Und was für Düfte waren das! Nicht nur Parfums der höchsten, allerhöchsten Schule, sondern auch Cremes und Puder, Seifen, Haarlotionen, Wässer, Öle … Alles, was zu duften hatte, duftete jetzt neu und anders und herrlicher als je zuvor. Und auf alles, aber wirklich alles, selbst auf die neuartigen Dufthaarbänder, die Baldinis kuriose Laune eines Tages hervorbrachte, sprang das Publikum los wie behext, und Preise spielten keine Rolle. Alles, was Baldini produzierte, wurde ein Erfolg. Und der Erfolg war dermaßen überwältigend, dass Chenier ihn wie ein Naturereignis hinnahm und nicht mehr nach seinen Ursachen forschte. Dass etwa der neue Lehrling, der unbeholfene Gnom, der in der Werkstatt hauste wie ein Hund und den man manchmal, wenn der Meister heraustrat, im Hintergrund stehen und Gläser wischen und Mörser putzen sah – dass dieses Nichts von Mensch etwas zu tun haben sollte mit dem sagenhaften Aufblühen des Geschäfts, das hätte Chenier nicht einmal dann geglaubt, wenn man es ihm gesagt hätte.
Natürlich hatte der Gnom alles damit zu tun. Das, was Baldini in den Laden brachte und Chenier zum Verkauf überließ, war nur ein Bruchteil dessen, was Grenouille hinter verschlossenen Türen zusammenmischte. Baldini kam mit dem Riechen nicht mehr nach. Es war ihm manchmal eine regelrechte Qual, unter den Herrlichkeiten, die Grenouille hervorbrachte, eine Wahl zu treffen. Dieser Zauberlehrling hätte alle Parfumeure Frankreichs mit Rezepten versorgen können, ohne sich zu wiederholen, ohne auch nur ein Mal etwas Minderwertiges oder auch nur Mittelmäßiges hervorzubringen. – Das heisst, mit Rezepten, also Formeln, hätte er sie eben nicht versorgen können, denn zunächst komponierte Grenouille seine Düfte noch auf jene chaotische und völlig unprofessionelle Manier, die Baldini schon kannte, indem er nämlich aus der freien Hand in scheinbar wildem Durcheinander Ingredienzien mischte. Um das verrückte Geschäft, wenn nicht zu kontrollieren, so doch wenigstens begreifen zu können, verlangte Baldini eines Tages von Grenouille, er möge sich, auch wenn er das für unnötig halte, beim Ansetzen seiner Mischungen der Waage, des Messbechers und der Pipette bedienen; er möge sich ferner angewöhnen, den Weingeist nicht als Duftstoff zu begreifen, sondern als Lösungsmittel, welches erst im nachhinein zuzusetzen sei; und ermöge schließlich um Gottes willen langsam hantieren, gemächlich und langsam, wie es sich für einen Handwerker gehöre.
Grenouille tat das. Und zum ersten Mal war Baldini in der Lage, die einzelnen Handhabungen des Hexenmeisters zu verfolgen und zu dokumentieren. Mit Feder und Papier saß er neben Grenouille und notierte, immer wieder zur Langsamkeit mahnend, wie viel Gramm von diesem, wie viel Messstriche von jenem, wie viel Tropfen von einem dritten Ingredienz in die Mischflasche wanderten. Auf diese sonderbare Weise, indem er nämlich einen Vorgang nachträglich mit eben jenen Mitteln analysierte, ohne deren vorherigen Gebrauch er eigentlich gar nicht hätte stattfinden dürfen, gelangte Baldini endlich doch in den Besitz der synthetischen Vorschrift. Wie Grenouille ohne diese in der Lage war, seine Parfums zu mixen, blieb für Baldini zwar weiterhin ein Rätsel, vielmehr ein Wunder, aber wenigstens hatte er das Wunder jetzt auf eine Formel gebracht und damit seinen nach Regeln dürstenden Geist einigermaßen befriedigt und sein parfumistisches Weltbild vor dem vollständigen Kollaps bewahrt.
