Grenouille erreichte den Berg in einer Augustnacht des Jahres 1756. Als der Morgen graute, stand er auf dem Gipfel. Er wusste noch nicht, dass seine Reise hier zu Ende war. Er dachte, dies sei nur eine Etappe auf dem Weg in immer noch reinere Lüfte, und er drehte sich im Kreise und ließ den Blick seiner Nase über das gewaltige Panorama des vulkanischen Ödlands streifen: nach Osten hin, wo die weite Hochebene von Saint-Flour und die Sümpfe des Flusses Riou lagen; nach Norden hin, in die Gegend, aus der er gekommen und wo er tagelang durch karstiges Gebirge gewandert war; nach Westen, von woher der leichte Morgenwind ihm nichts als den Geruch von Stein und hartem Gras entgegentrug; nach Süden schließlich, wo die Ausläufer des Plomb sich meilenweit hinzogen bis zu den dunklen Schluchten der Truyere. Überall, in jeder Himmelsrichtung, herrschte die gleiche Menschenferne, und zugleich hätte jeder Schritt in jede Richtung wieder größere Menschennähe bedeutet. Der Kompass kreiselte. Er gab keine Orientierung mehr an. Grenouille war am Ziel. Aber zugleich war er gefangen.
Als die Sonne aufging, stand er immer noch am gleichen Fleck und hielt seine Nase in die Luft. Mit verzweifelter Anstrengung versuchte er, die Richtung zu erschnuppern, aus der das bedrohlich Menschliche kam, und die Gegenrichtung, in die er weiterfliehen musste. In jeder Richtung argwöhnte er, doch noch einen verborgenen Fetzen menschlichen Geruchs zu entdecken. Doch da war nichts. Da war nur Ruhe, wenn man so sagen kann, geruchliche Ruhe. Ringsum herrschte nur der wie ein leises Rauschen wehende, homogene Duft der toten Steine, der grauen Flechten und der dürren Gräser, und sonst nichts.
Grenouille brauchte sehr lange Zeit, um zu glauben, was er nicht roch. Er war auf sein Glück nicht vorbereitet. Sein Misstrauen wehrte sich lange gegen die bessere Einsicht. Er nahm sogar, während die Sonne stieg, seine Augen zuhilfe und suchte den Horizont nach dem geringsten Zeichen menschlicher Gegenwart ab, nach dem Dach einer Hütte, dem Rauch eines Feuers, einem Zaun, einer Brücke, einer Herde. Er hielt die Hände an die Ohren und lauschte, nach dem Dengeln einer Sense etwa oder dem Gebell eines Hundes oder dem Schrei eines Kindes. Den ganzen Tag über verharrte er in der glühendsten Hitze auf dem Gipfel des Plomb du Cantal und wartete vergeblich auf das kleinste Indiz. Erst als die Sonne unterging, wich sein Misstrauen allmählich einem immer stärker werdenden Gefühl der Euphorie: Er war dem verhassten Odium entkommen! Er war tatsächlich vollständig allein! Er war der einzige Menschauf der Welt!
Ein ungeheurer Jubel brach in ihm aus. So wie ein Schiffbrüchiger nach wochenlanger Irrfahrt die erste von Menschen bewohnte Insel ekstatisch begrüßt, feierte Grenouille seine Ankunft auf dem Berg der Einsamkeit. Er schrie vor Glück. Rucksack, Decke, Stock warf er von sich und trampelte mit den Füßen auf den Boden, warf die Arme in die Höhe, tanzte im Kreis, brüllte seinen eigenen Namen in alle vier Winde, ballte die Fäuste, schüttelte sie triumphierend gegen das ganze weite unter ihm liegende Land und gegen die sinkende Sonne, triumphierend, als hätte er sie persönlich vom Himmel verjagt. Er führte sich auf wie ein Wahnsinniger, bis tief in die Nacht hinein.
