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Dieses schreckliche Bild bot sich dem Mann dar, der sich mit letzter Kraft, hustend und Dreck ausspeiend, unter einer Decke kleinerer Steine hervorwühlte. Dabei bot er selbst keinen schönen Anblick. Mit einer dicken Staubschicht überzogen, sah das an sich jugendliche Gesicht aus wie das Antlitz eines Greises. Kopf und Gesicht bluteten an mehreren Stellen. Das Blut hatte sich mit dem Staub zu einer obszönen Kriegsbemalung vermischt.

Die Kleidung hing in Fetzen von dem Körper des Mannes, der es erst nach mehreren Versuchen schaffte, sich aufzurichten. Das lose Geröll, auf dem er stand, rutschte immer wieder unter seinen Stiefeln weg.

Langsam drehte er den schmerzenden Kopf und registrierte das ganze Ausmaß der Katastrophe. Es sah tatsächlich so aus, als sei er der einzige Überlebende. Jedenfalls von den Menschen.

Ein paar der Tiere waren nur verletzt und schrien ihren Schmerz hinaus. Die Schreie kehrten als verzerrte Echos zu ihnen und dem einsamen Mann zurück.

Plötzlich hörte er ein Stöhnen und Husten. Ganz in der Nähe. Er wandte sich nach links. Dort lugte ein Stück geflickter Plane, die zuvor einen Wagen überspannt hatte, unter dicken Steinen hervor.

Er kannte den großen, rechteckigen roten Flicken genau. Seine Mutter hatte ihn aus einem Unterhemd genäht, das seinem jüngeren Bruder Matt zu klein geworden war. Eine sparsame Farmersfrau wie Ruth Cartland warf nichts weg, hob jeden kleinen Stoffrest sorgsam auf. Als die Cartlands ihren Wagen für den großen Treck nach Oregon zusammenbauten, hatten sie das Hemd gut gebrauchen können. Die Plane, die Elmer Cartland günstig erstanden hatte, wies mehr Löcher auf als das Dach über dem windschiefen Farmhaus, das die Cartlands am Stockton Lake bewohnt hatten.

Der Gedanke an seine Mutter und seine Geschwister vertrieb die Erstarrung, die Leo Cartland beim Anblick des innerhalb von Sekunden ausgelöschten Trecks befallen hatte. Er sprang über die Felsen zu der Stelle mit dem roten Stoffetzen und rief laut die Namen seiner Angehörigen.

Erneutes Husten und Stöhnen war die Antwort, dann endlich eine Stimme.

»Leo, bist du es?«

Sein Bruder Matt!

»Ja, Matt. Wie geht es dir?«

»Weiß nicht. Hier ist alles duster. Ich kann mich kaum rühren. Irgend was liegt auf mir.«

Leo zögerte, die nächste Frage zu stellen, aus Angst vor der Antwort. Aber er mußte es tun. Davon konnten Leben abhängen.

»Wer. ist noch bei dir, Matt?«

»Hier bei mir liegt Celia. Sie atmet ganz schwach.«

»Wer noch?«

Es dauerte eine Weile, bis die verhustete Antwort kam.

»Ich kann niemanden sehen. Zu dunkel. Und ich höre auch niemand sonst.«

»Ich hole euch da raus!« rief Leo und machte sich wie ein Berserker an die Arbeit, räumte mit bloßen Händen Stein um Stein weg.

Er dachte nicht an seine eigenen schmerzenden Wunden. Nur an seinen drei Jahre jüngeren Bruder Matt und an die zwölfjährige Celia, das jüngste Familienmitglied.

Leo hatte schon seinen Vater verloren. Er wollte nicht noch mehr verlieren.

Nicht alle!

Er war schon ein gutes Stück vorangekommen, als sich auf einmal die weiter oben liegende Steine in Bewegung setzten und in die Lücke rollten, die Leo geschaffen hatte.

Es riß ihn von den Füßen, und schmerzhaft schlug er mit der Stirn auf einen scharfkantigen Stein. Aus einem tiefen Riß über seinen Brauen floß Blut in die Augen, verklebte ihm die Sicht.

Leo stand taumelnd auf und wischte sich mit dem schmutzigen, zerfetzten Ärmel seiner Wolljacke das Blut aus den Augen. Kaum war er damit fertig, da hörte er ein lautes, schmerzerfülltes Stöhnen. Es kam von Matt.

»Matt, was ist los?«

»Etwas ist auf mich gerutscht, ein großer Felsen. Auf meine Brust. Es... es tut so weh!«

Mit Erschrecken stellte Leo fest, daß der Steinhaufen, der seinen Bruder und seine Schwester bedeckte, größer war als zuvor. Seine ganze Anstrengung war vergeblich gewesen.