Nach und nach entlockte er Grenouille die Rezepturen sämtlicher Parfums, die dieser bisher erfunden hatte, und er verbot ihm schließlich sogar, neue Düfte anzusetzen, ohne dass er, Baldini, mit Feder und Papier zugegen war, den Prozess mit Argusaugen beobachtete und Schritt für Schritt dokumentierte. Seine Notizen, bald viele Dutzende von Formeln, übertrug er dann penibel mit gestochener Schrift in zwei verschiedene Büchlein, deren eines er in seinen feuerfesten Geldschrank einschloss und deren anderes er ständig bei sich trug und mit dem er nachts auch schlafen ging. Das gab ihm Sicherheit. Denn nun konnte er, wenn er wollte, Grenouilles Wunder selber nachvollziehen, die ihn, als er sie zum erstenmal erlebte, tief erschüttert hatten. Mit seiner schriftlichen Formelsammlung glaubte er, das entsetzliche schöpferische Chaos, welches aus dem Innern seines Lehrlings hervorquoll, bannen zu können. Auch hatte die Tatsache, dass er nicht mehr bloß blöde staunend, sondern beobachtend und registrierend an den Schöpfungsakten teilnahm, auf Baldini eine beruhigende Wirkung und stärkte sein Selbstvertrauen. Nach einer Weile glaubte er gar von sich, zum Gelingen der sublimen Düfte nicht unwesentlich beizutragen. Und wenn er sie erst einmal in seine Büchlein eingetragen hatte und im Tresor und dicht am eigenen Busen verwahrte, zweifelte er sowieso nicht mehr daran, dass sie nun ganz und gar sein eigen seien.
Aber auch Grenouille profitierte von dem disziplinierenden Verfahren, das ihm von Baldini aufgezwungen wurde. Er selbst war zwar nicht darauf angewiesen. Er musste nie eine alte Formel nachschlagen, um ein Parfum nach Wochen oder Monaten zurekonstruieren, denn er vergaß Gerüche nicht. Aber er erlernte mit der obligatorischen Verwendung von Messbecher und Waage die Sprache der Parfumerie, under spürte instinktiv, dass ihm die Kenntnis dieser Sprache von Nutzen sein konnte. Nach wenigen Wochen beherrschte Grenouille nicht nur die Namen sämtlicher Duftstoffe in Baldinis Werkstatt, sondern er war auch in der Lage, die Formel seiner Parfums selbst niederzuschreiben und umgekehrt, fremde Formeln und Anweisungen in Parfums und sonstige Riecherzeugnisse zu verwandeln. Und mehr noch! Nachdem er einmal gelernt hatte, seine parfumistischen Ideen in Gramm und Tropfen auszudrücken, bedurfte er nicht einmal mehr des experimentellen Zwischenschritts. Wenn Baldini ihm auftrug, einen neuen Duft, sei es für ein Taschentuchparfum, für ein Sachet, für eine Schminke zu kreieren, so griff Grenouille nicht mehr zu Flakons und Pulvern, sondern er setzte sich einfach an den Tisch und schrieb die Formel direkt nieder. Er hatte gelernt, den Weg von seiner inneren Geruchsvorstellung zum fertigen Parfum um die Herstellung der Formel zu erweitern. Für ihn war das ein Umweg. In den Augen der Welt, das heisst in Baldinis Augen, jedoch war es ein Fortschritt. Grenouilles Wunder blieben dieselben. Aber die Rezeptur, mit denen er sie nun versah, nahmen ihnen den Schrecken, und das war von Vorteil. Je besser Grenouille die handwerklichen Griffe und Verfahrensweisen beherrschte, je normaler er sich in der konventionellen Sprache der Parfumerie auszudrücken wusste, desto weniger fürchtete und beargwöhnte ihn der Meister. Bald hielt Baldini ihn zwar noch für einen ungewöhnlich begabten Geruchsmenschen, nicht mehr aber für einen zweiten Frangipani oder gar für einen unheimlichen Hexenmeister, und Grenouille war das nur recht. Der handwerkliche Komment diente ihm als willkommene Tarnung. Er lullte Baldini geradezu ein durch sein vorbildliches Verfahren beim Wägen der Zutaten, beim Schwenken der Mischflasche, beim Betupfen des weißen Probiertüchleins. Er konnte es fast schon so zierlich schütteln, so elegant an der Nase vorüberfliegen lassen wie der Meister. Und