Und so hatten sich beide bei ihrer kurzen Begegnung gegenseitig von ihrer Arglosigkeit überzeugt, zu Unrecht und zu Recht, und das war gut so, wie Grenouille fand, denn seine scheinbare und Richis' wirkliche Arglosigkeit erleichterten ihm, Grenouille, das Geschäft – eine Anschauung übrigens, die Richis im umgekehrten Fall durchaus geteilt hätte.
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Mit professioneller Bedächtigkeit ging Grenouille ans Werk. Er öffnete den Reisesack, entnahm ihm Leintuch, Pomade und Spatel, breitete das Tuch über die Decke, auf der er gelegen hatte, und begann es mit der Fettpaste zu bestreichen. Das war eine Arbeit, die ihre Zeit brauchte, denn es kam darauf an, das Fett hier in dickerer, dort in dünnerer Schicht aufzutragen, je nachdem, an welche Stelle des Körpers die jeweilige Partie des Tuches zu liegen käme. Mund und Achsel, Brust, Geschlecht und Füße gaben größere Duftmengen ab als etwa Schienbeine, Rücken und Ellbogen; Handflächen größere als Handrücken; Brauen größere als Lider etc. – und mussten dementsprechend kräftiger mit Fett versehen werden. Grenouille modellierte also gleichsam ein Duftdiagramm des zu behandelnden Körpers auf das Leintuch, und dieser Teil der Arbeit war ihm eigentlich der befriedigendste, denn es handelte sich um eine künstlerische Technik, die Sinne, Phantasie und Hände gleichermaßen beschäftigte und obendrein den Genuss des zu erwartenden Endergebnisses auf ideelle Weise vorwegnahm.
Als er das ganze Töpfchen Pomade aufgebraucht hatte, tupfte er noch da und dort, nahm an einer Stelle des Tuches Fett ab, fügte an einer anderen zu, retuschierte, überprüfte noch einmal die modellierte Fettlandschaft – mit der Nase übrigens, nicht mit den Augen, denn das ganze Geschäft spielte sich in vollkommener Finsternis ab, was vielleicht ein weiterer Grund für Grenouilles ausgeglichen freudige Stimmung war. In dieser Neumondnacht lenkte ihn nichts ab. Die Welt war nichts als nur Geruch und ein wenig Brandungsgeräusch vom Meer her. Er war in seinem Element. Dann schlug er das Tuch zusammen wie eine Tapete, so dass die befetteten Flächen aufeinanderlagen. Es war ihm dies eine schmerzliche Handlung, denn er wusste wohl, dass sich selbst bei aller Vorsicht Teile der ausgeformten Konturen dadurch abplatteten und verschoben. Aber es gab keine andere Möglichkeit, das Tuch zu transportieren. Nachdem er es soweit gefaltet hatte, dass er es ohne allzugroße Behinderung über den Unterarm gelegt tragen konnte, steckte er Spatel, Schere und die kleine Olivenholzkeule zu sich und schlich hinaus ins Freie.
Der Himmel war bedeckt. Im Haus brannte kein Licht mehr. Der einzige Funken in dieser stockfinsteren Nacht zuckte im Osten auf dem Leuchtturm des Forts auf der Ile Sainte-Marguerite, über eine Meile entfernt, ein winziger heller Nadelstich in rabenschwarzem Tuch. Aus der Bucht kam ein leichter fischiger Wind. Die Hunde schliefen.
Grenouille ging zur äußeren Tennenluke, an die eine Leiter gelehnt stand. Er hob die Leiter ab und balancierte sie aufrecht, drei Sprossen unter den freien rechten Arm geklemmt, den Überstand gegen die rechte Schulter gepresst, über den Hof bis unter ihr Fenster. Das Fenster stand halb offen. Als er die Leiter hinaufstieg, bequem wie auf einer Treppe, beglückwünschte er sich zu dem Umstand, den Duft des Mädchens hier in Napoule ernten zu dürfen. In Grasse, bei vergitterten Fenstern und streng bewachtem Haus, wäre alles sehr viel schwieriger gewesen. Hier schlief sie sogar allein. Er brauchte nicht einmal die Zofe auszuschalten.
