Sie traten näher an den Pfahl heran. Ellery bemerkte auf der Lichtung in ein paar Metern Entfernung ein strohgedecktes Gartenhaus, dessen Eingang ein Polizist bewachte, und widmete seine Aufmerksamkeit wieder dem Toten. Es handelte sich um die Leiche eines Mannes mittleren Alters mit ausgeprägtem Schmerbauch und knorrigen alten Händen. Der Tote trug graue Flanellhosen, ein am Halse offenes Seidenhemd, weiße Socken und Schuhe und eine samtene Rauchjacke.
Vom Halsansatz bis zu den Füßen war die Leiche über und über mit Blut beschmiert, als habe man sie in einem Faß voller Blut gebadet.
»Ein Totemsbaum, nicht wahr?« fragte Ellery Professor Yardley, als sie unterhalb der Leiche vorbeigingen.
»Totempfahl ist der gängige Ausdruck«, antwortete Yardley ruhig. »Ich bin zwar kein Totemismus-Experte, aber dieses Exemplar hier ist entweder sehr früh nordamerikanisch oder eine geschickte Nachahmung, habe ein derartiges noch nie gesehen. Der Adler versinnbildlicht den Adler-Clan.«
»Ich nehme an, die Identität der Leiche steht fest?«
»Ja«, entgegnete Inspector Vaughn, »Sie blicken auf die sterblichen Überreste von Thomas Brad, dem Eigentümer von Bradwood, einem millionenschweren Teppichimporteur.“
»Aber die Leiche ist noch nicht abgenommen worden«, wandte Ellery geduldig ein. »Wie können Sie da sicher sein?«
Isham wirkte überrascht. »Das ist okay. Es ist Brad. Wir haben die Kleidung überprüft, und der Bauch ist ja wohl kaum zu übersehen!«
»Stimmt allerdings. Wer hat die Leiche entdeckt?«
Inspector Vaughn erstattete Bericht. »Sie wurde um halb acht in der Frühe von einem Hausangestellten, Fox, gefunden, der hier gärtnert und auch als Chauffeur arbeitet. Fox wohnt in einer Waldhütte auf der anderen Seite des Hauses. Als er heute morgen wie üblich zum Hauptgebäude ging, um den Wagen für Lincoln -Jonah Lincoln gehört zu den Leuten, die hier wohnen - aus der Garage im Rückteil des Hauses zu holen, war Lincoln noch nicht fertig. Fox begab sich in der Zwischenzeit auf diese Seite, um nach ein paar Blumen zu schauen, und stieß so auf die Leiche. Bei dem Anblick ist ihm speiübel geworden, wie er sagt.«
»Kann ich mir gut vorstellen«, bemerkte Professor Yardley, der allerdings selbst erstaunlich wenig Berührungsängste zeigte. Er untersuchte gerade mit konzentrierter Sachlichkeit den Totempfahl samt seiner grausigen Last, als handele es sich um einen historischen Fund.
»Nun«, fuhr Inspector Vaughn fort, »er hat sich dann zusammengerissen und ist zum Haus zurück. Das Übliche halt hat das Haus alarmiert, niemand hat etwas angefaßt. Lincoln, ein zwar nervöser, aber auch besonnener Bursche, hat sich um alles gekümmert, bis wir angerückt sind.«
»Und wer ist Lincoln?« fragte Ellery freundlich.
»Der Hauptgeschäftsführer von Brads Firma. Brad & Megara, wissen Sie«, erläuterte Isham, »die Teppichriesen. Lincoln wohnt hier. Soweit ich weiß, hat Brad ihn sehr gemocht.«
»Ein zukünftiger Teppichmagnat, sozusagen. Und Megara wohnt der auch hier?«
Isham zuckte die Achseln. »Wenn er nicht gerade auf See ist. Ist irgendwo auf einer Kreuzfahrt, schon seit Monaten unterwegs. Brad war der aktive Partner.«
»Dann ist ja anzunehmen, daß der reisefreudige Mr. Megara für den Totempfahl verantwortlich ist.«
Ein schmächtiger Mann trottete den Weg entlang auf sie zu. Er hatte eine schwarze Tasche bei sich.
»Das ist Doc Rumsen«, sagte Isham sichtlich erleichtert. »Der Gerichtsmediziner von Nassau County. Hi, Doc, na schauen Sie sich das mal an!«
»Mach‘ ich längst«, entgegnete Dr. Rumsen barsch. »Man
könnte glatt meinen, man befände sich in den Schlachthöfen von Chicago.«
Ellery sah sich den Toten näher an. Er schien vollkommen starr zu sein. Dr. Rumsen betrachtete die Leiche mit routiniertem Blick und schnaubte verächtlich. »Los, holen Sie ihn schon runter. Oder erwarten Sie, daß ich zu ihm raufklettere?«
Inspector Vaughn machte zwei Detectives Zeichen, die sich daraufhin mit aufgeklappten Messern in Bewegung setzten. Einer von ihnen verschwand im Gartenhaus und kehrte mit einem stabilen Stuhl zurück, postierte ihn neben dem Totempfahl, stellte sich auf die Sitzfläche und brachte sein Messer in Position.
