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Man untersuchte die Werkstatt, man untersuchte die Kabane im Olivengarten hinter dem Franziskanerkloster. In einer Ecke, kaum versteckt, lagen das zerschnittene Nachtgewand, das Unterhemd und die roten Haare der Laure Richis. Und als man den Boden aufgrub, kamen nach und nach die Kleider und Haare der anderen vierundzwanzig Mädchen zum Vorschein. Die Holzkeule fand sich, mit der die Opfer erschlagen worden waren, und der leinene Reisesack. Die Indizien waren überwältigend. Man ließ die Kirchenglocken läuten. Der Gerichtspräsident gab durch Ausruf und Anschlag bekannt, dass der berüchtigte Mädchenmörder, nach dem man fast ein Jahr lang gefahndet habe, endlich gefasst und in festem Gewahrsam sei.

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Zunächst glaubten die Leute nicht an die Verlautbarung. Sie hielten sie für eine Finte, mit der die Behörden ihre eigene Unfähigkeit kaschieren und die gefährlich gereizte Stimmung des Volkes beruhigen wollten. Zu gut erinnerte man sich noch der Zeit, da es geheißen hatte, der Mörder sei nach Grenoble abgezogen. Zu fest hatte sich diesmal die Angst in die Seelen der Menschen gefressen.

Erst als am folgenden Tag auf dem Kirchplatz vor der Prévoté die Beweisstücke öffentlich ausgestellt wurden – es war ein schauerliches Bild, die fünfundzwanzig Gewänder mit den fünfundzwanzig Haarbüscheln, wie Vogelscheuchen an Stangen aufgezogen, an der Stirnseite des Platzes, der Kathedrale gegenüber, aufgereiht zu sehen – da wandelte sich die öffentliche Meinung.

Zu vielen Hunderten defilierten die Menschen an der makabren Galerie vorüber. Angehörige der Opfer, die die Kleider wiedererkannten, brachen schreiend zusammen. Die übrige Menge, teils aus Sensationslust, teils um völlig überzeugt zu sein, begehrte den Mörder zu sehen. Die Rufe nach ihm wurden bald so laut, die Unruhe auf dem kleinen, menschenwogenden Platz so bedrohlich, dass der Präsident sich entschloss, Grenouille aus seiner Zelle heraufbringen zu lassen und ihn an einem Fenster des ersten Stocks der Prévoté zu präsentieren.

Als Grenouille ans Fenster trat, verstummte das Gebrüll. Es war mit einem Mal so vollständig still wie an einem heißen Sommertag zur Mittagsstunde, wenn alles draußen auf den Feldern ist oder sich in den Schatten der Häuser verkriecht. Kein Tritt, kein Räuspern, kein Atmen war mehr zu hören. Die Menge war nur noch Auge und offener Mund, minutenlang. Kein Mensch konnte es fassen, dass der windige, kleine, geduckte Mann dort oben am Fenster, dieses Würstchen, dieses armselige Häuflein, dieses Nichts, über zwei Dutzend Morde begangen haben sollte. Er sah einem Mörder einfach nicht gleich. Niemand hätte zwar sagen können, wie er sich den Mörder, diesen Teufel, eigentlich vorgestellt hatte, aber alle waren sich einig: so nicht! Und dennoch – obwohl der Mörder den Vorstellungen der Leute so gar nicht entsprach und seine Präsentation daher, wie man würde meinen können, wenig überzeugend hätte wirken sollen, ging paradoxerweise allein von der Leibhaftigkeit dieses Menschen am Fenster und von der Tatsache, dass eben nur er und kein anderer als Mörder präsentiert wurde, eine überzeugende Wirkung aus. Sie dachten alle: Das kann doch nicht wahr sein! – und wussten im selben Moment, dass es wahr sein müsse.

Freilich, erst als die Wachen das Männlein wieder zurück ins Dunkel des Zimmers gezogen hatten, erst als es also nicht mehr gegenwärtig und sichtbar, sondern nur noch, wenn auch für kürzeste Zeit, als Erinnerung, fast möchte man sagen als Begriff in den Hirnen der Menschen existierte, als Begriff eines abscheulichen Mörders – da erst wich die Verblüffung der Menge und schaffte Raum für eine angemessene Reaktion: Die Münder klappten zu, die tausend Augen belebten sich wieder. Und dann erscholl es in einem einzigen donnernden Wut- und Racheschrei: »Wir wollen ihn haben!« Und sie schickten sich an, die Prévoté zu stürmen, um ihn mit eigenen Händen zu erwürgen, zu zerreißen und zu zerstückeln. Die Wachen hatten alle Mühe, das Tor zu verrammeln und den Mob zurückzudrängen. Grenouille wurde schleunigst in sein Verlies gebracht. Der Präsident trat ans Fenster und versprach ein schnelles und exemplarisch strenges Verfahren. Trotzdem dauerte es noch Stunden, ehe sich die Menge verlaufen, noch Tage, eh sich die Stadt leidlich beruhigt hatte.

In der Tat ging der Prozess gegen Grenouille äußerst zügig vonstatten, da nicht nur die Beweismittel erdrückend waren, sondern der Angeklagte selbst bei den Vernehmungen ohne Umschweife die ihm zur Last gelegten Morde gestand.