Er drückte den Fensterflügel auf, schlüpfte in die Kammer und legte das Laken ab. Dann wandte er sich dem Bett zu. Der Duft ihres Haares dominierte, denn sie lag auf dem Bauch, und sie hatte das Gesicht, vom Armwinkel umrahmt, ins Kissen gedrückt, so dass sich ihr Hinterkopf in geradezu idealer Weise dem Keulenschlag präsentierte.
Das Geräusch des Schlages war dumpf und knirschend. Er hasste es. Er hasste es allein deshalb, weil es ein Geräusch war, ein Geräusch in seinem ansonsten lautlosen Geschäft. Nur mit zusammengebissenen Zähnen konnte er dieses ekelhafte Geräusch ertragen, und nachdem es vorüber war, stand er noch eine Weile lang steif und verbissen da, die Hand um die Keule gekrampft, als fürchte er, das Geräusch könne zurückkehren als widerhallendes Echo von irgendwoher. Es kehrte aber nicht zurück, sondern die Stille kehrte zurück in die Kammer, eine vermehrte Stille sogar, da nun nicht einmal mehr der schlürfende Atem des Mädchens ging. Und alsbald löste sich Grenouilles verspannte Haltung (die man vielleicht auch als eine Ehrfurchtshaltung oder eine Art verkrampfter Schweigeminute hätte deuten können), und sein Körper sank geschmeidig in sich zusammen.
Er steckte die Keule weg und war nun nur noch von emsiger Betriebsamkeit erfüllt. Als erstes faltete er das Beduftungstuch auseinander, breitete es locker mit der Rückseite über Tisch und Stühle und achtete darauf, dass die Fettseite unberührt blieb. Dann schlug er die Bettdecke zurück. Der herrliche Duft des Mädchens, der plötzlich warm und massiv aufquoll, berührte ihn nicht. Er kannte ihn ja, und genießen, genießen bis zum Rausch, würde er ihn später, wenn er ihn erst wirklich besaß. Jetzt ging es darum, möglichst viel davon einzufangen, möglichst wenig verströmen zu lassen, jetzt waren Konzentration und Eile geboten.
Mit raschen Scherenschnitten schlitzte er das Nachtgewand auf, zog es ihr aus, ergriff das befettete Laken und warf es über ihren nackten Körper. Dann hob er sie hoch, strich ihr das überhängende Tuch unter, rollte sie ein wie ein Bäcker den Strudel, falzte die Enden, umhüllte sie von den Zehen bis an die Stirn. Nur ihr Haar schaute noch aus dem Mumienverband hervor. Er schnitt es dicht über der Kopfhaut ab, packte es in ihr Nachthemd, das er zu einem Bündel verknotete. Zuletzt klappte er ein freigelassenes Stück Tuch über den geschorenen Schädel, strich das überlappende Ende glatt, tupfte es mit zartem Fingerdruck fest. Er überprüfte das ganze Paket. Kein Schlitz, kein Löchlein, kein aufgekniffenes Fältlein klaffte mehr, an dem der Duft des Mädchens hätte entweichen können. Sie war perfektverpackt. Es blieb nichts mehr zu tun, als zu warten, sechs Stunden lang, bis der Morgen graute.
Er nahm den kleinen Sessel, auf dem ihre Kleider lagen, trug ihn ans Bett und setzte sich. In dem weiten schwarzen Gewand hing noch der zarte Hauch ihres Duftes, vermischt mit dem Geruch von Anisplätzchen, die sie als Reiseproviant in die Tasche gesteckt hatte. Er legte seine Füße auf den Bettrand, in die Nähe ihrer Füße, deckte sich mit ihrem Kleid zu und aß die Anisplätzchen. Er war müde. Aber er wollte nicht schlafen, denn es gehörte sich nicht, dass man während der Arbeit schlief, auch wenn die Arbeit nur aus Warten bestand. Er erinnerte sich an die Nächte, die er in der Werkstatt Baldinis beim Destillieren verbracht hatte: an den rußgeschwärzten Alambic, an das flackernde Feuer, an das leise spuckende Geräusch, mit dem das Destillat aus dem Kühlrohr in die Florentinerflasche tröpfelte. Von Zeit zu Zeit hatte man nach dem Feuer sehen müssen, hatte Destillierwasser nachfüllen, die Florentinerflasche wechseln, das erschöpfte Destilliergut ersetzen müssen. Und dennoch war ihm immer gewesen, als wache man nicht, um diese gelegentlich anfallenden Tätigkeiten zu verrichten, sondern als habe die Wache ihren eigenen Sinn. Selbst hier in dieser Kammer, wo sich der Prozess der Enfleurage ganz von allein vollzog, ja, wo sogar ein unzeitiges Prüfen, Wenden und Betun des duftenden Pakets nur störend hätte wirken können selbst hier, so schien Grenouille, war seine wachende Gegenwart wichtig. Der Schlaf hätte den Geist des Gelingens gefährdet.
