Es oblag Jacob als Captain, als erster die Anhöhe zu nehmen. Es war sein Recht und zugleich seine Pflicht. Er trug die Verantwortung und damit auch das Risiko, daß seine Ochsen scheuten, seine Wagen umkippte und den Fahrer mit in die tiefe Schlucht riß. Deshalb saß Jacob allein auf dem Bock, als es losging.
Hinter ihm folgte kein zweiter Wagen wie gestern. Die Auswanderer hatten aus dem Unglück ihre Lehre gezogen und ließen immer nur einen Wagen den Hügel nehmen. Das dauerte zwar länger, verhinderte aber, daß ein zurückrollendes Gefährt die nachfolgenden beschädigte oder gar mitriß.
Der leichte Wagen von Jacob, Martin, Irene und Urilla wurde normalerweise von vier Ochsen gezogen. Für die vor ihm liegende Aufgabe hatte Jacob die Anzahl der Zugtiere verdoppelt.
Sam Kelley, Jackson Harris, Custis Hunter und Melvin Freeman gingen rechts und links der Ochsen. Sie sollten die Tiere antreiben und dafür sorgen, daß die Ochsen nicht zur Seite ausbrachen.
Zogen die Ochsen den Planwagen zu weit nach rechts, würde er auf dem steiler werdenden Gelände umstürzen.
Zogen sie ihn zu weit nach links - dort gähnte der Abgrund.
Mit lauten Schreien trieben Jacob und seine Helfer die Tiere an. Sam Kelley auf der linken und Melvin Freeman auf der rechten Seite ließen zusätzlich ihre Peitschen in der Luft über den Rücken der Tiere knallen.
Anfangs kamen die Ochsen gut voran, aber je steiler und glatter der Untergrund wurde, desto langsamer und vorsichtiger gaben sie sich.
Das lose Geröll, daß Zacharys Maultiere aus dem Tritt gebracht hatte, war von den Auswanderern entfernt worden. Diese Gefahrenquelle war ausgeschaltet. Es kam nur darauf an, daß die Ochsen kräftig und ausdauernd genug waren, daß sie sich nicht entmutigen ließen.
Immer langsamer ging es voran, aber die Hügelkuppe rückte näher. Die Männer schrien noch lauter und ließen die Peitschen jetzt auf die Rücken der Ochsen fahren. Unter dem lauten Geschrei der Tiere ging es Zoll um Zoll den Hügel hinauf.
Das letzte Wegstück war extrem steil. Jacob mußte sich auf dem Bock festhalten, um nicht hintenüberzufallen. Eine kleine Unebenheit konnte jetzt genügen, um den Wagen umkippen und in die Schlucht stürzen zu lassen.
Auf einmal gingen die Ochsen schneller, und der Wagen nahm wieder eine waagrechte Position ein. Unter den lauten Beifallrufen der Auswanderer zogen die Ochsen den Planwagen auf die Hügelkuppe.
Als Jacob die Bremsen angezogen hatte und vom Bock sprang, fielen im seine vier Helfer in die Arme.
Die Freude war nur kurz, denn einundzwanzig Wagen mußten noch auf den Hügel gebracht werden.
»Die Ochsen haben sich bewährt«, stellte Jacob fest. »Sie sind geduldiger und zuverlässiger als die Maultiere. Vielleicht wäre das Unglück gestern verhindert worden, hätte Zachary Ochsen statt Mulis gehabt. Für die Überquerung des Steilpasses werden wir auch vor die Wagen Ochsen spannen, die sonst von Maultieren gezogen werden!«
So geschah es.
Ein Wagen nach dem anderen rollte unter Peitschengeknall und Geschrei von Mensch und Tier auf den Hügel. Etwa zwei Stunden vor Sonnenuntergang befanden sich alle Wagen oben, ohne daß es einen weiteren Unfall gegeben hatte.
Dann wurde die Herde heraufgetrieben und in eine nahe Senke gebracht, die einen natürlichen Corral bildete.
Für heute hatte der Treck genug Aufregungen und Anstrengungen gehabt. Er würde auf dem Hügel lagern und früh am nächsten Morgen aufbrechen.
Ein zweiter Aspekt bewog Jacob dazu, das Nachtlager auf dem Hügel aufschlagen zu lassen. Hier konnten sich die Auswanderer gut gegen einen Überfall verteidigen. Gegen Indianer oder wen auch immer. Er achtete auf besondere Sorgfalt, als die Wagen zur Burg zusammengefahren wurden.
Als die Sonne unterging, stand Jacob auf der Hügelkuppe und starrte nachdenklich nach Osten. Dorthin, wo die O'Rourkes mit ihren Gefährten verschwunden waren.
Eine Ungewisse und deshalb nur um so beunruhigendere Sorge hatte von dem jungen Treck-Captain Besitz ergriffen. Er fühlte sich noch immer für alle Auswanderer verantwortlich. Auch für die, die er schweren Herzens hatte ziehen lassen.
