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»Jacob ist der Sieger!« stieß Sam Kelley freudig aus und lief zu dem wankenden Deutschen, um ihn zu stützen.
Fast eine Minute hatte es gedauert, bis der Schmied die Stille durchbrach, die alle Umstehenden erfaßt hatte, als Patrick O'Rourke wie ein gefällter Baum zu Boden stürzte. Gebannt hatten aller Augen an den beiden Kontrahenten gehangen, hatten die Auswanderer darauf gewartet, ob sich der Ire wieder erhob - oder ob der Deutsche neben ihm zu Boden ging.
Aber nichts von beidem geschah.
O'Rourke lag so reglos wie ein Toter am Boden.
Und Jacob schwankte zwar bedenklich, aber er hielt sich aufrecht. Sein Kopf sah aus, als sei er unter ein wild auskeilendes Pferd geraten. Das linke Auge war zugeschwollen. An mehreren Stellen war die Haut aufgeplatzt. Von einer großen Wunde an der Stirn floß ein unablässiger Blutstrom über seine Wange und färbte sein grünes Halstuch rot.
Irene lud den kleinen Jamie in den Armen von Sam Kelleys Frau Aretha ab und lief zu Jacob, stützte ihn auf der anderen Seite und fragte ihn besorgt, wie es ihm ging.
»Lebe ich noch?« krächzte Jacob und verzog seine Lippen mühsam zu einem Lächeln.
Um den unterlegenen Iren kümmerten sich dessen Frau und sein Bruder.
Letzterer stand schließlich mit wütendem Gesichtsausdruck auf und richtete seine Schrotflinte auf Jacob, Sam Kelley und Irene.
»Du hast meinen Bruder übel zugerichtet, Dutch! Ich hätte nicht übel Lust, dich dafür zur Hölle zu schicken!«
»Ihr Bruder wollte es doch so haben!« fuhr Sam Kelley den Iren an. »Er hat Jacob herausgefordert.«
»Halt's Maul, Nigger!« Liam O'Rourke zog beide Hähne seiner Flinte zurück. »Ich habe soviel Schrot hier drin, um euch beide bis zurück nach Kansas City zu pusten!«
»Und ich habe genug Kugeln in meinem Colt, um deinen Kopf hinterherzuschicken, O'Rourke«, sagte der junge Mann, der mit ein paar schnellen Schritten hinter den Iren getreten war und mit dem Lauf seines Revolvers auf dessen Kopf zielte.
Auch er zog mit laut vernehmlichen Klicken den Hahn zurück.
Es war Aaron Zachary.
»Was mischen Sie sich ein, Zachary?« fragte Liam O'Rourke, nicht mehr ganz so großspurig. »Sie geht die Sache gar nichts an. Ihr Vater ist nicht mehr unser Captain.«
»Jacob Adler hat meinem Bruder Andy das Leben gerettet. Grund genug für mich, jetzt für ihn einzutreten. Außerdem ist es meine Pflicht, ihm als Treck-Captain beizustehen. Mein Vater hätte es so gewollt.«
»Ihr Zacharys spuckt immer große Töne«, stieß der Ire wütend hervor und ließ seinen Blick von Aaron zu Jacob wandern. »Genauso wie dieser verdammte Dutch. Eure Clique hält fest zusammen, wie? Bei jedem Treck ist es üblich, daß der Captain in freier Wahl bestimmt wird. Aber ihr nehmt euch einfach heraus, einen Mann zu bestimmen. Mit welchem Recht? Nur, weil der alte Prediger ein paar von euch vom Stockton Lake weggeführt hat? Wäre vielleicht besser gewesen, die Missourier hätten vorher mit euch abgerechnet!«
Aaron drückte die kalte Mündung seines alten Wells Fargo Colts in O'Rourkes Nacken.
»Wenn du noch einmal meinen toten Vater beleidigst, Rotschopf, bist du ein toter Mann!«
»Aufhören!« schrie Jacob mit aller ihm verbliebenen Kraft. »Ich habe genug von der Streiterei. Laßt die Waffen sinken, alle beide!«
Widerwillig gehorchte erst der Ire, dann Aaron Zachary. Beide ließen vorsichtig die Waffenhähne zurückgleiten.
»Abner Zachary war schon Captain des Trecks, bevor viele von uns dazugestoßen sind«, fuhr Jacob laut, an alle Auswanderer gerichtet, fort. »Alle haben seine Autorität anerkannt, als sie zum Treck kamen. Das gilt auch für mich. Ich hätte seine Wahl eines Nachfolgers auch dann respektiert, wenn sie nicht auf mich gefallen wäre. Aber ich kann verstehen, daß nicht alle so denken. Ich will nicht, daß der Streit darüber den Zusammenhalt im Treck zerstört. Deshalb sucht euch einen Captain nach eurer eigenen Wahl!«
Jacob war froh, als seine Ansprache beendet war. Das Sprechen bereitete ihm bei jeder Silbe starke Schmerzen. Während die Auswanderer erregt über seine Aufforderung diskutierten, ließ er sich von Sam Kelley und Irene zu seinem Wagen bringen, wo die junge Frau seine Wunden reinigte und seine Schmerzen mit feuchten Umschlägen zu lindern versuchte.
