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Leo gab nicht auf, hielt ab und zu im Steineräumen inne und rief die Namen seiner Geschwister. Jedesmal ohne Erfolg.

»Sie werden zu schwach zum Antworten sein«, versuchte Jacob ihn zu beruhigen.

Ein Teil der Männer bildete aus Holzbrettern - Überreste zerschmetterter Prärieschoner - eine Stützmauer, die ein Nachrutschen von Erdreich und Gestein verhinderte. So gelang ihnen das, was Leo allein nicht geschafft hatte.

Irgendwann tauchte eine Hand auf, dann ein Arm, ein Oberkörper, ein Kopf. Der Kopf von Matt Cartland, der reglos in verrenkter Haltung zwischen dem Geröll lag. Seine Augen standen offen, aber der Blick war gebrochen.

»Zu spät«, murmelte sein Bruder. »Ich bin zu spät zurückgekommen.« Er brach über dem Leichnam in Tränen aus.

»Es ist nicht Ihre Schuld, Leo«, sagte erregt Jacob, der etwas auf Matts Brust entdeckt hatte.

Es war eine große Wunde, die anders aussah als die übrigen Wunden. Keine Hautabschürfung und keine Prellung. Jacob zog Jacke und Hemd beiseite, um die Brust freizulegen. Er hatte sich nicht getäuscht. Eine Kugel war in Matts linke Brust gefahren. Der junge Auswanderer war erschossen worden.

Dicht bei ihm lag Celia. Sie hatte eine Schußwunde im Bein. Das hatte ausgereicht, ihr schon schwaches Lebenslicht vollends auszulöschen.

»Aber man hat nicht auf uns geschossen!« stieß Leo hervor. »Bestimmt nicht. Es war eine Lawine.«

»Es muß hinterher geschehen sein«, vermutete Custis Hunter. »Nachdem Sie die Schlucht verlassen hatten. Jemand muß den Lauf seiner Waffe zwischen die Steine gesteckt und auf die Verletzten geschossen haben.«

Leo starrte ihn ungläubig an.

»Warum?«

Custis hob hilflos die Hände.

»Ich weiß es nicht.«

Wie ein Tier auf allen vieren, kletterte Leo aus dem steinernen Grab seiner Geschwister. In seinen hellblauen Augen flackerte das Feuer der Verzweiflung.

Als er oben stand, sah er in den Himmel hinauf und schrie aus Leibeskräften immer wieder die eine Frage: »Warum?«

Seine Schreie brachen sich an den Felswänden und kehrten als Echogewitter zurück. Aber das wurde noch überlagert von den Echos des Schusses, der plötzlich durch den Canyon peitschte.

Der letzte Schrei erstarb auf Leos Lippen. Der flachsblonde Jüngling drehte sich fast einmal um die eigene Achse, knickte zusammen und schlug auf den Boden.

»In Deckung!« schrie Jacob. »Sucht euch Deckung, Männer, sofort!«

Die Männer befolgten den Befehl. Die meisten ließen ihre Tiere einfach stehen, wo sie waren, als sie hinter den nächsten Felsen oder Geröllhaufen sprangen.

Ihre Schnelligkeit war ihr Glück. Eine ganze Reihe von Schüssen klatschte zwischen die auseinanderspritzenden Auswanderer.

Die Schützen mußten oben auf der Südwand sitzen. Für die Männer im Canyon waren sie so gut wie unsichtbar. Nur wenn das Mündungsfeuer oben auf den Felsen aufblitzte, hatten die Auswanderer eine Chance zur Gegenwehr. Immer dann knatterte das Abwehrfeuer aus der Schlucht nach oben.

Jacob kroch vorsichtig aus der Mulde, die er und seine Männer gegraben hatten, nach oben, um nach Leo Cartland zu sehen. Eine Kugel pfiff so dicht über seinen Schädel hinweg, daß sie ihm den breitrandigen Filzhut vom Kopf riß.

Zumindest einer der Fremden dort oben mußte ein hervorragender Schütze sein. Das bewies der Treffer, mit dem er Leo erledigt hatte. Die Kugel hatte den ältesten Cartland-Bruder in die Stirn getroffen, direkt unterhalb des Verbands, den Irene ihm im Lager angelegt hatte.

Leo war tot.

Aber noch etwas anderes sah Jacob. Eine dunkle Öffnung unten an der Südwand. Eine Höhle. Er machte die anderen Männer in der Mulde - Custis Hunter, Melvin Freeman, Sam Kelley und Billy Calhoun - darauf aufmerksam.

»Diese Höhle habe ich nicht bemerkt, als wir den Geistercanyon mit dem Treck durchquert haben«, staunte Billy.

