Es war um die Mittagszeit, als der Duesenberg schließlich in eine der gepflegten Privatstraßen von Long Island einbog und prompt von einer Motorradstreife zum Geschwindigkeitsduell gefordert wurde.
»Bradwood hier entlang?« brüllte Ellery.
»Kann schon sein«, brüllte der Polizist zurück. »Aber für Sie ist die Reise hier zu Ende! Drehen Sie um, und fahren Sie nach Hause, und zwar dalli!«
»Inspector Vaughn und Staatsanwalt Isham erwarten mich!« parierte Ellery grinsend.
»Oh! Sie sind Mr. Queen? Entschuldigen Sie, Sir. Fahren Sie weiter!« Ellery gönnte sich den Triumph, gab unverzüglich Gas und hielt fünf Minuten später zwischen zwei Anwesen. Der mit Polizeifahrzeugen vollgestellten Einfahrt nach zu schließen, handelte es sich bei dem einen um Bradwood, wo der Mord geschehen war; das andere mußte, da es direkt gegenüber lag, folglich seinem Freund und früheren Lehrer Professor Yardley gehören.
Dieser höchstselbst, ein häßlicher, schlaksiger Mann, der stark an Abraham Lincoln erinnerte, eilte Ellery, der gerade aus seinem Duesenberg sprang, entgegen und ergriff seine Hand.
»Queen! Wie schön, Sie wiederzusehen!«
»Ganz meinerseits, Professor! Gott, das ist Jahre her! Was hat Sie denn nach Long Island verschlagen? Zuletzt hieß es noch, Sie leben nach wie vor auf dem Campus und martern die Studenten!«
Der Professor grinste in seinen kurzen schwarzen Bart hinein. »Ich habe diesen Tadsch Mahal da drüben« - Ellery wandte sich um und erblickte Turmspitzen und eine bzyantinische Kuppel, die die Bäume überragten -»von einem völlig verrückten Freund gemietet. Diese Scheußlichkeit hat er sich hingestellt, weil er ’nen Orientfimmel hat. Ist gerade auf einem Streifzug durch Kleinasien. Ich arbeite diesen Sommer hier. Mit hat halt immer die nötige Ruhe gefehlt, mein Werk über die Ursprünge der Atlantis-Sage endlich abzuschließen. Sie erinnern sich an die Ausführungen Platons dazu?«
»Und ob«, schmunzelte Ellery, »auch an Bacons New Atlantis, aber mein Interesse galt immer mehr dem literarischen als dem wissenschaftlichen Aspekt.«
Yardley gab einen Grunzlaut von sich. »Immer noch derselbe vorlaute Grünschnabel, wie ich sehe. So bin ich denn in diese Sache hineingeraten.«
»Was um alles in der Welt hat Sie auf mich gebracht?«
Sie schritten gemeinsam die mit Fahrzeugen vollgestellte Einfahrt von Bradwood hoch. Vor ihnen lag ein großes, im Kolonialstil erbautes Haus, dessen riesige Säulen in der
Mittagssonne schimmerten.
»Der lange Arm des Zufalls«, erwiderte der Professor trocken. »Ich habe Ihren Werdegang interessiert verfolgt, wie Sie sich sicher denken können. Ihre Erfolge haben mich immer sehr fasziniert; und so habe ich denn die Berichte über diesen außergewöhnlichen Mordfall in West Virginia vor fünf oder sechs Monaten auch geradezu verschlungen.«
Ellery sah sich genau um, bevor er reagierte. Bradwood war eine bis ins letzte Detail durchdachte Anlage -der Wohnsitz eines reichen Mannes. »Ich hätte eigentlich wissen sollen, daß Ihren Augen, die Tausende von Papyri und Stelen untersucht haben, so leicht nichts entgeht. Sie haben also den hochdramatischen Bericht über meinen netten kleinen Abstecher nach Arroyo gelesen?«
»Allerdings. Das hochdramatische Scheitern inklusive.« Der Professor lachte. »Zugleich jedoch hat mich zutiefst befriedigt, daß Sie die Grundregel angewandt haben, die ich dem Sturkopf Queen so lange vergeblich gepredigt hatte -immer zum Ursprung zurück! Das ägyptische Kreuz? In diesem Falle, fürchte ich, ist leider der Hang zum Theatralischen mit Ihnen durchgegangen und die wissenschaftliche Wahrheit dabei auf der Strecke geblieben ... Nun, da wären wir.«
»Worauf wollen Sie hinaus?« fragte Ellery und schaute verwirrt. »Das Tau-Kreuz ist doch ein primitives ägyptisches -«
»Das diskutieren wir später. Ich nehme an, Sie möchten mit Isham sprechen. Er ist so freundlich gewesen, mich hier ein bißchen herumschlendern zu lassen.«
Der Bezirksstaatsanwalt von Nassau County, ein gedrungener Mann mittleren Alters mit wässrigen blauen Augen und einem im Schwund begriffenen Kranz grauer Haare auf dem Kopf, stand auf den Stufen der ausladenden Veranda und war offenbar in eine hitzige Debatte mit einem großgewachsenen, muskulösen Mann in Zivil verwickelt.