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Die nächsten Tage verbrachte er damit, sich auf dem Berg einzurichten – denn das stand für ihn fest, dass er diese begnadete Gegend so schnell nicht mehr verlassen würde. Als erstes schnupperte er nach Wasser und fand es in einem Einbruch etwas unterhalb des Gipfels, wo es in einem dünnen Film am Fels entlangrann. Es war nicht viel, aber wenn er geduldig eine Stunde lang leckte, hatte er seinen Feuchtigkeitsbedarf für einen Tag gestillt. Er fand auch Nahrung, nämlich kleine Salamander und Ringelnattern, die er, nachdem er ihnen den Kopf abgeknipst hatte, mit Haut und Knochen verschlang. Dazu aß er trockene Flechten und Gras und Moosbeeren. Diese nach bürgerlichen Maßstäben völlig undiskutable Ernährungsweise verdross ihn nicht im mindesten. Schon in den letzten Wochen und Monaten hatte er sich nicht mehr von menschlich gefertigter Nahrung wie Brot und Wurst und Käse ernährt, sondern, wenn er Hunger verspürte, alles zusammengefressen, was ihm an irgendwie Essbarem in die Quere gekommen war. Er war nichts weniger als ein Gourmet. Er hatte es überhaupt nicht mit dem Genuss, wenn der Genuss in etwas anderem als dem reinen körperlosen Geruch bestand. Er hatte es auch nicht mit der Bequemlichkeit und wäre zufrieden gewesen, sein Lager auf blankem Stein einzurichten. Aber er fand etwas Besseres.
Nahe der Wasserstelle entdeckte er einen natürlichen Stollen, der in vielen engen Windungen in das Innere des Berges führte, bis er nach etwa dreißig Metern an einer Verschüttung endete. Dort, am Ende des Stollens, war es so eng, dass Grenouilles Schultern das Gestein berührten, und so niedrig, dass er nur gebückt stehen konnte. Aber er konnte sitzen, und wenn er sich krümmte, konnte er sogar liegen. Das genügte seinem Bedürfnis nach Komfort vollkommen. Denn der Ort hatte unschätzbare Vorzüge: Am Ende des Tunnels herrschte selbst tagsüber stockfinstere Nacht, es war totenstill, und die Luft atmete eine feuchte, salzige Kühle. Grenouille roch sofort, dassnoch kein lebendes Wesen diesen Platz je betreten hatte. Es überfiel ihn beinahe ein Gefühl von heiliger Scheu, als er ihn in Besitz nahm. Sorgsam breitete er seine Pferdedecke auf den Boden, als bedecke er einen Altar, und legte sich darauf. Er fühlte sich himmlisch wohl. Er lag im einsamsten Berg Frankreichs fünfzig Meter tief unter der Erde wie in seinem eigenen Grab. Noch nie im Leben hatte er sich so sicher gefühlt – schon gar nicht im Bauch seiner Mutter. Es mochte draußen die Welt verbrennen, hier würde er nichts davon merken. Er begann still zu weinen. Er wusste nicht, wem er danken sollte für so viel Glück. In der folgenden Zeit ging er nur noch ins Freie, um an der Wasserstelle zu lecken, sich rasch seines Urins und seiner Exkremente zu entledigen, und um Echsen und Schlangen zu jagen. Nachts waren sie leicht zu erwischen, denn sie hatten sich unter Steinplatten oder in kleine Höhlen zurückgezogen, wo er sie mit seiner Nase aufspürte.
Zum Gipfel hinauf stieg er während der ersten Wochen wohl noch ein paar Mal, um den Horizont abzuwittern. Bald aber war dies mehr eine lästige Gewohnheit als eine Notwendigkeit geworden, denn kein einziges Mal hatte er Bedrohliches gerochen. Und so stellte er schließlich die Exkursionen ein und war nur noch darauf bedacht, so schnell wie möglich in seine Gruft zurückzukehren, wenn er die fürs schiere Überleben allernötigsten Verrichtungen hinter sich gebracht hatte. Denn hier, in der Gruft, lebte er eigentlich. Das heißt, er saß weit über zwanzig Stunden am Tag in vollkommener Dunkelheit und vollkommener Stille und vollkommener Bewegungslosigkeit auf seiner Pferdedecke am Ende des steinernen Ganges, hatte den Rücken gegen das Geröll gelehnt, die Schultern zwischen die Felsen geklemmt, und genügte sich selbst.