»Ich auch nicht«, gab Jacob zu, und die anderen pflichteten ihm bei.

»Vielleicht war sie da noch nicht zu sehen. Die Lawine wird Steine und Erdreich, die den Eingang verdeckten, weggerissen haben.«

Jacob starrte nach oben, zu ihren unsichtbaren Gegnern.

»Das ist vielleicht unsere Chance, an die Kerle da oben heranzukommen. Wenn wir es bis zu der Höhle schaffen, sind wir zumindest aus ihrem Schußfeld. Wir müssen etwas unternehmen. Sie nageln uns sonst hier fest und lassen uns in der Sonne verschmoren.«

»Oder verdursten«, meinte Sam Kelley. »Wir haben zwar ausreichend Wasser dabei, aber solange die Killer auf uns feuern, kommen wir nicht an die Packtiere heran. Versuchen wir es mit Ihrem Plan, Jacob!«

Auch die anderen Männer in der Mulde waren seiner Meinung. Sie verständigten die übrigen Auswanderer und baten sie, ihnen Feuerschutz zu geben.

Ein wahres Bleigewitter brach über den Feind auf der Südwand herein, wenn es vermutlich auch keinen besonderen Schaden bei ihm anrichtete.

Jacob sprang als erster auf und lief, geduckt und im Zickzack-Kurs, auf den Höhleneingang zu. Er überwand die Distanz von etwa dreißig Yards, ohne daß auch nur eine feindliche Kugel in seine Nähe gekommen war. Vielleicht saßen die Schüsse der Auswanderer besser, als er gedacht hatte, auch wenn die meisten nur ihre Revolver zur Verfügung hatten, weil die Karabiner noch in den Scabbards steckten.

Custis Hunter folgte Jacob, dann Billy Calhoun. Der junge Halbindianer entging nur knapp einer Kugel, die eine Handbreit hinter seinen Füßen in den Boden schlug. Offenbar hatten ihre Feinde mitbekommen, daß die Verteidiger nur ein Feuerwerk veranstalteten.

Auch auf Sam Kelley und Melvin Freeman wurde geschossen, als sie ihren Gefährten folgten. Aber auch sie erreichten den Höhleneingang unverletzt.

Sobald der letzte von ihnen aus der Schußlinie der unsichtbaren Feinde war, reduzierten die Auswanderer im Canyon ihr Feuer.

Jacob und seine Begleiter drangen ins Innere der Höhle ein und stellten zu ihrer Überraschung fest, daß es hier drin nicht so dunkel war, wie es von draußen gewirkt hatte. Irgendwo in der Höhle mußte es eine Lichtquelle geben. Eine Quelle von Tageslicht.

Je weiter sie kamen, desto mehr stieg der Boden an, und bald waren die fünf Männer zum Klettern gezwungen. Bis ein gleißender Strahl hellen Lichtes vor ihnen erschien. Direkt von oben fiel er in die Höhle ein.

»Ich werd' verrückt!« stieß Sam Kelley hervor. »Ein Kamin, der bis nach oben aufs Plateau führt, wie es aussieht.«

Jacob nickte und sagte: »Das Glück ist mit uns.« Er dachte an Leo Cartland und die anderen Menschen, die tot im Canyon lagen, und fügte leise hinzu: »Das Glück im Unglück.«

Die Schroffheit der Felsformationen kam den fünf Männern jetzt zugute. Es gab genug Ecken und Kanten in dem von der Natur geschaffenen Kamin, an denen ihre Hände und Füße beim Emporklettern Halt fanden.

Denn genau das taten sie: klettern. Angeführt von Jacob arbeiteten sie sich immer weiter nach oben, auf das etwa vierhundert Fuß entfernte Tageslicht zu.

Als sie die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatten, verschnauften sie ein, zwei Minuten. Von unten drangen die Schüsse zu ihnen herauf. Der Schall wurde durch den Kamin geleitet.

Jacob ermahnte seine Begleiter, so leise wie möglich zu sein.

Es bestand die Gefahr, daß die hervorragende Akkustik im Kamin ihren Feinden auf dem Plateau ihr Kommen verriet.

Jacob wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war, als er vorsichtig seinen Kopf durch die obere Öffnung des Kamins steckte. Er hatte nicht auf das Verstreichen der Minuten geachtet, nur darauf, in den Vorsprüngen des Kamins einen sicheren Halt zu finden und möglichst schnell nach oben zu gelangen.

Er brauchte sich nicht lange umzusehen, bis er die Männer entdeckte, die auf seine Gefährten im Canyon schossen. Zwei waren es. Sie kauerten am Rand des Plateaus, feuerten, luden ihre Karabiner nach und feuerten erneut.