Was Ellery selbst betraf, so tröstete er sich mit dem Gedanken, daß Wahnsinnstaten sich ohnehin jeder Logik entzogen.
Wenn er dem Fall schon nicht gewachsen war, dann galt das in gesteigertem Maße für Coroner Stapleton, Staatsanwalt Crumit, Colonel Pickett, die Geschworenen, die Bürger von Arroyo und Weirton und die Reporterschwärme, die sich am Verhandlungstag in der Stadt eingefunden hatten. Angeleitet vom Coroner, der mannhaft der Versuchung widerstand, sich für eine zwar naheliegende, aber völlig unbewiesene Lösung zu entscheiden, kratzte sich die Jury verlegen den kollektiven Kopf und fällte das Urteiclass="underline" »Tod durch einen oder mehrere Unbekannte.«
Die Reporter schlichen noch ein, zwei Tage in der Stadt herum; Colonel Pickett und Staatsanwalt Crumit sah man immer seltener, und schließlich nahm auch die Presse keine Notiz mehr von dem Mord - das Todesurteil über den Fall war gesprochen.
Ellery kehrte mit einem stoischen Achselzucken nach New York zurück. Je länger er über dem Rätsel brütete, desto mehr neigte er der Ansicht zu, daß die Lösung verblüffend einfach sein mußte. Es gab keinen Grund, den zahlreichen Indizien zu mißtrauen; sie verwiesen sicher nicht auf den Kern des Geschehens, waren aber auch keinesfalls einfach so abzutun. Es mußte ihn geben, diesen englischsprechenden Ausländer Velja Krosac, eine Art Scharlatan, der sich aus dunklen Beweggründen das Ziel gesetzt hatte, den ebenfalls fremdstämmigen Schulmeister ums Leben zu bringen. Seiner Vorgehensweise war nicht unbedingt Bedeutung beizumessen, so interessant sie auch aus kriminologischer Sicht sein mochte. Sie war nichts als der zwar grauenerregende, aber kranke Ausdruck einer zerstörten Seele, in der der Wahnsinn loderte. Das genaue Motiv, das den Mörder zu der Bluttat getrieben hatte -ob es sich nun vollkommen in der abseitigen Fantasie eines Psychopathen verlor, ob es in religiösem Fanatismus oder Blutrache begründet war -würde sich wohl nie mehr klären lassen. Krosac, der seine schaurige Mission erfüllt hatte, war natürlich über alle Berge und hatte vermutlich auf dem Seeweg Kurs auf sein Heimatland genommen. Ja, und Kling, der Hausangestellte? Der war ohne Zweifel zum Opfer der Umstände geworden; der Mörder hatte ihn vermutlich gleich miterledigt, weil der Unglückliche zum Tatzeugen geworden war oder Krosacs Gesicht gesehen hatte. Wie dem auch immer sein mochte -Krosac mußte einen einschlägigen Grund gehabt haben, ihn zum Schweigen zu bringen. Es war ja kaum anzunehmen, daß jemand, der nicht einmal davor zurückschreckte, seinem Opfer den Kopf abzuschlagen, um seiner Rache die angestrebte Symbolik zu verleihen, zu zimperlich war, einen Zufallszeugen zu beseitigen.
Mit derlei Gedanken kehrte Ellery schließlich nach New York zurück, um sich den spitzen Bemerkungen und Sticheleien seines Vaters auszusetzen.
»Daß ich‘s so hab‘ kommen sehen, brauche ich ja nicht eigens zu erwähnen«, sagte der alte Mann mit einem Grinsen über den Tisch hinweg, während sie am Abend von Ellerys Heimkehr ihr Dinner einnahmen, »aber die Moral von der Geschicht -«
»Wäre?« entgegnete Ellery, indem er ein Kotelett in Angriff nahm.
»Folgendes: Mord ist Mord; und 99,9 Prozent aller Morde, die auf der Erdkugel begangen werden, du Grünschnabel, sind kinderleicht zu erklären. Da ist nichts Geheimnisumwittertes, falls du verstehst, was ich meine.« Der Inspector strahlte. »Ich weiß wirklich nicht, was du in dieser gottverlassenen Gegend erreichen wolltest. Jeder einfache Streifenpolizist hätte dir gleich sagen können, wie die Sache ausgehen wird.«
Ellery legte die Gabel neben den Teller. »Aber mit logischem ...«
»Alles hirnrissig«, schnaubte der Inspector. »Sieh lieber zu, daß du etwas Schlaf bekommst.«
Ein halbes Jahr später hatte Ellery den bizarren Mord von Arroyo vollkommen aus dem Blick verloren. Schließlich gab es eine Menge zu tun. Im Gegensatz zur Schwesterstadt Philadelphia war New York nicht gerade ein Hort brüderlicher Nächstenliebe; Tötungsdelikte fielen zuhauf an, der Inspector ermittelte fieberhaft und hatte seinen Sohn dabei stets im Schlepptau. Der brachte seine einzigartigen Fähigkeiten zum Einsatz, sobald ein Fall sein spezielles Interesse geweckt hatte.
