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Und nun stand er in Baldinis Laden, an dem Ort von Paris, an dem die größte Anzahl professioneller Düfte auf engstem Raum versammelt war. Viel sah er nicht im vorüberfliegenden Kerzenlicht, nur kurz den Schatten des Kontors mit der Waage, die beiden Reiher über dem Becken, einen Sessel für die Kunden, die dunklen Regale an den Wänden, das kurze Aufblinken von Messinggerät und weißen Etiketten auf Gläsern und Tiegeln; und er roch auch nicht mehr, als er schon von der Straße her gerochen hatte. Aber er spürte sofort den Ernst, der in diesen Räumen herrschte, fast möchte man sagen, den heiligen Ernst, wenn das Wort »heilig« für Grenouille irgendeine Bedeutung besessen hätte; den kalten Ernst spürte er, die handwerkliche Nüchternheit, den trockenen Geschäftssinn, die an jedem Möbel, an jedem Gerät, an den Bottichen und Flaschen und Töpfen klebten. Und während er hinter Baldini herging, in Baldinis Schatten, denn Baldini nahm sich nicht die Mühe, ihm zu leuchten, überkam ihn der Gedanke, dass er hierhergehöre und nirgendwo anders hin, dass er hier bleiben werde, dass er von hier die Welt aus den Angeln heben würde.

Dieser Gedanke war natürlich von geradezu grotesker Unbescheidenheit. Es gab nichts, aber schon wirklich rein gar nichts, was einen dahergelaufenen Gerbereihilfsarbeiter dubioser Abkunft, ohne Verbindung oder Protektion, ohne die geringste ständische Position, zu der Hoffnung berechtigte, in der renommiertesten Duftstoffhandlung von Paris Fuß zu fassen; um so weniger, als, wie wir wissen, die Auflösung des Geschäfts bereits beschlossene Sache war. Aber es handelte sich ja auch nicht um eine Hoffnung, die sich in Grenouilles unbescheidenen Gedanken ausdrückte, sondern um eine Gewissheit. Diesen Laden, so wusste er, würde er nur noch verlassen, um seine Kleider bei Grimal abzuholen, und dann nicht mehr. Der Zeck hatte Blut gewittert. Jahrelang war er still gewesen, in sich verkapselt, und hatte gewartet. Jetzt ließ er sich fallen auf Gedeih und Verderb, vollkommen hoffnungslos. Und deshalb war seine Sicherheit so groß.

Sie hatten den Laden durchquert. Baldini öffnete den nach der Flussseite gelegenen Hinterraum, der teils als Lager, teils als Werkstatt und Labor diente, wo die Seifen gekocht und die Pomaden gerührt und die Riechwässer in bauchigen Flaschen gemischt wurden. »Da!« sagte er und wies auf einen großen Tisch, der vor dem Fenster stand, »da leg sie hin!«

Grenouille trat aus Baldinis Schatten heraus, legte die Leder auf den Tisch, sprang dann rasch wieder zurück und stellte sich zwischen Baldini und die Tür. Baldini blieb noch eine Weile stehen. Er hielt die Kerze etwas beiseite, damit keine Wachstropfen auf den Tisch fielen, und strich mit dem Fingerrücken über die glatte Fläche des Leders. Dann schlug er das oberste um und fuhr über die samtige, zugleich rauhe und weiche Innenseite. Es war sehr gut, dieses Leder. Wie geschaffen für eine spanische Haut. Es würde sich beim Trocknen kaum verziehen, es würde, wenn man es richtig mit dem Falzbein strich, wieder geschmeidig werden, er spürte das sofort, wenn er es nur zwischen Daumen und Zeigefinger drückte; es konnte Duft für fünf oder zehn Jahre aufnehmen; es war ein sehr, sehr gutes Leder – vielleicht würde er Handschuhe daraus machen, drei Paar für sich und drei Paar für seine Frau, für die Reise nach Messina.

