Der Verletzte bewegte leicht den Kopf, und sein Blick fiel auf den Kadaver des Berglöwen. Erinnerung schimmerte in seinen Augen und verwandelte sich in Erschrecken.
»Was ist mit Urilla?« stieß er hastig hervor.
»Ihr geht es gut«, beruhigte ihn Jacob. »Sie ist beim Treck, unverletzt. Irene kümmert sich um sie.«
Das plötzliche Erschrecken auf Martins Gesicht wich großer Erleichterung. Größerer Erleichterung, als sie Martin empfunden hätte, wäre es um die meisten der anderen Auswanderer gegangen. Jacob kannte den Grund. Er wußte, was sein Freund für Urilla Anderson empfand.
Noah Koontz hatte Verbandszeug mitgebracht. Sie versorgten Martins Wunden.
Seine Schmerzen waren stark, aber er biß die Zähne zusammen. Es schien ihm sogar von Minute zu Minute etwas besser zu gehen.
»Was ist mit dem. Tier?« fragte er. »Ist es tot?«
Jacob nickte.
»Du hast es erledigt. Oder dein indianischer Freund.«
Martin sah ihn verständnislos an.
»Mein indianischer Freund? Wovon sprichst du?«
»Von den beiden Pfeilen, die im Nacken des Berglöwen stecken. Nicht gerade die übliche Waffe eines Weißen. Weißt du, wer sie abgeschossen hat?«
Martin warf einen längeren Blick zu dem Kadaver, der eingehend von Billy untersucht wurde.
»Nein, keine Ahnung. Ich weiß nichts von diesen Pfeilen. Ich erinnere mich nur noch, wie der Löwe auf mir lag und nach meiner Kehle biß. Ich habe das Bowiemesser tief in den Körper gestoßen und darin herumgedreht. Das ist alles.«
»Vielleicht hast du damit dein Leben gerettet«, sagte Jacob nachdenklich. »Vielleicht war es auch unser geheimnisvoller Indianer.«
Er wandte seinen Kopf um, als das Halbblut zurückkam. In der Hand trug er die beiden Pfeile, die er aus dem toten Berglöwen geschnitten hatte.
»Zu welchem Stamm gehört der Schütze?« fragte Jacob.
Billys Gesicht zeigte einen ratlosen Ausdruck.
»Ich weiß es nicht, Mr. Adler. Zu keinem Stamm, den ich kenne. Der Schaft ist am Ende mit drei Adlerfedern verziert, was bei vielen Stämmen üblich ist.«
»Und diese Wellen?« fragte Jacob und zeigte auf ein in gelber Farbe angebrachtes, wellenförmiges Muster, das am ganzen Pfeilschaft entlanglief.
»Ich kenne das Zeichen nicht. Vielleicht ist es das Zeichen des Stammes. Vielleicht aber das des Mannes, dem diese Pfeile gehören. Zwei Dinge allerdings sind merkwürdig.«
»Was?«
»Die Spitzen der Pfeile sind aus Knochen, wie sie früher von meinen roten Brüdern verwendet wurden. Jetzt benutzen die Oto und die anderen Stämme Eisen, das sie von den Weißen eintauschen.«
»Was bedeutet, daß die Pfeile einem Stamm gehören, der kaum Kontakt zu uns Weißen hat«, meinte Jacob.
»Und auch nicht zu uns Schwarzen«, fügte Sam Kelley grinsend hinzu.
»So ist es wohl«, fuhr das Halbblut fort. »Vielleicht ist für uns aber noch wichtiger, daß die Knochenspitzen nicht fest mit dem Schaft verbunden sind. Und sie haben Widerhaken.«
Billy schien davon auszugehen, daß diese Mitteilung den anderen alles sagte. Aber die sahen ihn nur fragend an.
»Und was bedeutet das?« fragte der schwarze Schmied.
»Es sind keine Pfeile für die Jagd, sondern für den Krieg. Für die Jagd nehmen meine roten Brüder Pfeile mit abgerundeten Spitzen, die fest am Schaft sitzen. So beschädigen sie die Beute nicht beim Herausziehen der Pfeile und können diese sogleich weiterverwenden. Im Krieg aber werden Pfeile mit einer Widerhakenspitze, die leicht abbricht, genommen. Sie soll verhindern, daß der getroffene Feind den Pfeil einfach herauszieht. Meistens gelingt das auch nicht. Die Spitze bleibt in der Wunde, was sehr schmerzhaft für den Gegner ist, oft tödlich.«
Jacob durchlief ein Schauer bei dem Gedanken daran, von solch einem Pfeil verwundet zu werden. Aber nur kurz, dann dachte er daran, was Billys Worte bedeuteten.
»Wenn der geheimnisvolle Schütze auf dem Kriegspfad ist, gegen wen?« fragte der junge Treck-Captain.