Es fiel ihm im übrigen nicht schwer, wachzubleiben und zu warten, trotz seiner Müdigkeit. Dieses Warten liebte er. Auch bei den vierundzwanzig anderen Mädchen hatte er es geliebt, denn es war ja kein dumpfes Dahinwarten und auch kein sehnsüchtiges Herbeiwarten, sondern ein begleitendes, sinnvolles, gewissermaßen ein tätiges Warten. Es tat sich etwas während dieses Wartens. Das Wesentliche tat sich. Und wenn er es auch nicht selbst tat, so tat es sich doch durch ihn. Er hatte sein Bestes gegeben. Er hatte all seine Kunstfertigkeit aufgebracht. Kein Fehler war ihm unterlaufen. Das Werk war einzigartig. Es würde von Erfolg gekrönt sein… Nur noch ein paar Stunden warten musste er. Es befriedigte ihn zutiefst, dieses Warten. Er hatte sich in seinem Leben nie so wohl gefühlt, so ruhig, so ausgeglichen, so eins und einig mit sich selbst – auch damals nicht in seinem Berg – wie in diesen Stunden der handwerklichen Pause, da er in tiefster Nacht bei seinen Opfern saß und wachend wartete. Es waren die einzigen Momente, da sich in seinem düsteren Hirn fast heitere Gedanken bildeten.
Sonderbarerweise gingen diese Gedanken nicht in die Zukunft. Er dachte nicht an den Duft, den er in ein paar Stunden ernten würde, nicht an das Parfum aus fünfundzwanzig Mädchenauren, nicht an künftige Pläne, Glück und Erfolg. Nein, er gedachte seiner Vergangenheit. Er erinnerte sich an die Stationen seines Lebens vom Hause der Madame Gaillard und dem feuchtwarmen Holzstoß davor bis zu seiner heutigen Reise in das kleine fischig riechende Dorf Napoule. Er gedachte des Gerbers Grimal, Giuseppe Baldinis, des Marquis de la Taillade-Espinasse. Er gedachte der Stadt Paris, ihres großen tausendfach schillernden üblen Brodems, er gedachte des rothaarigen Mädchens in der Rue des Marais, des freien Landes, des dünnen Winds, der Wälder. Er gedachte auch des Bergs in der Auvergne – er umging diese Erinnerung keineswegs – , seiner Höhle, der menschenleeren Luft. Er gedachte auch seiner Träume. Und er gedachte all dieser Dinge mit großem Wohlgefallen. Ja, es schien ihm, wenn er so zurückdachte, dass er ein vom Glück besonders begünstigter Mensch sei und dass sein Schicksal ihn auf zwar verschlungenen, doch letzten Endes richtigen Wegen geführt habe – wie wäre es sonst möglich gewesen, dass er hierhergefunden hätte, in diese dunkle Kammer, ans Ziel seiner Wünsche? Er war, wenn er sich's recht überlegte, ein wirklich begnadetes Individuum!
Rührung stieg in ihm auf, Demut und Dankbarkeit. »Ich danke dir«, sagte er leise, »ich danke dir, Jean-Baptiste Grenouille, dass du so bist, wie du bist!« So ergriffen war er von sich selbst.
Dann schloss er die Lider – nicht, um zu schlafen, sondern um sich ganz dem Frieden dieser Heiligen Nacht hinzugeben. Der Friede erfüllte sein Herz. Aber es schien ihm, als herrsche er auch ringsum. Er roch den friedlichen Schlaf der Zofe im Nebenzimmer, den tiefbefriedigten Schlaf des Antoine Richis jenseits des Ganges, er roch den friedlichen Schlummer des Wirts und der Knechte, der Hunde, der Tiere im Stall, des ganzen Orts und des Meeres. Der Wind hatte sich gelegt. Alles war still. Nichts störte den Frieden.