Er zog seine Hand zurück. Rührend sah der Arbeitstisch aus: wie alles bereit lag; die Glaswanne für das Duftbad, die Glasplatte zum Trocknen, die Reibschalen zum Anmischen der Tinktur, Pistill und Spatel, Pinsel und Falzbein und Schere. Es war, als schliefen die Dinge nur, weil es dunkel war, und als würden sie morgen wieder lebendig. Vielleicht sollte er den Tisch mitnehmen nach Messina? Und einen Teil seines Werkzeugs, nur die wichtigsten Stücke…? Man saß und arbeitete sehr gut an diesem Tisch. Er bestand aus Eichenbrettern, und das Gestell ebenfalls, und er war quer verstrebt, da zitterte und wackelte nichts an diesem Tisch, dem machte keine Säure etwas aus und kein Öl und kein Messerschnitt – und ein Vermögen würde es kosten, ihn nach Messina zu bringen! Selbst mit dem Schiff! Und darum wird er verkauft, der Tisch, morgen wird er verkauft, und alles, was darauf, darunter und daneben ist, wird ebenfalls verkauft! Denn er, Baldini, hatte zwar ein sentimentales Herz, aber er hatte auch einen starken Charakter, und deshalb würde er, so schwer es ihm fiel, seinen Entschluss durchführen; mit Tränen in den Augen gab er alles weg, aber er würde es trotzdem tun, denn er wusste, dass es richtig war, er hatte ein Zeichen bekommen.

Er drehte sich um, um zu gehen. Da stand dieser kleine verwachsene Mensch in der Tür, den hatte er fast schon vergessen. »Es ist gut«, sagte Baldini. »Richte dem Meister aus, das Leder ist gut. Ich werde in den nächsten Tagen vorbeikommen, um zu bezahlen.«

»Jawohl«, sagte Grenouille und blieb stehen und verstellte Baldini, der sich anschickte, seine Werkstatt zu verlassen, den Weg. Baldini stutzte ein wenig, hielt aber in seiner Ahnungslosigkeit das Verhalten des Jungen nicht für Chuzpe, sondern für Schüchternheit.

»Was ist?« fragte er. »Hast du mir noch etwas zu bestellen? Nun? Sag es nur!« Grenouille stand geduckt und schaute Baldini mit jenem Blick an, der scheinbar Ängstlichkeit verriet, in Wirklichkeit aber einer lauernden Gespanntheit entsprang.

»Ich will bei Ihnen arbeiten, Maitre Baldini. Bei Ihnen, in Ihrem Geschäft will ich arbeiten.«

Das war nicht bittend gesagt, sondern fordernd, und es war auch nicht eigentlich gesagt, sondern herausgepresst, hervorgezischelt, schlangenhaft. Und wieder verkannte Baldini das unheimliche Selbstbewusstsein Grenouilles als knabenhafte Unbeholfenheit. Er lächelte ihn freundlich an. »Du bist Gerberlehrling, mein Sohn«, sagte er, »ich habe keine Verwendung für einen Gerberlehrling. Ich habe selbst einen Gesellen, und einen Lehrling brauche ich nicht.«

»Sie wollen diese Ziegenleder riechen machen, Maitre Baldini? Diese Leder, die ich Ihnen gebracht habe, die wollen Sie doch riechen machen?« zischelte Grenouille, als habe er Baldinis Antwort gar nicht zur Kenntnis genommen.

»In der Tat«, sagte Baldini.

»Mit >Amor und Psyche< von Pelissier?« fragte Grenouille und duckte sich noch tiefer zusammen. Jetzt zuckte ein milder Schrecken durch Baldinis Körper. Nicht weil er sich fragte, woher der Bursche so genau Bescheid wusste, sondern einfach wegen der Namensnennung dieses verhassten Parfums, an dessen Enträtselung er heute gescheitert war.