»Das kann ich nicht sagen«, entgegnete Billy. »Dazu müßten wir wissen, zu welchem Stamm der Schütze gehört.«
»Auf den Kriegspfad geht selten einer allein«, meinte Noah Zachary, umfaßte seinen alten Vorderlader fester und sah sich mißtrauisch um. »Vielleicht haben es die Roten auf den Treck abgesehen!«
»Aber. warum haben sie mir dann geholfen?« fragte Martin stöhnend.
»Die ganze Fragerei bringt uns nicht weiter«, erkannte Jacob. »Wir sollten sehen, daß wir möglichst schnell zurück zum Treck kommen. Sicher ist sicher.« Er zeigte zum nahen Wald. »Wir haben genug Holz hier, um eine Trage für Martin zu bauen. Billy, such du in der Zwischenzeit nach Spuren. Vielleicht findest du doch noch einen Hinweis auf den ominösen Schützen.«
Das Halbblut nickte und begann damit, sorgfältig die Gegend abzusuchen, während die übrigen Männer mit ihren Messern Äste und Zweige abschlugen, zurechtstutzten und unter Zuhilfenahme der langen Grashalme eine Trage bauten. Sie waren gerade damit fertig und wollten Martin auf das Flechtwerk legen, als sich Billy auf einem nahen Hügel bemerkbar machte.
»Hierher!« rief er laut und winkte. »Ich habe eine Spur gefunden!«
Jacob, Sam Kelley, Custis Hunter und Melvin Freeman liefen auf den buschbestandenen Hügel. Die anderen Männer blieben bei dem Verletzten. Sie hatten einen Ring um ihn gebildet, hielten ihre Gewehre schußbereit in den Händen und beobachteten skeptisch die scheinbar friedliche Umgebung.
Die Nachricht von Indianern auf dem Kriegspfad hatte sie nervös gemacht. Und je länger sie Zeit hatten, darüber nachzudenken, desto nervöser wurden sie. Selbst wer noch nie mit Angehörigen der freien Stämme in Berührung gekommen war, hatte schon viel von ihnen gehört. Die Zeitungen waren voll von Schauergeschichten. Die Erzählungen durchreisender Siedler oder fahrender Händler ebenso. Niedergebrannte Farmen, auf gräßliche Weise getötete Männer, verschleppte Kinder und geschändete Frauen spukten durch ihre Köpfe. Viele Hände wurden feucht. Viele Augen zuckten nervös beim kleinsten Geräusch.
Billy erwartete Jacob und seine Begleiter auf dem Hügel.
»Hier hat der Schütze gelauert. Er konnte sich hinter den Büschen gut verstecken.«
»Woher weißt du das?« fragte Jacob.
Das Halbblut zeigte auf den unebenen Boden.
»Hier ist eine Mulde, in der sich beim letzten Regen Feuchtigkeit gesammelt hat. Der Boden ist nachts gefroren und wird tagsüber von der Sonne aufgeweicht. Hier ist ein frischer Fußabdruck.«
Jetzt sahen auch die vier anderen Männer, was Billy meinte. Ein tiefer Abdruck ohne feste Konturen.
Es war nicht der Stiefelabdruck eines Weißen oder Schwarzen. Aber es sah auch nicht aus wie der Mokassin oder der nackte Fuß eines Roten, noch war es der Pfotenabdruck eines Tieres. Er war groß, größer als der Fuß manches Menschen. Und er war seltsam unförmig, irgendwie klumpig.
»Was für ein Wesen hinterläßt solche Spuren?« fragte Melvin leise, als befürchtete er, das unheimliche Wesen könnte noch in der Nähe sein.
Die anderen beantworteten die Frage nicht. In ihren Gesichtern stand Ratlosigkeit.
Schließlich flüsterte Sam Kelley, noch leiser als der andere Schwarze: »Das Phantom.«
Ein Zucken durchlief Billys Gesicht. Fast ängstlich sah das Halbblut den Schmied an.
*
Vier Männer schleppten die Trage mit Martin. Die anderen sicherten die Gruppe mit ihren schußbereiten Gewehren. Sie hatten es eilig, zurück zum Treck zu kommen. Die Sorge um ihre Familien trieb sie voran.
Auch Jacob sorgte sich um den Treck, um Irene und um Jamie. Aber noch zwei andere Dinge bereiteten ihm Kopfzerbrechen.
Einmal Martin, der viel Blut verloren hatte. Durch den Transport war die Schulterwunde aufgebrochen. Der vormals weiße Verband hatte sich tiefrot gefärbt. Martin war zwar bei klarem Verstand, aber er wirkte durch den großen Blutverlust sehr geschwächt. Jacob fragte sich, ob sein Freund durchkommen würde.