»Ähm - Mr. Isham«, begann Professor Yardley, »das ist mein Schützling, Ellery Queen.«
Die beiden Männer drehten sich flugs herum. »Ah ja«, sagte Isham in einem Ton, der verriet, daß seine Gedanken woanders waren. »Wie erfreulich, daß Sie dazugestoßen sind, Mr. Queen. Ich wüßte zwar nicht, wie Sie uns im Augenblick behilflich sein könnten, aber -« Er zuckte mit den Schultern. »Darf ich vorstellen -Inspector Vaughn von Nassau County.«
Ellery begrüßte beide mit Handschlag. »Ich habe Ihre Erlaubnis, mich ein wenig umzusehen? Sie haben mein Wort, daß ich Ihnen nicht im Weg sein werde.«
Inspector Vaughn bleckte seine braunen Zähne. »Da gibt‘s nicht viel Weg. Wir treten vollkommen auf der Stelle, Mr. Queen. Möchten Sie sich das Hauptbeweisstück ansehen?«
»Das wäre zumindest so üblich. Kommen Sie, Professor.«
Die vier Männer stiegen die Stufen der Veranda hinab und folgten einem Kiesweg, der um den Ostflügel des Hauses herumführte. Ellery begann zu ahnen, welch ungeheure Ausmaße das Grundstück besaß. Das Hauptgebäude, so sah er nun, lag auf einer Anhöhe genau in der Mitte zwischen der Straße, in der er seinen Duesenberg geparkt hatte, und einer vom Hauptgebäude aus sichtbaren Bucht, in der sich das Wasser sonnenglitzernd kräuselte. Das Gewässer, so erläuterte Staatsanwalt Isham, war ein Nebenarm des Long Island Sound und nannte sich Ketcham‘s Cove. Jenseits der Bucht zeichnete sich die bewaldete Silhouette einer kleinen Insel ab. Oyster Island, bemerkte der Professor, beherberge eine Schar von ...
Ellery sah ihn fragend an, doch Isham winkte gereizt ab: »Später.« Yardley zuckte die Achseln und sah davon ab, seinen Satz zu vollenden.
Der Kiesweg führte sie von dem Kolonialbau fort; und nach nicht einmal zehn Metern waren sie bereits von Wald umgeben. Dreißig Meter weiter gelangten sie zu einer Lichtung, in deren Mitte ein groteskes Objekt stand.
Die Männer hielten schweigend inne, wie Menschen gewöhnlich innehalten, wenn sie direkt mit gewaltsamem Sterben konfrontiert werden. Um das Objekt herum waren Polizeibeamte zugange; Ellery jedoch sah nichts anderes als die schaurige Skulptur.
Es handelte sich um einen etwa drei Meter hohen, holzgeschnitzten Pfahl, der einmal leuchtend bunt bemalt gewesen sein mußte; die Farben waren jedoch verblaßt und das Holz so fleckig und verformt, als habe der Pfahl jahrhundertelang dem Wetter trotzen müssen. Das Schnitzwerk bestand aus fratzenhaften Masken und seltsamen Fabeltieren, über denen ein grob geschnitzter Adler mit gesenktem Kopf und ausgebreiteten Schwingen thronte. Die Schwingen waren so flach, daß der Pfahl samt der ausgebreiteten Schwingen, wie Ellery sofort auffiel, stark an ein großes T erinnerte. Vom Pfahl herab hing die enthauptete Leiche eines Mannes, dessen Arme mit einem dicken Seil an den Adlerschwingen festgebunden waren.
Die Füße waren etwa einen Meter über dem Erdboden in ähnlicher Weise am Längspfahl befestigt. Der markante hölzerne Schnabel des Adlers befand sich nur wenige Zentimeter über dem blutigen Loch zwischen den Schultern des Toten. Der gräßliche Anblick hatte zugleich etwas Pathetisches wie Grauenvolles; und von der verstümmelten Leiche ging eine erschreckende Hilflosigkeit aus -die anrührende Ohnmacht einer geköpften Flickenpuppe.
»Tja«, sagte Ellery mit zittriger Stimme. »Netter Anblick, was?«
»Entsetzlich«, sagte Isham leise. »So was habe ich mein Lebtag noch nicht gesehen. Da gefriert einem das Blut.« Er schüttelte sich. »Kommen Sie, bringen wir es hinter uns!«