Ein Geräusch, sofort von den Felswänden verzerrt und verstärkt, lenkte ihn ab. Hufgetrappel.

Er sah sich um und entdeckte ein stämmiges Quarterhorse, das langsam über das Geröllfeld auf ihn zugetrottet kam. Leo erkannte Liam O'Rourkes Pferd. Es war der Katastrophe entkommen und konnte mit der unerwarteten Freiheit nichts anfangen.

»Mach weiter, Leo!« drängte die Stimme seines Bruders, die unter dem Geröllhaufen dumpf klang. »Hol uns endlich hier raus!«

»Es hat keinen Zweck. Allein schaff1 ich es nicht. Ich muß zum Treck und Hilfe holen. Haltet ihr beide es solange aus?«

»Ja«, hustete Matt. »Wir werden es schon schaffen.«

»Ich beeile mich«, versprach Leo und ging auf das Pferd des Iren zu.

Er bewegte sich langsam, um das Tier nicht zu verscheuchen. In ihm sah er seine einzige Chance, Matt und Celia zu retten.

Vielleicht auch noch andere. Aber er hatte keine Zeit, das ganze Trümmerfeld nach Überlebenden abzusuchen. Er schaffte es ja noch nicht einmal, seine Geschwister auszugraben. Nur viele Hände konnten das vollbringen.

Das Quarterhorse zeigte kein bißchen Scheu vor dem Fremden. Im Gegenteil, es schien froh zu sein, wieder menschliche Gesellschaft zu haben. Leo schwang sich ohne Schwierigkeiten in den verwaisten Sattel.

Sorgsam auf das Gelände achtend, ritt er langsamen Schrittes über das Geröll- und Trümmerfeld. Als das Gelände besser begehbar wurde, trieb er das Tier nach einem letzten Blick auf die Stelle, wo er Matt und Celia wußte, mit lauten Rufen und Stößen seiner Fersen an. Die Hufschläge warfen das Echo eines Trommelfeuers.

Erst als dieses längst verklungen war, stiegen die Beobachter des Geschehens von der südlichen Felswand herab. Sie wollten nachsehen, ob es Überlebende gab. Aber sie kamen nicht, um ihnen zu helfen.

*

Leo Cartland gönnte sich und dem Quarterhorse keine Rast. Als die Dunkelheit hereinbrach, mußte der einsame Reiter die Geschwindigkeit notgedrungen verlangsamen. Das mochte eine kleine Erholung für das Pferd sein. Aber es schnaufte immer stärker, je länger der Ritt dauerte. Und Schaum, der von seinem Maul wehte, flog Leo ins Gesicht.

Als er den Treck endlich gegen Mitternacht erreichte, erwarteten ihn die von Jacob alarmierten Auswanderer mit den Waffen in den Händen. Schließlich konnten sie nicht wissen, mit wem sie es zu tun hatten. Die Furcht vor einem Indianerüberfall saß ihnen noch im Nacken.

Deshalb brachen auch nicht alle Männer zu der von Jacob angeordneten Rettungsexpedition auf. Zum Schutz gegen einen Indianerüberfall blieb ein starker Trupp zurück.

Zwanzig Männer folgten Leo Cartland, dem man ein neues Pferd gegeben hatte. Das völlig erschöpfte Quarterhorse wäre am Ziel fast zusammengebrochen. Fast jeder Reiter führte ein Packtier mit sich, beladen mit Wasser, Verpflegung, Verbandsmittel und Werkzeug.

Die übrigen Männer des Trecks gingen in dieser Nacht nicht mehr schlafen. Mit schußbereiten Waffen warteten sie in der Wagenburg auf die Rückkehr ihrer Freunde - oder auf einen Überfall.

*

Leo Cartland und die zwanzig Helfer erreichten den Geistercanyon bei Anbruch der Morgendämmerung. Immer wieder trieben sie ihre Pferde an. Die Geier, die in Scharen über der engen Schlucht kreisten und zwischen die Felsen hinunterstießen, verhießen nichts Gutes.

Mehrere der gefiederten Aasfresser machten sich an der Unglücksstelle zu schaffen. Die vordersten Reiter zogen Revolver und Karabiner und vertrieben die Tiere.

Während die anderen noch schossen, war Leo längst aus dem Sattel gerutscht und stapfte über das Geröll zu der Stelle, an der er Matt und Celia wußte. Immer wieder rief er laut ihre Namen, aber die einzige Antwort war sein eigenes Echo.

Jacob und die anderen kamen mit Schaufeln und Spitzhacken und machten sich an die Arbeit. Aber immer wieder mußten sie auf ihre bloßen Hände zurückgreifen, das beste Werkzeug, um die schweren Steine beiseite zu räumen.