Die seltsamen Ereignisse der letzten beiden Tage schienen auf eine Gefahr hinzudeuten, die sich über den Köpfen der Auswanderer zusammenbraute und doch nicht faßbar war.
Aber vielleicht war es nur der intensive Geruch des Winters, der ihm Unbehagen bereitete, versuchte sich Jacob einzureden. Fast ein wenig ängstlich blickte er hinauf zu den umliegenden Schneekuppen. Sie wirkten auf ihn wie drohende Vulkankegel. Nicht Vulkane des Feuers, sondern des Eises. Bereit, die Auswanderer jederzeit mit ihrer schönen, kalten, tödlichen Pracht zu überschütten.
Lange stand er so da und dachte über die verschiedensten Dinge nach. Doch kehrten seine Gedanken immer wieder zu der schweren Aufgabe zurück, die ihm erst der sterbende Abner Zachary und dann der gesamte Treck übertragen hatte. War er, der Neuling in diesem Land, noch jung an Jahren, wirklich der richtige Mann dafür?
Es mußte schon auf Mitternacht zugehen, als ihn ein Geräusch aus dem Gedankenstrudel zog. Erst drang es nur sehr leise an seine Ohren, so daß er es kaum wahrnahm. Er hörte genauer hin, und der anfangs bloße Verdacht verdichtete sich zur Gewißheit. Vom harten Fels am Boden, verstärkt durch das Echo der Berge, kam Hufgetrappel auf das Lager zu.
Es wurde schnell lauter.
*
Es geschah an einer der engsten Stellen im Geistercanyon, als der kleine Treck diesen etwa zur Hälfte durchquert hatte.
Die Felswände standen sich hier so dicht gegenüber, als wollten sie sich die steinernen Hände reichen. Es war ein öder, trostloser Ort, an dem kein Strauch und kein einziger Grashalm wuchs. Hier gab es nur Felsen, Steine und Staub.
Und den Treck, der langsam durch die enge Schlucht rollte. Je weiter die Auswanderer in den Canyon eindrangen, desto mehr hatten sie ihre Geschwindigkeit verlangsamen müssen. Der unebene Boden war von Geröll übersät. Groß war deshalb die Gefahr, daß ein Rad brach oder ein Tier stolperte.
Aber eine andere Gefahr war viel größer. Sie kündigte sich als ein leises Grummeln an, das die Menschen des Trecks zunächst für eine neue Spielart des geisterhaften Echos hielten. Aber das Grummeln schwoll rasch zu einem grollenden Donner an. Er kam von ganz oben, wo die steilen Felswände endeten.
Große Steine und Felsbrocken lösten ihn aus, die von der rechten Wand herabstürzten und bei ihrem Sturz weitere Steine und Felsen mitrissen. Eine gigantische Lawine aus Stein und Staub rollte ins Tal und hatte den Wagenzug in Sekundenschnelle erreicht, ehe die überraschten Menschen noch etwas unternehmen konnten, Die Katastrophe brach ebenso schnell wie verheerend über den Treck herein. Planwagen wurden von der Gesteinsmasse umgeworfen oder von einzelnen mächtigen Felsblöcken zertrümmert. Menschen und Tiere wurden umgerissen und unter der Lawine begraben. Ihre gellenden Schreie verhallten ungehört, gingen unter im tosenden Donner der Lawine, den der Geistercanyon um ein Vielfaches verstärkte.
Der Donner verebbte fast ebenso schnell, wie er sich über den Canyon erhoben hatte. Nur sein Echo wirbelte noch eine Weile zwischen den engen Felswänden herum.
Wie die riesige Staubwolke, die den Canyon an dieser Stelle fast ganz ausfüllte, vom Boden bis zum oberen Rand der Wände, von wo das Verhängnis über die Auswanderer hereingebrochen war.
Als sich die Wolke endlich verzog, sahen die gebannt von oben herunterblickenden Augen, daß keiner der sieben Wagen die Lawine überstanden hatte. Von den Fahrzeugen der Auswanderer war nicht mehr geblieben als zersplittertes Holz, zerfetztes Tuch, zerbrochenes Eisen.
Das herabgestürzte Gestein hatte das meiste unter sich begraben und füllte diese Stelle der Schlucht aus. Die Trecks im nächsten Jahr würden es schwer haben, den Geistercanyon zu durchqueren. Wenn es nicht gar unmöglich für sie war.
Vereinzelt schauten aus den Steinen und Wagentrümmern Glieder von Menschen und Tieren hervor. Das Bein eines Pferdes, Maultiers oder Ochsen. Die kräftige Hand eines Mannes oder die schmalere einer Frau. Der zertrümmerte, blutige Kopf eines Kindes.