er tat es auch jetzt nicht, obwohl sie ihn darum bat. Morgen werde er sie einweihen, sagte er, und sie könne sich darauf verlassen, dass alles, was er plane und tue, zu ihrem Besten und zukünftigen Glück ausschlagen werde.
Nach dem Essen spielten sie einige Partien L'hombre, die er alle verlor, weil er statt in seine Karten immerfort in ihr Gesicht schaute, um sich an ihrer Schönheit zu ergötzen. Gegen neun Uhr brachte er sie in ihr Zimmer, das dem seinen gegenüberlag, küsste sie zur Nacht und versperrte die Türe von außen. Dann ging er selbst zu Bett.