Man weiß von Menschen, die die Einsamkeit suchen: Büßer, Gescheiterte, Heilige oder Propheten. Sie ziehen sich vorzugsweise in Wüsten zurück, wo sie von Heuschrecken und wildem Honig leben. Manche wohnen auch in Höhlen und Klausen auf abgelegenen Inseln oder hocken sich – etwas spektakulärer – in Käfige, die auf Stangen montiert sind und hoch in den Lüften schweben. Sie tun das, um Gott näher zu sein. Sie kasteien sich mit der Einsamkeit und tun Buße durch sie. Sie handeln im Glauben, ein gottgefälliges Leben zu führen. Oder sie warten monate- oder jahrelang darauf, dass ihnen in der Einsamkeit eine göttliche Mitteilung zukomme, die sie dann eiligst unter den Menschen verbreiten wollen.
Nichts von alledem traf auf Grenouille zu. Er hatte mit Gott nicht das geringste im Sinn. Er büßte nicht und wartete auf keine höhere Eingebung. Nur zu seinem eigenen, einzigen Vergnügen hatte er sich zurückgezogen, nur, um sich selbst nahe zu sein. Er badete in seiner eigenen, durch nichts mehr abgelenkten Existenz und fand das herrlich. Wie seine eigene Leiche lag er in der Felsengruft, kaum noch atmend, kaum dass sein Herz noch schlug – und lebte doch so intensiv und ausschweifend, wie nie ein Lebemann draußen in der Welt gelebt hat.
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Schauplatz dieser Ausschweifungen war – wie könnte es anders sein – sein inneres Imperium, in das er von Geburt an die Konturen aller Gerüche eingegraben hatte, denen er jemals begegnet war. Um sich in Stimmung zu bringen, beschwor er zunächst die frühesten, die allerentlegensten: den feindlichen, dampfigen Dunst der Schlafstube von Madame Gaillard; das ledrig verdorrte Odeur ihrer Hände; den essigsauren Atem des Pater Terrier; den hysterischen, heißen mütterlichen Schweiß der Amme Bussie; den Leichengestank des Cimetiere des Innocents; den Mördergeruch seiner Mutter. Und er schwelgte in Ekel und Hass, und es sträubten sich seine Haare vor wohligem Entsetzen.
Manchmal, wenn ihn dieser Aperitif der Abscheulichkeiten noch nicht genügend in Fahrt gebracht hatte, gestattete er sich auch einen kleinen geruchlichen Abstecher zu Grimal und kostete vom Gestank der rohen, fleischigen Häute und der Gerbbrühen, oder er imaginierte den versammelten Brodem von sechshunderttausend Parisern in der schwülen lastenden Hitze des Hochsommers.
Und dann brach mit einem Mal – das war der Sinn der Übung – mit orgastischer Gewalt sein angestauter Hass hervor. Wie ein Gewitter zog er her über diese Gerüche, die es gewagt hatten, seine erlauchte Nase zu beleidigen. Wie Hagel auf ein Kornfeld drosch er auf sie ein, wie ein Orkan zerstäubte er das Geluder und ersäufte es in einer riesigen reinigenden Sintflut destillierten Wassers. So gerecht war sein Zorn. So groß war seine Rache. Ah! Welch sublimer Augenblick! Grenouille, der kleine Mensch, zitterte vor Erregung, sein Körper krampfte sich in wollüstigem Behagen und wölbte sich auf, so dass er für einen Moment mit dem Scheitel an die Decke des Stollens stieß, um dann langsam zurückzusinken und liegen zu bleiben, gelöst und tief befriedigt. Er war wirklich zu angenehm, dieser eruptive Akt der Extinktion aller widerwärtigen Gerüche, wirklich zu angenehm… Fast war ihm diese Nummer das liebste in der ganzen Szenenfolge seines inneren Welttheaters, denn sie vermittelte das wunderbare Gefühl rechtschaffener Erschöpfung, das nur den wirklich großen, heldenhaften Taten folgt.