Das Viertel zwischen Saint-Eustache und dem Hotel de Ville hatte er bald so genau durchrochen, dass er sich darin bei stockfinsterer Nacht zurechtfand. Und so dehnte er sein Jagdgebiet aus, zunächst nach Westen hin zum Faubourg Saint-Honore, dann die Rue Saint-Antoine hinauf bis zur Bastille, und schließlich sogar auf die andere Seite des Flusses hinüber in das Sorbonneviertel und in den Faubourg Saint-Germain, wo die reichen Leute wohnten. Durch die Eisengitter der Toreinfahrten roch es nach Kutschenleder und nach dem Puder in den Perücken der Pagen, und über die hohen Mauern hinweg strich aus den Gärten der Duft des Ginsters und der Rosen und der frisch geschnittenen Liguster. Hier war es auch, dass Grenouille zum ersten Mal Parfums im eigentlichen Sinn des Wortes roch: einfache Lavendel- oder Rosenwässer, mit denen bei festlichen Anlässen die Springbrunnen der Gärten gespeist wurden, aber auch komplexere, kostbarere Düfte von Moschustinktur gemischt mit dem Öl von Neroli und Tuberose, Joncquille, Jasmin oder Zimt, die abends wie ein schweres Band hinter den Equipagen herwehten. Er registrierte diese Düfte, wie er profane Gerüche registrierte, mit Neugier, aber ohne besondere Bewunderung. Zwar merkte er, dass es die Absicht der Parfums war, berauschend und anziehend zu wirken, und er erkannte die Güte der einzelnen Essenzen, aus denen sie bestanden. Aber als ganzes erschienen sie ihm doch eher grob und plump, mehr zusammengepanscht als komponiert, und er wusste, dass er ganz andere Wohlgerüche würde herstellen können, wenn er nur über die gleichen Grundstoffe verfügte.
Viele dieser Grundstoffe kannte er schon von den Blumen- und Gewürzständen des Marktes her; andere waren ihm neu, und diese filterte er aus den Duftgemischen heraus und bewahrte sie namenlos im Gedächtnis: Amber, Zibet, Patschuli, Sandelholz, Bergamotte, Vetiver, Opoponax, Benzoe, Hopfenblüte, Bibergeil…
Wählerisch ging er nicht vor. Zwischen dem, was landläufig als guter oder schlechter Geruch bezeichnet wurde, unterschied er nicht, noch nicht. Er war gierig. Das Ziel seiner Jagden bestand darin, schlichtweg alles zu besitzen, was die Welt an Gerüchen zu bieten hatte, und die einzige Bedingung war, dass die Gerüche neu seien. Der Duft eines schweißenden Pferds galt ihm ebensoviel wie der zarte grüne Geruch schwellender Rosenknospen, der stechende Gestank einer Wanze nicht weniger als der Dunst von gespicktem Kalbsbraten, der aus den Herrschaftsküchen quoll. Alles, alles fraß er, saugte er in sich hinein. Und auch in der synthetisierenden Geruchsküche seiner Phantasie, in der er ständig neue Duftkombinationen zusammenstellte, herrschte noch kein ästhetisches Prinzip. Es waren Bizarrerien, die er schuf und alsbald wieder zerstörte wie ein Kind, das mit Bauklötzen spielt, erfindungsreich und destruktiv, ohne erkennbares schöpferisches Prinzip.
8
Am 1. September 1753, dem Jahrestag der Thronbesteigung des Königs, ließ die Stadt Paris am Pont Royal ein Feuerwerk abbrennen. Es war nicht so spektakulär wie das Feuerwerk zur Feier der Verehelichung des Königs oder wie jenes legendäre Feuerwerk aus Anlass der Geburt des Dauphin, aber es war immerhin ein sehr beeindruckendes Feuerwerk. Man hatte goldene Sonnenräder auf die Masten der Schiffe montiert. Von der Brücke spieen sogenannte Feuerstiere einen brennenden Sternenregen in den Fluss. Und während allüberall unter betäubendem Lärm Petarden platzten und Knallfrösche über das Pflaster zuckten, stiegen Raketen in den Himmel und malten weiße Lilien an das schwarze Firmament. Eine vieltausendköpfige Menge, welche sowohl auf der Brücke als auch auf den Quais zu beiden Seiten des Flusses versammelt war, begleitete das Spektakel mit begeisterten Ahs und Ohs und Bravos und sogar mit Vivats – obwohl der König seinen Thron schon vor achtunddreißig Jahren bestiegen und den Höhepunkt seiner Beliebtheit längst überschritten hatte. So viel vermag ein Feuerwerk.