»Ich gehe besser zu den anderen«, brummte der Schmied, der skeptische Blicke auf seine Gefährten warf. »Sonst wird tatsächlich noch einer dieser bornierten Iren zum Captain gewählt.«
»War das nötig, Jacob?« fragte Irene, die mit einer Hand sein Gesicht hielt und mit der anderen die Wunden vom Dreck reinigte.
»Was?« fragte Jacob aufgeschreckt.
Für ein paar Sekunden hatte er einfach Irenes Nähe und Fürsorge genossen, sich ihren zarten Berührungen hingegeben und dem süßen Duft ihrer Haut.
»Der Kampf gegen dieses irische Ungeheuer«, präzisierte die Frau ihre Frage. »Wozu das Ganze, wenn du die Leute jetzt doch ihren eigenen Captain wählen läßt?«
»Vielleicht wählen sie ja mich«, grinste er. »Wäre nach O'Rourkes Niederlage durchaus möglich.«
Sein Gesicht wurde wieder ernst.
»Ich mußte es dem Iren einfach zeigen, daß er sich den Gesetzen des Trecks unterzuordnen hat. Solche Leuten darf man nicht alles durchgehen lassen, sonst geht jede Ordnung verloren. Schlimmer noch, O'Rourke ist in der Lage, den Auswanderern mit seinen Geschichten vom Goldland Kalifornien Flausen in den Kopf zu setzen, die alle ins Verderben führen. Ich hoffe, ich konnte ihn wenigstens etwas zurechtstutzen.«
Jacob sah hinüber zum Platz ihrer Auseinandersetzung, wo Patrick O'Rourke mit Hilfe seiner rothaarigen Frau Sarah wieder auf die Beine kam. Er schwankte heftig und wäre wieder zu Boden gegangen, hätte Sarah ihn nicht gestützt. Aber sein angeschlagener Zustand hielt ihn nicht davon ab, schon wieder hitzige Reden zu schwingen.
Der junge Zimmermann konnte nicht verstehen, was der Ire sagte. Aber sicher waren seine Worte nicht schmeichelhaft für Jacob. Hatte Irene recht? Hatte er diesen harten Kampf für nichts und wieder nichts ausgestanden?
»O'Rourke scheint die Leute anzustacheln, ihn zum neuen Captain zu wählen«, meinte Irene, während sie die mit Wasser gereinigten Wunden zur Desinfizierung mit einer Karbolsäurelösung auswusch. »Willst du nicht zu ihnen gehen und dem Iren die nötigen Antworten geben, Jacob?«
Er zuckte mit den Schultern.
»Wozu? Ich habe alles gesagt.«
Jacob beobachtete, wie sich alle Männer des Trecks versammelten. Vor ihnen standen die Brüder O'Rourke sowie Sam Kelley und Ben Miller, der sich allmählich von seiner schweren Verletzung erholte und seit ein, zwei Wochen wieder auf den Beinen war. Offenbar zählten die vier Männer die Stimmen aus.
Plötzlich brandete lauter Jubel auf, und viele Männer schlugen sich gegenseitig auf die Schultern. Sam und Ben gingen in dem Gewühl unter. Jacob und Irene vermochten nicht zu sagen, welche Partei die Wahl gewonnen hatte.
Schließlich löste sich Sam Kelley aus der Masse und ging schnellen Schrittes zu Jacobs Wagen. Seinem dunklen Gesicht war nicht anzusehen, ob er eine frohe oder eine traurige Botschaft zu verkünden hatte.
»Und?« fragte Jacob gespannt. »Wer führt jetzt den Treck?«
Sams Miene veränderte sich zu einem breiten Grinsen.
»Der alte und der neue Captain, Jacob. Sie! Die Iren konnten nicht mehr als ein Fünftel der Stimmen für sich gewinnen. »Wir haben ihnen damit eine ebensolche Abfuhr erteilt wie Sie zuvor mit den Fäusten!«
Der Schmied schien auf eine Reaktion Jacobs zu warten, auf ein Zeichen, daß dieser Sam Kelleys Freude teilte. Aber der Deutsche saß still auf der Wagendeichsel und starrte mit erhobenem Kopf zu den schneebedeckten Berggipfeln.
»Was haben Sie, Jacob?« fragte Sam besorgt. »Sie scheinen sich nicht recht darüber zu freuen, daß die O'Rourkes die Wahl verloren haben.«