Und selbst der König ließ sich irgendeinen neumodischen Unsinn vorführen, eine Art künstliches Gewitter namens Elektrizität: Im Angesicht des ganzen Hofes rieb ein Mensch an einer Flasche, und es funkte, und Seine Majestät, so hört man, zeigte sich tief beeindruckt. Unvorstellbar, dass sein Urgroßvater, der wahrhaft große Ludwig, unter dessen segensreicher Herrschaft Baldini lange Jahre noch das Glück hatte gelebt zu haben, eine so lächerliche Demonstration vor seinen Augen geduldet hätte! Aber das war der Geist der neuen Zeit, und böse würde alles enden!
Denn wenn man schon ungeniert und auf die frechste Art die Autorität von Gottes Kirche in Zweifel ziehen konnte; wenn man über die nicht minder gottgewollte Monarchie und die geheiligte Person des Königs sprach, als seien beide bloß variable Posten in einem ganzen Katalog von anderen Regierungsformen, die man nach Gusto auswählen könne; wenn man sich schließlich noch so weit verstieg, wie das geschah, Gott selbst, den Allmächtigen, Ihn Höchstpersönlich, als entbehrlich hinzustellen und allen Ernstes zu behaupten, es seien Ordnung, Sitte und das Glück auf Erden ohne Ihn zu denken, rein aus der eingeborenen Moralität und der Vernunft der Menschen selber… o Gott, o Gott! – dann allerdings brauchte man sich nicht zu wundern, wenn sich alles von oben nach unten kehrte und die Sitten verlotterten und die Menschheit das Strafgericht dessen, den sie verleugnete, auf sich herabzog. Böse wird es enden. Der große Komet von 1681, über den sie sich lustig gemacht haben, den sie als nichts als einen Haufen von Sternen bezeichnet haben, er war eben doch ein warnendes Vorzeichen Gottes gewesen, denn er hatte jetzt wusste man es ja – ein Jahrhundert der Auflösung angezeigt, der Zersetzung, des geistigen und politischen und religiösen Sumpfes, den sich die Menschheit selber schuf, in dem sie dereinst selbst versinken wird und in dem nur noch schillernde und stinkende Sumpfblüten gediehen wie dieser Pelissier!
Er stand am Fenster, der alte Mann Baldini, und schaute mit gehässigem Blick gegen die schrägstehende Sonne auf den Fluss hinaus. Lastkähne tauchten unter ihm auf und glitten langsam nach Westen auf den Pont Neuf und den Hafen vor den Galerien des Louvre zu. Keiner wurde hier gegen die Strömung herauf gestakt, sie nahmen den Flussarm auf der anderen Seite der Insel. Hier strömte alles nur weg, die leeren und die beladenen Schiffe, die Ruderboote und die flachen Kähne der Fischer, das schmutzigbraune Wasser und das golden gekräuselte, alles strömte weg, langsam, breit und unaufhaltsam. Und wenn Baldini ganz steil nach unten blickte, hart an der Hauswand entlang, dann war es, als söge das strömende Wasser die Fundamente der Brücke davon, und es schwindelte ihm.
Es war ein Fehler gewesen, das Haus auf der Brücke zu kaufen, und ein doppelter Fehler, eines auf der westlich gelegenen Seite zu nehmen. Nun hatte er dauernd den wegströmenden Fluss vor Augen, und es war ihm, als ströme er selbst und sein Haus und sein in vielen Jahrzehnten erworbener Reichtum davon wie der Fluss und als sei er zu alt und zu schwach, sich noch gegen diese gewaltige Strömung zu stemmen. Manchmal, wenn er auf dem linken Ufer zu tun hatte, im Viertel um die Sorbonne oder bei Saint-Sulpice, dann ging er nicht über die Insel und den Pont Saint-Michel, sondern er nahm den längeren Weg über den Pont Neuf, denn diese Brücke war unbebaut. Und dann stellte er sich an die östliche Brüstung und schaute flussaufwärts, um wenigstens ein Mal alles auf sich zuströmen zu sehen; und für einige Augenblicke schwelgte er in der Vorstellung, die Tendenz seines Lebens habe sich umgekehrt, die Geschäfte florierten, die Familie gediehe, die Frauen flögen ihm zu und seine Existenz, statt zu zerrinnen, mehre und mehre sich.