Grenouille stand stumm im Schatten des Pavillon de Flore, am rechten Ufer, dem Pont Royal gegenüber. Er rührte keine Hand zum Beifall, er schaute nicht einmal hin, wenn die Raketen aufstiegen. Er war gekommen, weil er glaubte, irgend etwas Neues erschnuppern zu können, aber es stellte sich bald heraus, dass das Feuerwerk geruchlich nichts zu bieten hatte. Was da in verschwenderischer Vielfalt funkelte und sprühte und krachte und pfiff, hinterließ ein höchst eintöniges Duftgemisch von Schwefel, Öl und Salpeter.
Er war schon im Begriff, die langweilige Veranstaltung zu verlassen, um an der Galerie des Louvre entlang heimwärts zu gehen, als ihm der Wind etwas zutrug, etwas Winziges, kaum Merkliches, ein Bröselchen, ein Duftatom, nein, noch weniger: eher die Ahnung eines Dufts als einen tatsächlichen Duft – und zugleich doch die sichere Ahnung von etwas Niegerochenem. Er trat wieder zurück an die Mauer, schloss die Augen und blähte die Nüstern. Der Duft war so ausnehmend zart und fein, dass er ihn nicht festhalten konnte, immer wieder entzog er sich der Wahrnehmung, wurde verdeckt vom Pulverdampf der Petarden, blockiert von den Ausdünstungen der Menschenmassen, zerstückelt und zerrieben von den tausend andren Gerüchen der Stadt. Aber dann, plötzlich, war er wieder da, ein kleiner Fetzen nur, eine kurze Sekunde lang als herrliche Andeutung zu riechen… und verschwand alsbald. Grenouille litt Qualen. Zum ersten Mal war es nicht nur sein gieriger Charakter, dem eine Kränkung widerfuhr, sondern tatsächlich sein Herz, das litt. Ihm schwante sonderbar, dieser Duft sei der Schlüssel zur Ordnung aller anderen Düfte, man habe nichts von den Düften verstanden, wenn man diesen einen nicht verstand, und er Grenouille, hätte sein Leben verpfuscht, wenn es ihm nicht gelänge, diesen einen zu besitzen. Er musste ihn haben, nicht um des schieren Besitzes, sondern um der Ruhe seines Herzens willen.
Ihm wurde fast schlecht vor Aufregung. Er hatte noch nicht einmal herausbekommen, aus welcher Richtung der Duft überhaupt kam. Manchmal dauerten die Intervalle, ehe ihm wieder ein Fetzchen zugeweht wurde, minutenlang, und jedesmal überfiel ihn die gräßliche Angst, er hätte ihn auf immer verloren. Endlich rettete er sich in den verzweifelten Glauben, der Duft komme vom anderen Ufer des Flusses, irgendwoher aus südöstlicher Richtung.
Er löste sich von der Mauer des Pavillon de Flore, tauchte in die Menschenmenge ein und bahnte sich seinen Weg über die Brücke. Alle paar Schritte blieb er stehen, stellte sich auf die Zehenspitzen, um über die Köpfe der Menschen hinwegzuschnuppern, roch zunächst nichts vor lauter Erregung, roch dann endlich doch etwas, erschnupperte sich den Duft, stärker sogar als zuvor, wusste sich auf der richtigen Fährte, tauchte unter, wühlte sich weiter durch die Menge der Gaffer und der Feuerwerker, die alle Augenblicke ihre Fackeln an die Lunten der Raketen hielten, verlor im beißenden Qualm des Pulvers seinen Duft, geriet in Panik, stieß und rempelte weiter und wühlte sich fort, erreichte nach endlosen Minuten das andere Ufer, das Hotel de Mailly, den Quai Malaquest, die Einmündung der Rue de Seine…