Gesetzt nun den Fall – so dachte Richis weiter – , der Mörder war solch ein Sammler von Schönheit und arbeitete am Bildnis der Vollkommenheit, und sei es auch nur in der Phantasie seines kranken Hirns; gesetzt ferner, er war ein Mann von höchstem Geschmack und perfekter Methode, wie er es in der Tat zu sein schien, dann konnte man nicht annehmen, dass er auf den kostbarsten Baustein zu jenem Bildnis verzichtete, den es auf Erden zu finden gab: auf die Schönheit von Laure. Sein ganzes bisheriges Mordwerk wäre nichts wert ohne sie. Sie war der Schlussstein seines Gebäudes.
Richis, während er diese entsetzliche Folgerung zog, saß im Nachtgewand auf seinem Bett und wunderte sich darüber, wie ruhig er geworden war. Er fröstelte und zitterte nicht mehr. Die unbestimmte Angst, die ihn seit Wochen geplagt hatte, war verschwunden und dem Bewusstsein einer konkreten Gefahr gewichen: Des Mörders Sinn und Trachten war ganz offenbar auf Laure gerichtet, von Anfang an. Und alle andern Morde waren Beiwerk für diesen letzten krönenden Mord. Zwar blieb unklar, welchen materiellen Zweck die Morde haben sollten und ob sie einen solchen überhaupt besaßen. Aber das Wesentliche, nämlich des Mörders systematische Methode und sein ideelles Motiv, hatte Richis durchschaut. Und je länger er darüber nachdachte, desto besser gefielen ihm beide und desto größer wurde seine Hochachtung vor dem Mörder – eine Hochachtung freilich, die sogleich wie aus einem blanken Spiegel auf ihn selbst zurückstrahlte, denn immerhin war er, Richis, es ja gewesen, der mit seinem feinen analytischen Verstand dem Gegner auf die Schliche gekommen war.
Wenn er, Richis, selbst ein Mörder wäre und von des Mörders selben leidenschaftlichen Ideen besessen, hätte er auch nicht anders vorgehen können, als jener bisher vorgegangen war, und würde wie dieser alles daransetzen, sein Wahnsinnswerk durch einen Mord an Laure, der herrlichen, der einzigartigen, zu krönen.
Dieser letzte Gedanke gefiel ihm ganz besonders gut. Dass er in der Lage war, sich gedanklich in die Lage des künftigen Mörders seiner Tochter zu versetzen, machte ihn dem Mörder nämlich haushoch überlegen. Denn der Mörder, das stand fest, war bei all seiner Intelligenz gewiss nicht in der Lage, sich in Richis' Lage zu versetzen – und sei's nur, weil er gewiss nicht ahnen konnte, dass Richis sich längst in seine, des Mörders Lage versetzt hatte. Im Grunde war das nicht anders als im Geschäftsleben auch – mutatis mutandis, versteht sich. Einem Konkurrenten, dessen Absichten man durchschaut hatte, war man überlegen; von ihm ließ man sich nicht mehr aufs Kreuz legen; nicht, wenn man Antoine Richis hieß, mit allen Wassern gewaschen war und eine Kämpfernatur besaß. Schließlich waren ihm der größte Duftstoffhandel Frankreichs, sein Reichtum und das Amt des Zweiten Konsuls nicht gnadenhalber in den Schoß gefallen, sondern er hatte sie sich erkämpft, ertrotzt, erschlichen, indem er Gefahren beizeiten erkannt, die Pläne der Konkurrenten schlau erraten und Widersacher ausgestochen hatte. Und seine künftigen Ziele, die Macht und Nobilität seiner Nachkommenschaft, würde er ebenso erreichen. Und nicht anders würde er die Pläne jenes Mörders durchkreuzen, seines Konkurrenten um den Besitz an Laure – und wäre es nur deshalb, weil Laure auch den Schlussstein im Gebäude seiner, Richis', eigenen Pläne bildete. Er liebte sie, gewiss; aber er brauchte sie auch. Und was er brauchte zur Verwirklichung seiner höchsten Ambitionen, das ließ er sich von niemandem entwinden, das hielt er fest mit Zähnen und mit Klauen.
Nun war ihm wohler. Nachdem es ihm gelungen war, seine nächtlichen Überlegungen betreffs Kampf mit dem Dämon auf die Ebene einer geschäftlichen Auseinandersetzung herabzudrücken, spürte er, wie frischer Mut, ja Übermut ihn erfasste. Verflogen war der letzte Rest von Angst, verschwunden das Gefühl von Verzagtheit und grämlicher Sorge, das ihn wie einen senilen Tattergreis gequält hatte, weggeblasen der Nebel von düsteren Ahnungen, in dem er seit Wochen herumtappte. Er befand sich auf vertrautem Terrain und fühlte sich jeder Herausforderung gewachsen.
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Erleichtert, vergnügt fast, sprang er aus dem Bett, zog am Klingelband und befahl seinem schlaftrunken hereintaumelnden Diener, Kleider und Proviant zu packen, da er gedächte, bei Tagesanbruch in Begleitung seiner Tochter nach Grenoble zu reisen. Dann zog er sich an und scheuchte das übrige Personal aus den Betten.
