Zum anderen sorgte er sich um die seltsamen Blicke, die seine Begleiter auf einmal dem jungen Scout zuwarfen, seitdem die Pfeile, die Billy Calhoun noch immer bei sich trug, im Kadaver des Berglöwen entdeckt worden waren. Die Auswanderer hegten Billy gegenüber Mißtrauen, nur weil ein Teil des Blutes in seinen Adern indianischen Ursprungs war.
Urilla war die erste, die den Trupp im Lager begrüßte. Ihr sonst so hübsches, ansprechendes Gesicht wirkte blaß vor Sorge und seltsamerweise gerötet zugleich. Sie mußte viel geweint haben.
Sie und Irene kümmerten sich sofort um Martin, der in einen fiebrigen Schlaf verfiel und etwas von Urilla und einem Medaillon erzählte. Daraufhin zeigte Urilla Irene und Jacob ihr Medaillon mit den Fotos und erzählte ihnen in knappen Worten ihre Geschichte.
Noch größere Aufmerksamkeit als Martins Rückkehr erregte der Bericht von den Indianerpfeilen und von der seltsamen Spur auf dem Hügel. Sofort entspann sich eine hitzige Diskussion unter den Auswanderern darüber, was jetzt zu unternehmen sei.
Jacob war kein bißchen überrascht, als die Brüder O'Rourke auf seinen Wagen zutraten. Ihre finsteren Gesichter verhießen einmal mehr nichts Gutes. Patrick und Liam O'Rourke waren für den jungen Deutschen inzwischen das Sinnbild für Ärger.
»Wir wollen den Captain sprechen!« forderte Liam mit einer sonderbaren Betonung. Er trug die anscheinend unvermeidliche Schrotflinte in der Armbeuge. Sein Bruder Patrick hatte auf seine Rifle verzichtet. Aber in seinem Holster steckte ein Revolver.
Als Jacob in Patricks zerschundenes, angeschwollenes Gesicht sah, fragte er sich, ob er selbst auch so aussah. Falls ja, war er kein angenehmer Anblick für seine Umgebung.
Er fragte die Iren, was los sei.
»Es geht um die Roten, die uns bedrohen«, antwortete der rothaarige Mann mit der Schrotflinte. »Wir verlangen, auch im Auftrag der anderen, daß Sie das Halbblut festnehmen lassen, Captain.«
Jacob, der auf einer Verpflegungskiste saß, zog die Stirn in Falten.
»Warum?«
»Weil er eine halbe Rothaut ist! Man kann ihm nicht trauen. Er macht bestimmt mit den anderen Roten gemeinsame Sache. Schließlich hat er den Treck schon mal überfallen. Gestern die Sache mit Abner Zacharys Wagen und heute die Pfeile, das war bestimmt nur ein Vorgeschmack!«
Jacob schüttelte mißbilligend den Kopf.
»Soviel Unsinn wie in den letzten zwei Minuten habe ich selten auf einmal gehört, O'Rourke.«
Die Mienen der Iren verfinsterten sich noch mehr.
Jacob zeigte sich davon nicht beeindruckt. Er hob die Rechte und streckte einen Finger aus.
»Erstens hat Billy unseren Treck nicht überfallen, sondern nur ein Pferd gestohlen. Wir haben es zurück, und er hat uns beim Kampf gegen Jed Harpers Outlaws geholfen. Seitdem hat er uns als Scout treue Dienste geleistet. Wir haben also keinen Grund, uns über ihn zu beklagen oder ihm gar zu mißtrauen!«
Der Deutsche streckte einen zweiten Finger aus.
»Zweitens wissen wir gar nicht, ob wir von Indianern bedroht werden. Wer immer auf den Berglöwen geschossen hat, er hat Martin vermutlich das Leben gerettet!«
»Und gestern die Sache mit dem Wagen?« mischte sich jetzt Patrick O'Rourke ein. »Abner Zacharys Leben wurde nicht gerettet, ganz im Gegenteil!«
»Es besteht kein Grund zu vermuten, daß es dieselbe Person war, die auf den Berglöwen geschossen hat.«
»Aber das Halbblut hat gesagt, es handelt sich um Kriegspfeile!« beharrte der Mann, der von Jacob im Zweikampf besiegt worden war.
»Falls uns Billy wirklich in eine Falle der Roten locken wollte, hätte er uns dann das verraten?«
Patrick O'Rourke wußte nicht weiter und sah hilfesuchend seinen Bruder an.
Jacob fragte sich, ob es ihnen wirklich um Billy Calhoun ging, oder ob sie nur einen neuen Anlaß suchten, die Autorität des Treck-Captains zu untergraben.