Aber dann, wenn er den Blick nur ein klein wenig hob, sah er in einigen hundert Metern Entfernung sein eigenes Haus gebrechlich schmal und hoch auf dem Pont au Change, und er sah das Fenster seines Arbeitszimmers im ersten Stock und sah sich selbst dort am Fenster stehen, sah sich hinaussehen auf den Fluss und das wegströmende Wasser beobachten, wie jetzt. Und damit war der schöne Traum verflogen, und Baldini, auf dem Pont Neuf stehend, wandte sich ab, niedergeschlagener als zuvor, niedergeschlagen wie jetzt, da er sich vom Fenster abwendete, zum Schreibtisch ging und sich setzte.
12
Vor ihm stand der Flakon mit Pelissiers Parfum. Die Flüssigkeit schimmerte goldbraun im Sonnenlicht, klar, ohne die geringste Trübung. Ganz unschuldig sah sie aus, wie heller Tee – und enthielt doch neben vier Fünfteln Alkohol ein Fünftel eines geheimnisvollen Gemisches, das eine ganze Stadt in Aufregung versetzen konnte. Dieses Gemisch wiederum mochte aus drei oder aus dreißig verschiedenen Stoffen bestehen, die in einem ganz bestimmten von unzähligen möglichen Volumenverhältnissen zueinander standen. Es war die Seele des Parfums – soweit man bei einem Parfum dieses eiskalten Geschäftemachers Pelissier von Seele reden konnte – , und ihren Aufbau galt es nun herauszufinden.
Baldini schneuzte sich sorgfältig die Nase und ließ die Jalousie am Fenster etwas herunter, denn das direkte Sonnenlicht war jedem Riechstoff und jeder feineren geruchlichen Konzentration abträglich. Aus der Schublade des Schreibtischs holte er ein frisches weißes Spitzentaschentuch und entfaltete es. Dann öffnete er den Flakon durch eine leichte Drehung des Stöpsels. Den Kopf hielt er dabei weit zurück und kniff die Nasenflügel zusammen, denn er wollte um Gottes willen nicht einen vorschnellen Geruchseindruck direkt aus der Flasche erwischen. Parfum musste in entfaltetem, luftigem Zustand gerochen werden, niemals konzentriert. Er sprenkelte einige Tropfen auf das Taschentuch, wedelte es durch die Luft, um den Alkohol davonzujagen, und hielt es sich dann unter die Nase. Mit drei ganz kurzen, ruckartigen Stößen riss er den Duft in sich hinein wie ein Pulver, blies ihn sofort wieder aus, fächelte sich Luft zu, schnüffelte noch einmal im Dreierrhythmus und nahm zum Abschluss einen ganz tiefen Atemzug, den er langsam und mehrmals verhaltend, gleichsam ihn wie über eine lange flache Treppe gleiten lassend, ausströmte. Er warf das Taschentuch auf den Tisch und ließ sich gegen die Sessellehne zurückfallen.
Das Parfum war ekelhaft gut. Dieser miserable Pelissier war leider ein Könner. Ein Meister, Gott sei's geklagt, und wenn er tausendmal nichts gelernt hatte! Baldini wünschte, es wäre von ihm, dieses >Amor und Psyche<. Es war keine Spur ordinär. Absolut klassisch, rund und harmonisch war es. Und trotzdem faszinierend neu. Es war frisch, aber nicht reißerisch. Es war blumig, ohne schmalzig zu sein. Es besaß Tiefe, eine herrliche, haftende, schwelgerische, dunkelbraune Tiefe – und war doch kein bisschen überladen oder schwülstig.
Baldini stand fast ehrfürchtig auf und hielt sich das Taschentuch noch einmal unter die Nase. »Wunderbar, wunderbar…« murmelte er und schnüffelte gierig, »es hat einen heiteren Charakter, es ist lieblich, es ist wie eine Melodie, es macht direkt gute Laune… Unsinn, gute Laune!« Und er schleuderte das Tüchlein wütend auf den Tisch zurück, wandte sich ab und ging in die hinterste Ecke des Zimmers, als schäme er sich seiner Begeisterung.