»Durchschneiden, Chief?« fragte er, bevor er die Klinge ansetzte, um das Seil am rechten Arm zu durchtrennen. »Vielleicht wär‘s günstiger, das Seil ganz zu lassen. Den Knoten krieg‘ ich schon auf.«
»Durchschneiden«, erwiderte der Inspector scharf, »ich will mir den Knoten ansehen. Könnte ein Hinweis sein.«
Weitere Männer kamen dazu. Während sie ihre traurige Pflicht erfüllten, herrschte Totenstille.
»Ganz nebenbei gefragt«, murmelte Ellery, während sie der Kreuzesabnahme zusahen, »wie hat der Mörder es fertiggebracht, die Leiche da hochzuhieven und die Handgelenke in mehr als zweieinhalb Metern Höhe an den Adlerschwingen zu befestigen?«
»Genauso, wie der Kollege es gerade vorexerziert«, erwiderte der Staatsanwalt trocken. »Wir haben einen blutbefleckten Stuhl von derselben Form wie diesen hier im Gartenhaus gefunden. Entweder waren‘s zwei, oder der Kerl, der für das Schlachtfest verantwortlich ist, ist ein Hüne. Die Leiche da hochzuwuchten war sicher kein Kinderspiel, selbst wenn er auf einem Stuhl gestanden hat.«
»Wo haben Sie den Stuhl gefunden?« fragte Ellery nachdenklich. »Im Gartenhaus?«
»Ja. Muß ihn zurückgestellt haben, als er mit der Schweinerei fertig war. Im Gartenhaus befinden sich noch einige andere Gegenstände, Mr. Queen, um die wir uns kümmern sollten.«
»Da wäre noch etwas, was Sie interessieren könnte«, sagte Inspector Vaughn, als der Leichnam endlich von seinen Fesseln befreit im Gras lag. »Das hier.«
Er entnahm seiner Tasche einen kleinen scheibenförmigen roten Gegenstand und drückte ihn Ellery in die Hand. Es handelte sich um einen hölzernen Dame-Spielstein.
»Hm«, murmelte Ellery, »reichlich prosaisch. Wo haben Sie den gefunden, Inspector?«
»Auf dieser Lichtung hier. Im Kies, etwa einen Meter rechts vom Pfahl.«
»Und was macht Sie so sicher, daß der Stein etwas zu sagen hat?« Ellery drehte ihn in seinen Fingern nach allen Seiten.
Vaughn schmunzelte. »Wir haben ihn im Kies gefunden. An seiner Beschaffenheit läßt sich jedoch ablesen, daß er nicht lange dort gelegen haben kann, wie Sie sehen. Außerdem springt einem ein roter Gegenstand auf dem sauberen grauen Kies doch sofort ins Auge! Fox schaut jeden Tag in jedem Winkel des Grundstücks nach dem rechten; folglich ist es sehr unwahrscheinlich, daß der Stein gestern schon tagsüber hier gelegen hat, was Fox seiner Aussage nach für ausgeschlossen hält. Mir war auf Anhieb klar, daß das Ding etwas mit den Vorgängen letzte Nacht zu tun haben muß -im Dunkeln unsichtbar.«
»Hervorragend, Inspector!« schmunzelte Ellery zurück. »Sie sprechen mir aus der Seele.« Als er Vaughn den Spielstein zurückgab, stieß Dr. Rumsen völlig unprofessionell eine Reihe höchst farbiger Flüche aus.
»Was ist los?« fragte Isham, indem er hinzueilte. »Etwas gefunden?«
»Zur Hölle will ich fahren, wenn das nicht das Seltsamste ist, was ich je gesehen habe!« schimpfte der Gerichtsmediziner. »Schauen Sie sich das mal an!«
Der Leichnam von Thomas Brad lag etwa einen Meter vom Totempfahl entfernt wie eine umgestürzte Marmorstatue im Gras. Er war unnatürlich starr. Die Leichenstarre hält noch an, dachte Ellery. Wie der Tote so dalag und seine Arme noch immer ausstreckte, fühlte sich Ellery in erschreckendem Maße an die Leiche von Andrew Van erinnert, die er ein halbes Jahr zuvor in Weirton besichtigt hatte -wenn man einmal von den Kleidern und dem Schmerbauch absah. Beide, so dachte er bitter, waren so zurechtgemetzelt worden, daß sie ein T bildeten ... Ellery schüttelte den Kopf und bückte sich ebenfalls, um nachzusehen, was Dr. Rumsen so verstört hatte.