»Wie kommst du auf die absurde Idee, ich würde ein fremdes Parfum benutzen, um…«

»Sie riechen danach!« zischelte Grenouille. »Sie tragen es auf der Stirn, und in der rechten Rocktasche haben Sie ein Tuch, das ist getränkt davon. Es ist nicht gut, dieses >Amor und Psyche<, es ist schlecht, es ist zu viel Bergamotte darin und zu viel Rosmarin und zu wenig Rosenöl.«

»Aha«, sagte Baldini, der von der Wendung des Gesprächs ins Exakte völlig überrascht war, »was noch?«

»Orangenblüte, Limette, Nelke, Moschus, Jasmin, Weingeist und etwas, von dem ich den Namen nicht kenne, hier, sehen Sie, da! In dieser Flasche!« Und er deutete mit dem Finger ins Dunkle. Baldini hielt den Leuchter in die angegebene Richtung, sein Blick folgte dem Zeigefinger des Jungen und fiel auf eine Flasche im Regal, die mit einem graugelben Balsam gefüllt war.

»Storax?« fragte er.

Grenouille nickte. »Ja. Das ist drin. Storax.« Und dann krümmte er sich wie von einem Krampf zusammengezogen und murmelte mindestens ein dutzendmal das Wort >Storax< vor sich hin:

»Storaxstoraxstoraxstorax…«

Baldini hielt die Kerze gegen das storaxkrächzende Häuflein Mensch und dachte: Entweder ist er besessen, oder er ist ein betrügerischer Gauner, oder er ist ein begnadetes Talent. Denn dass die angegebenen Stoffe in richtiger Zusammensetzung das Parfum >Amor und Psyche< ergeben konnten, war durchaus möglich; es war sogar wahrscheinlich. Rosenöl, Nelke und Storax – nach diesen drei Komponenten hatte er heute Nachmittag so verzweifelt gesucht; mit ihnen fügten sich die anderen Teile der Komposition – die auch er erkannt zu haben glaubte – wie Segmente zu einem hübschen runden Kuchen. Es war jetzt nur noch die Frage, in welchem exakten Verhältnis zueinander man sie fügen musste. Um das herauszufinden, würde er, Baldini, tagelang herumexperimentieren müssen, eine entsetzliche Arbeit, fast noch schlimmer als das bloße Identifizieren der Teile, denn nun galt es, zu messen und zu wägen und zu notieren und dabei doch höllisch aufzupassen, denn die kleinste Unaufmerksamkeit – ein Zittern mit der Pipette, ein Fehler beim Tropfenzählen – konnte alles verderben. Und jeder verpatzte Versuch war gräßlich teuer. Jede verdorbene Mischung kostete ein kleines Vermögen… Er wollte den kleinen Menschen auf die Probe stellen, wollte ihn nach der exakten Formel von >Amor und Psyche< fragen. Wenn er sie wusste, auf Gramm und Tropfen genau – dann war er offenkundig ein Betrüger, der sich auf irgendeine Weise das Rezept von Pelissier ergaunert hatte, um sich bei Baldini Zutritt und Anstellung zu verschaffen. Erriet er sie aber ungefähr, dann war er ein Geruchsgenie und forderte als solches Baldinis professionelles Interesse heraus. Nicht dass Baldini seinen gefassten Entschluss, das Geschäft aufzugeben, in Frage stellte! Es kam ihm nicht auf das Parfum von Pelissier als solches an. Selbst wenn der Bursche es ihm literweise verschaffte, Baldini dachte nicht im Traum daran, die spanische Haut des Grafen Verhamont damit zu beduften, aber… Aber man war doch nicht sein Leben lang Parfumeur gewesen, hatte sich nicht ein Leben lang mit der Zusammensetzung von Düften beschäftigt, um von einer Stunde zur anderen seine ganze professionelle Leidenschaft zu verlieren! Es interessierte ihn jetzt, die Formel dieses verfluchten Parfums herauszubekommen, und mehr noch, das Talent dieses unheimlichen Jungen zu erforschen, der ihm einen Duft von der Stirne abgelesen hatte. Er wollte wissen, was da dahintersteckte. Er war ganz einfach neugierig.

»Du hast, so scheint es, eine feine Nase, junger Mann«, sagte er, nachdem Grenouille mit seinem Gekrächze aufgehört hatte, und trat zurück in die Werkstatt, um den Leuchter vorsichtig auf dem Arbeitstisch abzustellen, »eine zweifellos feine Nase, aber…«