»Rothäute stecken immer unter einer Decke!« blieb Patrick O'Rourke starrsinnig. »Deshalb verlangen wir, daß Sie uns vor dem Halbblut beschützen, Captain!«
»Wer verlangt das?« »Wir und die anderen.«
Jacob bohrte seinen Blick in die tiefliegenden Augen seines Gesprächspartners.
»Doch gewiß nicht alle anderen, O'Rourke. Oder?«
Wieder ein hilfesuchender Blick zu seinem Bruder.
»Ein Teil«, sprang Liam O'Rourke in die Bresche. »Ein Teil, den wir vertreten, verlangt, daß Sie den Mestizen in Gewahrsam nehmen. Sonst.«
»Sonst?« fragte Jacob scharf.
»Sonst weigern wir uns weiterzufahren!«
Ein wissendes Lächeln umspielte Jacobs Mund.
»Das ist es also. Sie und Ihre Leute möchten die Gelegenheit ausnutzen, sich nach Kalifornien abzusetzen. Sehe ich das richtig?«
Jetzt lächelte auch Liam O'Rourke, was den groben Mann aber keinen Deut sympathischer wirken ließ.
»Die Indianer sind sicher vor uns, nicht hinter uns. Wenn wir umkehren und am Raft River auf den California Trail abbiegen, droht uns keine Gefahr.«
Jacob stand auf, so plötzlich und ruckartig, daß die beiden Iren unvermittelt zurückwichen.
»Mir reicht es jetzt! Sie und Ihre Leute bringen nichts als Unruhe in den Treck. Wenn Sie unbedingt nach Kalifornien wollen, halte ich Sie nicht. Viel Glück!«
Die beiden Iren starrten ihn ungläubig an, konnten die Verblüffung einfach nicht aus ihren Gesichtern wischen.
»Ist das Ihr Ernst?« fragte schließlich Liam vorsichtig.
»Mein voller Ernst. Nehmen Sie alles mit, was Ihnen gehört, und verschwinden Sie. Aber verzählen Sie sich nicht. Geben Sie acht, daß nicht eine Kuh, ein Ochse, ein Muli und ein Pferd zuviel mit Ihnen nach Kalifornien aufbrechen!«
Die Nachricht verbreitete sich in Windeseile im Lager. Aufbruchstimmung machte sich unter den Gesinnungsgenossen der Iren breit. Sie wollten an diesem Tag noch ein paar Meilen zurücklegen, packten ihre Sache zusammen und spannten die Zugtiere vor die Wagen.
Insgesamt waren es sieben Wagen, die zurück zum Raft River fuhren, neben dem der O'Rourkes auch der Prärieschoner der Cartlands. Der Oregon-Treck, der mit dreißig Wagen von Kansas City aufgebrochen war, war jetzt auf zweiundzwanzig Fahrzeuge zusammengeschrumpft.
Insgeheim hatte Jacob gehofft, es würden ein paar weniger sein, die den Oregon Trail verließen. Wahrscheinlich war es die tief sitzende Furcht vor einem Indianerüberfall, die so viele Menschen umkehren ließ.
Die Zurückbleibenden schauten den Gefährten lange hinterher, die ihr Glück auf den Goldfeldern machen wollten. Viele fragten sich, ob sie die richtige Entscheidung getroffen hatten, als sie sich für Abner Zacharys Traum vom Gelobten Land entschieden. Für Oregon.
Auch Jacob fragte sich das. Als Treck-Captain trug er die Verantwortung für die Zurückbleibenden, immerhin noch weit über hundert Menschen.
Führte er sie ins Gelobte Land?
Oder ins Verderben?
*
Von der Gier nach Gold getrieben, von der Furcht vor den unsichtbaren Rothäuten beflügelt, kamen die von den Brüdern O'Rourke angeführten Wagen rasch voran.
Die Auswanderer, die unterwegs zum California Trail waren, kannten den Weg, und der führte noch dazu bergab. Sie brauchten die Ochsen und Maultiere nicht anzutreiben, mußten sie eher noch zurückhalten, damit die Planwagen nicht zu schnell wurden und außer Kontrolle gerieten.
Liam O'Rourke ritt auf einem plump wirkenden und daher zu ihm passenden Quarterhorse an der Spitze des kleinen Trecks.
Ihm folgte der von acht kräftigen Maultieren gezogene Conestoga der O'Rourkes. Sein Bruder Patrick, der sich nach dem Zweikampf mit Jacob Adler im Sattel und auch auf seinen eigenen Füßen noch nicht recht wohl fühlte, lenkte das Gefährt. Die Frauen und Kinder der beiden Iren gingen neben dem Wagen, um den Mulis ihre Last zu erleichtern.