gelegentlich, in wohldosierten Intervallen, beging er Fehler, die so beschaffen waren, dass Baldini sie bemerken musste: Vergaß zu filtrieren, stellte die Waage falsch ein, schrieb einen unsinnig hohen Prozentsatz von Ambertinktur in eine Formel… und ließ sich den Fehler verweisen, um ihn dann geflissentlichst zu korrigieren. So gelang es ihm, Baldini in der Illusion zu wiegen, es gehe letzten Endes alles doch mit rechten Dingen zu. Er wollte den Alten ja nicht verprellen. Er wollte ja wirklich von ihm lernen. Nicht das Mischen von Parfums, nicht die rechte Komposition eines Duftes, natürlich nicht! Auf diesem Gebiet gab es niemand auf der Welt, der ihn etwas hätte lehren können, und die in Baldinis Laden vorhandenen Ingredienzien hätten auch bei weitem nicht ausgereicht, seine Vorstellungen eines wirklich großen Parfums zu verwirklichen. Was er bei Baldini an Gerüchen realisieren konnte, waren Spielereien verglichen mit den Gerüchen, die er in sich trug und die er eines Tages zu realisieren gedachte. Dazu aber, das wusste er, bedurfte es zweier unabdingbarer Voraussetzungen: Die eine war der Mantel einer bürgerlichen Existenz; mindestens des Gesellentums, in dessen Schutz er seinen eigentlichen Leidenschaften frönen und seine eigentlichen Ziele ungestört verfolgen konnte. Die andre war die Kenntnis jener handwerklichen Verfahren, nach denen man Duftstoffe herstellte, isolierte, konzentrierte, konservierte und somit für eine höhere Verwendung überhaupt erst verfügbar machte. Denn Grenouille besaß zwar in der Tat die beste Nase der Welt, sowohl analytisch als auch visionär, aber er besaß noch nicht die Fähigkeit, sich der Gerüche dinglich zu bemächtigen.
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Und so ließ er sich denn willig unterweisen in der Kunst des Seifenkochens aus Schweinefett, des Handschuhnähens aus Waschleder, des Pudermischens aus Weizenmehl und Mandelkleie und gepulverten Veilchenwurzeln. Rollte Duftkerzen aus Holzkohle, Salpeter und Sandelholzspänen. Presste orientalische Pastillen aus Myrrhe, Benzoe und Bernsteinpulver. Knetete Weihrauch, Schellack, Vetiver und Zimt zu Räucherkügelchen. Siebte und spaltete Poudre Imperiale aus gemahlenen Rosenblättern, Lavendelblüte, Kaskarillarinde. Rührte Schminken, weiß und aderblau, und formte Fettstifte, karmesinrot, für die Lippen. Schlämmte feinste Fingernagelpulver und Zahnkreiden, die nach Minze schmeckten. Mixte Kräuselflüssigkeit für das Perückenhaar und Warzentropfen für die Hühneraugen, Sommersprossenbleiche für die Haut und Belladonnaauszug für die Augen, Spanischfliegensalbe für die Herren und Hygieneessig für die Damen… Die Herstellung sämtlicher Wässerchen und Pülverchen, Toilette- und Schönheitsmittelchen, aber auch von Tee- und Würzmischungen, von Likören, Marinaden und dergleichen, kurz, alles, was Baldini ihn mit seinem großen überkommenen Wissen zu lehren hatte, lernte Grenouille, ohne sonderliches Interesse zwar, doch klaglos und mit Erfolg.
Mit besonderem Eifer war er hingegen bei der Sache, wenn Baldini ihn im Anfertigen von Tinkturen, Auszügen und Essenzen unterwies. Unermüdlich konnte er Bittermandelkerne in der Schraubenpresse quetschen oder Moschuskörner stampfen oder fette graue Amberknollen mit dem Wiegemesser hacken oder Veilchenwurzeln raspeln, um die Späne dann in feinstem Alkohol zu digerieren. Er lernte den Gebrauch des Scheidetrichters kennen, mit welchem man das reine Öl gepresster Limonenschalen von der trüben Rückstandsbrühe trennte. Er lernte Kräuter und Blüten zu trocknen, auf Rosten in schattiger Wärme, und das raschelnde Laub in wachsversiegelten Töpfen und Truhen zu konservieren. Er erlernte die Kunst, Pomaden auszuwaschen, Infusionen herzustellen, zu filtrieren, zu konzentrieren, zu klarifizieren und zu rektifizieren.