Allein nach seinen Motiven befragt, wusste er keine befriedigende Antwort zu geben. Er wiederholte immer nur, er habe die Mädchen gebraucht und sie deshalb erschlagen. Wozu er sie gebraucht habe und was das überhaupt bedeuten sollte, »er habe sie gebraucht« – dazu schwieg er. Man überantwortete ihn daraufhin der Folter, hängte ihn stundenlang an den Füßen auf, pumpte ihm sieben Finten Wasser ein, setzte Fußzwingen – ohne den geringsten Erfolg. Der Mensch schien gegen körperliche Schmerzen unempfindlich, gab keinen Laut von sich und sagte, wenn er abermals befragt wurde, nichts als: »Ich habe sie gebraucht. « Die Richter hielten ihn für geisteskrank. Sie setzten die Folter ab und beschlossen, das Verfahren ohne weitere Vernehmungen zu Ende zu bringen.

Die einzige Verzögerung, die sich noch ergab, war ein juristisches Geplänkel mit dem Magistrat von Draguignan, in dessen Vogtei La Napoule gelegen war, und dem Parlament in Aix, welche beide den Prozess an sich bringen wollten. Aber die Grasser Richter ließen sich die Sache nicht mehr entwinden. Sie waren es gewesen, die den Täter gefasst hatten, in ihrem Zuständigkeitsbereich war die überwiegende Anzahl der Morde begangen worden, und ihnen drohte der geballte Volkszorn, wenn sie den Mörder einem anderen Gericht überließen. Sein Blut musste in Grasse fließen.

Am 15. April 1766 wurde das Urteil gefällt und dem Angeklagten in seiner Zelle verlesen: »Der Parfumeurgeselle Jean-Baptiste Grenouille«, so hieß es da, »soll binnen achtundvierzig Stunden auf den Cours vor die Tore der Stadt geführt, dort, das Gesicht zum Himmel, auf ein Holzkreuz gebunden werden, bei lebendigem Leib zwölf Schläge mit einer eisernen Stange erhalten, die ihm die Gelenke der Arme, Beine, Hüften und Schultern zerschmettern, und danach auf dem Kreuze angeflochten aufgestellt werden bis zu seinem Tode.« Die übliche Gnadenpraxis, den Delinquenten nach dem Zerschmettern mittels eines Fadens zu erwürgen, wurde dem Scharfrichter ausdrücklich untersagt, auch wenn der Todeskampf sich über Tage hinziehen sollte. Die Leiche sei nächtens auf dem Schindanger zu vergraben, der Ort nicht zu kennzeichnen.

Grenouille nahm den Spruch ohne Regung entgegen. Der Gerichtsdiener fragte ihn nach seinem letzten Wunsch. »Nichts«, sagte Grenouille; er habe alles, was er brauche.

Ein Priester ging in die Zelle, um ihm die Beichte abzunehmen, kam aber schon nach einer Viertelstunde unverrichteter Dinge wieder heraus. Der Verurteilte habe ihn bei der Erwähnung des Namens Gottes so absolut verständnislos angeschaut, als höre er diesen Namen soeben zum ersten Mal, sich dann auf seiner Pritsche ausgestreckt, um sofort in tiefsten Schlaf zu versinken. Jedes weitere Wort sei sinnlos gewesen.

In den folgenden zwei Tagen kamen viele Menschen, um den berühmten Mörder aus der Nähe zu sehen. Die Wärter ließen sie durch die Klappe an der Zellentüre einen Blick tun und verlangten sechs Sol pro Blick. Ein Kupferstecher, der eine Skizze anfertigen wollte, musste zwei Franc bezahlen. Das Motiv war aber eher enttäuschend. Der Gefangene, an Fuß- und Handgelenken angekettet, lag die ganze Zeit auf der Pritsche und schlief. Das Gesicht hatte er zur Wand gekehrt, und er reagierte weder auf Klopfzeichen noch auf Zurufe. Der Zutritt zur Zelle war Besuchern strikt verwehrt, und die Wärter wagten es trotz verlockender Angebote nicht, sich über dies Verbot hinwegzusetzen. Man fürchtete, der Gefangene könne von einem Angehörigen seiner Opfer zur Unzeit ermordet werden. Aus dem gleichen Grund durfte ihm auch kein Essen zugeschoben werden. Es hätte vergiftet sein können. Während der ganzen Gefangenschaft erhielt Grenouille sein Essen aus der Gesindeküche des bischöflichen Palastes, welches der Gefängnisoberaufseher vorzukosten hatte. Die letzten beiden Tage aß er freilich gar nichts. Er lag und schlief. Gelegentlich klirrten seine Ketten, und wenn der Wärter an die Türklappe eilte, konnte er ihn einen Schluck aus der Wasserflasche nehmen, sich wieder aufs Lager werfen und weiterschlafen sehen. Es schien, als sei dieser Mensch seines Lebens derart müde, dass er nicht einmal mehr die letzten Stunden davon in wachem Zustand miterleben wollte.

Unterdessen wurde der Cours für die Hinrichtung vorbereitet. Zimmerleute bauten ein Schafott, drei mal drei Meter groß und zwei Meter hoch, mit Geländer und einer soliden Treppe – ein so prächtiges hatte man in Grasse noch nie gehabt. Dazu eine Holztribüne für die Honoratioren und einen Zaun gegen das gemeine Volk, das in gewisser Distanz gehalten werden sollte. Die Fensterplätze in den Häusern links und rechts der Porte du Cours und im Gebäude der Wache waren längst zu exorbitanten Preisen vermietet. Sogar in der etwas seitwärts gelegenen Charité hatte der Gehilfe des Scharfrichters den Kranken ihre Zimmer abgehandelt und mit hohem Gewinn an Schaulustige weitervermietet. Die Limonadenverkäufer mischten kannenweise Lakritzenwasser auf Vorrat, der Kupferstecher druckte seine im Gefängnis genommene und aus der Phantasie noch ein wenig rasanter gestaltete Skizze des Mörders in vielen hundert Exemplaren, fliegende Händler strömten zu Dutzenden in die Stadt, die Bäcker buken Gedenkplätzchen.