Mitten in der Nacht erwachte das Haus in der Rue Droite zu emsigem Leben. In der Küche flammten die Feuer auf, durch die Gänge huschten die aufgeregten Mägde, treppauf treppab eilte der Diener, in den Kellergewölben klapperten die Schlüssel des Lagerverwalters, im Hof leuchteten Fackeln, Knechte liefen um Pferde, andere zerrten die Maultiere aus den Ställen, es wurde gezäumt, gesattelt, gerannt und geladen – man hätte glauben können, die austrosardischen Horden seien plündernd und sengend im Anmarsch wie anno 1746 und der Hausherr rüste in panischer Eile zur Flucht. Doch keineswegs! Der Hausherr saß souverän wie ein Marschall von Frankreich am Schreibtisch seines Kontors, trank Milchkaffee und erließ seine Anweisungen an die ständig hereinstürzenden Domestiken. Nebenher schrieb er Briefe an den Bürgermeister und Ersten Konsul, an seinen Notar, an seinen Anwalt, an seinen Bankier in Marseille, an den Baron de Bouyon und an diverse Geschäftspartner.
Gegen sechs Uhr früh hatte er die Korrespondenz erledigt und alle zu seinen Plänen notwendigen Verfügungen getroffen. Er steckte zwei kleine Reisepistolen zu sich, schnallte sich seinen Geldgürtel um und sperrte den Schreibtisch zu. Dann ging er seine Tochter wecken.
Um acht setzte sich die kleine Karawane in Bewegung. Richis ritt voran, er war prächtig anzusehen in einem weinroten, goldbetressten Rock, schwarzer Redingote und schwarzem Hut mit kessem Federbusch. Ihm folgte seine Tochter, bescheidener gekleidet, aber so strahlend schön, dass das Volk auf der Straße und an den Fenstern nur Augen für sie hatte, dass andächtige Ahs und Ohs durch die Menge gingen und die Männer ihren Hut zogen – scheinbar vor dem zweiten Konsul, in Wahrheit aber vor ihr, der königlichen Frau. Dann kam, fast unbeachtet, die Zofe, dann Richis' Diener mit zwei Packpferden – die Verwendung eines Wagens verbot sich wegen des berüchtigt schlechten Zustands der Grenobler Route – , und den Abschluss des Zuges bildeten ein Dutzend mit allen möglichen Waren beladene Maultiere unter Aufsicht zweier Knechte. An der Porte du Cours präsentierten die Wachen das Gewehr und ließen es erst wieder sinken, als das letzte Maultier vorübergetippelt war. Kinder liefen hinterher, noch eine ganze Weile lang, winkten dem Tross nach, der sich langsam auf dem steilen, gewundenen Weg bergwärts entfernte.
Auf die Menschen machte der Auszug des Antoine Richis mit seiner Tochter einen seltsam tiefen Eindruck. Ihnen war, als hätten sie einem archaischen Opfergang beigewohnt. Es hatte sich herumgesprochen, dass Richis nach Grenoble reiste, in jene Stadt also, wo neuerdings das mädchenmordende Monster hauste. Die Leute wussten nicht, was sie davon halten sollten. War es sträflicher Leichtsinn, was Richis tat, oder bewundernswerter Mut? War es eine Herausforderung oder eine Besänftigung der Götter? Sie ahnten nur sehr undeutlich, dass sie das schöne Mädchen mit den roten Haaren soeben zum letzten Mal gesehen hatten. Sie ahnten, dass Laure Richis verloren war.
Diese Ahnung sollte sich als richtig erweisen, obwohl sie auf völlig falschen Voraussetzungen beruhte. Richis zog nämlich keineswegs nach Grenoble. Der pompöse Auszug war nichts als eine Finte gewesen. Anderthalb Meilen nordwestlich von Grasse, in der Nähe des Dorfes Saint-Vallier, ließ er anhalten. Er händigte seinem Diener Vollmachten und Begleitschreiben aus und befahl ihm, den Maultiertreck allein mit den Knechten nach Grenoble zu bringen.
Er selbst wandte sich mit Laure und der Zofe in Richtung Cabris, wo er eine Mittagspause einlegte, und ritt dann quer durch das Gebirge des Tanneron nach Süden. Der Weg war äußerst beschwerlich, aber er gestattete es, Grasse und das Grasser Becken in einem weiten westlichen Bogen zu umgehen und bis zum Abend unerkannt die Küste zu erreichen… Am folgenden Tag – so Richis' Plan – wollte er sich mit Laure nach den Lerinischen Inseln übersetzen lassen, auf deren kleinerer sich das wohlbefestigte Kloster Saint-Honorat befand. Es wurde von einem Häuflein greiser, aber noch durchaus wehrfähiger Mönche bewirtschaftet, mit denen Richis gut bekannt war, denn er kaufte und vertrieb schon seit Jahren die gesamte klösterliche Produktion an Eukalyptuslikör, Pinienkernen und Zypressenöl. Und eben dort, im Kloster Saint-Honorat, dem neben dem Zuchthaus von Chateau d'If und dem Staatsgefängnis der Ile Sainte-Mar-guerite wohl sichersten Ort der Provence, gedachte er seine Tochter fürs erste unterzubringen. Er selbst würde unverzüglich wieder aufs Festland zurückkehren, Grasse diesmal via Antibes und Cagnes östlich umgehen, um noch am Abend desselben Tages in Vence einzutreffen. Dorthin hatte er bereits seinen Notar bestellt zwecks einer zu treffenden Vereinbarung mit dem Baron de Bouyon über die Verehelichung ihrer Kinder Laure und Alphonse. Er wollte Bouyon ein Angebot machen, das dieser nicht würde ablehnen können: Übernahme von Schulden in Höhe von 40000 Livre, Mitgift bestehend aus einer Summe in gleicher Höhe sowie diversen Ländereien und einer Ölmühle bei Maganosc, eine jährliche Rente von 3000 Livre für das junge Paar. Einzige Bedingung Richis' war, dass die Ehe innerhalb von zehn Tagen eingegangen und am Hochzeitstag vollzogen würde, und dass das Paar anschließend Wohnung in Vence nahm.