Erst im Juni, sechs Monate nach der Kreuzigung von Andrew Van in West Virginia, trat das damalige Geschehen wieder mit Macht in sein Bewußtsein.
Am Mittwoch, dem zweiundzwanzigsten Juni, saßen Ellery und Inspector Queen gerade beim Frühstück, als es an der Tür läutete und Djuna, Haushaltshilfe der Queens, ein Telegramm für Ellery in Empfang nahm, das der Bote ihm präsentierte.
»Merkwürdig«, murmelte Ellery, während er das gelbe Kuvert öffnete. »Wer zum Teufel schreibt mir so früh am Morgen?«
»Von wem isses?« fragte der Inspector, der gerade auf einem Bissen Toast herumkaute.
»Es ist von -« Ellery faltete das Blatt Papier auf und starrte auf die getippte Unterschrift. »Von Yardley!« rief er freudig überrascht und grinste seinen Vater an. »Professor Yardley, du weißt doch. Einer von meinen Profs an der Uni.«
»Ich weiß, wen du meinst. Das war doch dieser Altertumsfritze, nicht wahr? Der war doch mal ein Wochenende bei uns zu Besuch. Ein ziemlich häßlicher alter Knabe mit Kinnbart, wenn ich mich recht entsinne.«
»Eine absolute Kapazität! Solche wie den gibt‘s heutzutage kaum noch«, sagte Ellery. »Mein Gott, das muß Jahre her sein, daß ich das letzte Mal von ihm gehört habe! Aber warum schreibt -«
»Schlage vor, daß du erst einmal den Text liest«, unterbrach der alte Herr milde. »Es ist die allgemein übliche Methode herauszufinden, warum dir jemand schreibt. Also manchmal bist du wirklich dümmer, als die Polizei erlaubt!«
Während der Inspector jedoch Ellerys Gesicht beobachtete, verlor sich sein Augenzwinkern. Dem jungen Herrn war der Unterkiefer heruntergefallen.
»Was ist los?« fragte der Inspector besorgt. »Jemand gestorben?« Er hatte den kleinbürgerlichen Aberglauben bewahrt, daß Telegramme nichts Gutes verhießen.
Ellery schob den gelben Zettel über den Tisch, sprang vom Stuhl auf, warf Djuna seine Serviette zu und stürzte ins Schlafzimmer, wobei er sich bereits seinen Morgenrock vom Leibe riß.
Der Inspector las:
DACHTE NACH ALL DEN JAHREN JETZT IST DER ZEITPUNKT DAS ANGENEHME MIT DEM NUTZLICHEN ZU VERBINDEN STOP STATTEN SIE MIR DOCH DEN LANGVERSPROCHENEN BESUCH AB STOP SAFTIGER MORD DIREKT GEGENÜBER STOP HEUTE MORGEN PASSIERT UND ÖRTLICHE POLIZEI NOCH NICHT HIER STOP HÖCHST INTERESSANT STOP MEIN NACHBAR AN TOTEMPFAHL AUF SEINEM GRUNDSTÜCK GEKREUZIGT STOP KOPF FEHLT STOP ICH ERWARTE SIE HEUTE
YARDLEY
4. Bradwood
Lange bevor der alte Duesenberg sein Ziel erreichte, war unübersehbar, daß etwas Außergewöhnliches vorging. Den Long Island Highway, auf dem Ellery in gewohnt halsbrecherischer Geschwindigkeit entlangraste, teilte er sich mit Schwärmen von uniformierten Polizisten, die ausnahmsweise überhaupt keine Notiz von dem ernsten, großen jungen Mann nahmen, der mit hundert Sachen an ihnen vorbeidonnerte. Ellery hoffte, daß ihn endlich jemand anhalten möge, damit er seinem Widersacher auf zwei Rädern ein hämisches »Spezialeinsatz!« entgegenschleudern konnte; denn er hatte seinen Vater so lange bearbeitet, bis der sich telefonisch nach dem Leichenfund erkundigt und Inspector Vaughn von der Bezirkspolizei Nassau mitgeteilt hatte, daß sein »berühmter Sohn«, wie er raffiniert unaufdringlich formuliert hatte, bereits unterwegs sei und er doch hoffe, daß man dem jungen Helden entsprechende Freiheiten einräumen würde, zumal dieser im Besitz hochbrisanter Informationen sei, wie sich der alte Herr ausdrückte, die für Inspector Vaughn und den Staatsanwalt sicherlich von Interesse seien. Mit Bezirksstaatsanwalt Isham hatte er ebenfalls telefoniert, seine Laudatio wiederholt und die damit verbundenen Hoffnungen bekräftigt. Ein offenbar sehr mitgenommener Isham hatte gemurmelt: »Für mich ist jede Nachricht eine gute Nachricht; schicken Sie ihn vorbei!« und versprochen, daß man am Tatort nichts verändern würde, bevor Ellery dort aufkreuzte.