Lächerlich! Sich zu solchen Elogen hinreißen zu lassen. >Wie eine Melodie. Heiter. Wunderbar. Gute Laune.< – Blödsinn! Kindischer Blödsinn. Eindruck des Augenblicks. Alter Fehler. Temperamentsfrage. Wahrscheinlich italienisches Erbteil. Urteile nicht, solange du riechst! Das ist die erste Regel, Baldini, alter Schafskopf! Rieche, wenn du riechst, und urteile, wenn du gerochen hast! >Amor und Psyche< ist ein nicht unebenes Parfum. Ein durchaus gelungenes Produkt. Ein geschickt zusammengestelltes Machwerk. Um nicht zu sagen ein Blendwerk. Und etwas anderes als ein Blendwerk war von einem Mann wie Pelissier auch gar nicht zu erwarten. Natürlich fabrizierte ein Kerl wie Pelissier kein Dutzendparfum. Der Schurke blendete mit höchster Könnerschaft, verwirrte den Geruchssinn mit perfekter Harmonie, ein Wolf im Schafspelz klassischer Geruchskunst war dieser Mensch, mit einem Wort: ein Scheusal mit Talent. Und das war schlimmer als ein Pfuscher mit dem rechten Glauben.
Aber du, Baldini, wirst dich nicht betören lassen. Du warst nur einen Augenblick lang überrascht vom ersten Eindruck des Machwerks. Aber weiß man denn, wie es in einer Stunde riechen wird, wenn seine flüchtigsten Substanzen sich verflogen haben und sein Mittelbau hervortritt? Oder wie es heute Abend riechen wird, wenn nur noch jene schweren, dunklen Komponenten wahrzunehmen sind, die jetzt geruchlich wie im Zwielicht unter angenehmen Blütenschleiern liegen? Wart es ab, Baldini!
Die zweite Regel sagt: Das Parfum lebt in der Zeit; es hat seine Jugend, seine Reife und sein Alter. Und nur wenn es in allen drei verschiedenen Lebensaltern auf gleich angenehme Weise Duft verströmt, ist es als gelungen zu bezeichnen. Wie oft hatten wir nicht schon den Fall, dass eine Mischung, die wir machten, bei der ersten Probe herrlich frisch roch, nach kurzer Zeit nach faulem Obst und endlich nur noch ekelhaft nach reinem Zibet, das wir zu hoch dosierten. Vorsicht überhaupt mit Zibet! Ein Tropfen zu viel schafft Katastrophen. Alte Fehlerquelle. Wer weiß – vielleicht hat Pelissier zu viel Zibet erwischt? Vielleicht bleibt bis heut Abend von seinem ambitiösen >Amor und Psyche< nur noch ein Hauch von Katzenpisse übrig? Wir werden's sehn.
Wir werden's riechen. So wie ein scharfes Beil den Holzklotz in die kleinsten Scheite teilt, wird unsre Nase sein Parfum in jede Einzelheit zerspalten. Dann wird sich zeigen, dass dieser angebliche Zauberduft auf sehr normalem, wohlbekanntem Weg entstanden ist. Wir, Baldini, Parfumeur, werden dem Essigmischer Pelissier auf die Schliche kommen. Wir werden ihm die Maske von der Fratze reißen und dem Neuerer beweisen, wozu das alte Handwerk in der Lage ist. Haargenau wird es ihm nachgemischt, sein modisches Parfum. Es wird unter unsern Händen neu entstehen, so perfekt kopiert, dass es der Windhund selbst nicht mehr von seinem eignen unterscheiden kann. Nein! Das genügt uns nicht! Wir werden's noch verbessern! Wir werden ihm Fehler nachweisen und sie ausmerzen und es ihm auf diese Weise unter die Nase reiben: Du bis ein Pfuscher, Pelissier! Ein kleiner Stinker bist du! Ein Emporkömmling im Duftgewerbe, und sonst nichts!