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»Nun mal langsam, Inspector«, entgegnete Ellery beruhigend. »Denk an deinen Blutdruck! Ich bin einfach nur neugierig. So eine wahnsinnige Geschichte ist mir noch nie begegnet. Die Gerichtsverhandlung muß ich unbedingt noch abwarten. Ich bin ja so gespannt auf das Beweismaterial, auf das Luden angespielt hat.«

»Du wirst mit eingezogenem Schwanz nach New York zurückkommen«, prophezeite der Inspector düster.

»Oh, kein Zweifel«, grinste Ellery. »Aber in letzter Zeit ist mir irgendwie der Stoff für Romane ausgegangen; und dieser Mord trieft ja nur so vor schriftstellerischem Potential ...«

Sie ließen es dabei bewenden. Der Zug setzte sich in Bewegung und ließ einen Ellery auf dem Bahnsteig zurück, der sich nun frei, jedoch auch ein wenig unwohl fühlte. Er fuhr umgehend nach Weirton zurück.

Heute war Dienstag. Er hatte also bis Samstag nach Neujahr Zeit, dem Bezirksstaatsanwalt von Hancock County so viel an Informationen abzuschmeicheln, wie er nur konnte. Der Bezirksstaatsanwalt Crumit erwies sich als mürrischer alter Mann mit reichlich überzogener Selbsteinschätzung. Ellery gelang es zwar, sein Vorzimmer zu betreten; doch weiter kam er nicht, so sehr er auch darum bat und dabei seine Überredungskünste spielen ließ. Der Bezirksstaatsanwalt hat gerade keine Zeit. Der Bezirksstaatsanwalt ist beschäftigt. Versuchen Sie es morgen noch einmal. Der Bezirksstaatsanwalt hat für niemanden Zeit. Aus New York -Inspector Queens Sohn? Tut mir leid.

Zähneknirschend begab sich Ellery auf die Straßen Weirtons, unablässig bemüht, Gesprächsfetzen aufzuschnappen. Inmitten von Stechpalmenzweigen, glitzernden Christbäumen und sonstigem Weihnachtstand erging sich Weirton in einer Orgie nachempfundenen Grauens. Auf den Straßen waren erstaunlich wenige Frauen und gar keine Kinder zu sehen.

Männer trafen sich flüchtig und erörterten mit beinahe unbewegten Lippen, was nun zu tun war. Ellery schnappte auf, daß man den Täter offenbar zu lynchen gedachte; das ehrenwerte Vorhaben war nur leider zum Scheitern verurteilt, da es niemanden zu lynchen gab. Die State Police raste in die Stadt hinein und wieder hinaus. Gelegentlich, wenn sein Wagen gerade vorbeischoß, war die unnachgiebige Entschlossenheit im Gesicht des Bezirksstaatsanwalts Crumit zu erkennen.

Inmitten des Stimmengewirrs, das ihn umgab, wahrte Ellery seine innere Ruhe und seine unauffällige Art, Erkundigungen einzuziehen. Am Mittwoch unternahm er einen Versuch, Stapleton, den County Coroner, aufzusuchen. Stapleton war ein feister junger Mann, der unaufhörlich schwitzte; mit Worten allerdings war er sparsam. Ellery erfuhr nichts, was er nicht bereits gewußt hätte.

So verbrachte er die drei verbleibenden Tage damit, alle Informationen über das Mordopfer Andrew Van zusammenzutragen, die er ergattern konnte. Es war unfaßbar, wie wenig man über den Mann wußte. Wenige waren ihm jemals persönlich begegnet; er mußte ein sehr zurückgezogenes Leben geführt haben und äußerst selten nach Weirton gekommen sein. Zudem war er offenbar ein vorbildlicher Lehrer gewesen; seinen Schülern gegenüber freundlich, jedoch nicht zu nachsichtig; seine Unterrichtsstunden hatte er nach Auskunft des Stadtrats von Arroyo ordnungsgemäß abgehalten.

Darüber hinaus war er, obwohl kein Kirchgänger, zumindest dem Alkoholgenuß gegenüber abgeneigt gewesen, was sein Ansehen in der gottesfürchtigen, grundsoliden Gemeinde gefördert hatte.

Am Donnerstag entdeckte der Herausgeber der führenden Zeitung Weirtons seine literarische Ader. Am nächsten Tag war Neujahr; eine solche Gelegenheit konnte man sich nicht entgehen lassen. Die sechs Pfarrer, die für das Seelenheil der Gemeinde Weirton zuständig waren, hatten ihre Predigten auf die Titelseite setzen lassen. Andrew Van, so ließen sie wissen, sei kein gottesfürchtiger Mann gewesen. Und wer gottlos lebe, sterbe auch gottlos. Dennoch sei eine solche Gewalttat ...

Aber dabei hatte es der Herausgeber keineswegs bewenden lassen. Es gab zusätzlich ein Editorial in Fettdruck, das überreich gespickt war mit Anspielungen auf Ritter Blaubart, Landru, den Vampir von Düsseldorf, Jack the Ripper, den Lieblingshorror der Amerikaner, und vielen anderen monströsen Gestalten aus Dichtung und Wirklichkeit ­appetitliche Häppchen, die man den rechtschaffenen Leuten von Weirton für das Neujahrsdinner zum Dessert reichte.

Das Bezirksgericht, in dem der Coroner für Samstag morgen die Verhandlung anberaumt hatte, war schon lange vor Sitzungsbeginn brechend voll. Ellery war klug genug gewesen, als einer der ersten zu erscheinen und sich einen Sitzplatz in der ersten Reihe, direkt vor der Gerichtsschranke, zu sichern.

Als Coroner Stapleton kurz vor neun den Gerichtssaal betrat, nahm Ellery ihn beiseite, präsentierte ihm ein Telegramm, das der Polizeipräsident von New York City unterzeichnet hatte, und verschaffte sich dank dieses Sesam-öffne-dich Zugang zum Vorraum, in dem Andrew Van aufgebahrt war.

»Die Leiche ist allerdings in äußerst schlechtem Zustand«, keuchte der Coroner. »Aber wir hätten die Verhandlung ja schließlich nicht in der Weihnachtswoche eröffnen können ... ist jetzt immerhin acht Tage her. Unser Leichenbestatter am Ort hat ihn so lange aufbewahrt.«

Ellery biß die Zähne zusammen und zog das Leichentuch herunter. Von dem Anblick wurde ihm derart übel, daß er den Toten sofort wieder zudeckte. Es war die Leiche eines großen, kräftigen Mannes. Wo der Kopf hätte sein sollen, war nichts ... ein klaffendes Loch.

Auf einem Tisch daneben lag Herrenkleidung: ein schlichter dunkel-grauer Anzug, schwarze Schuhe, ein Oberhemd, Socken und Unterwäsche. Alles war steif von getrocknetem Blut. Die Gegenstände, die man in den Taschen gefunden hatte -ein Bleistift, ein Füllfederhalter, die Brieftasche, ein Schlüsselbund, eine zerknüllte Zigarettenschachtel, einige Münzen, eine billige Armbanduhr sowie ein alter Brief -erwiesen sich, soweit Ellery abschätzen konnte, als vollkommen uninteressant. Außer den Initialen A. V. auf einigen der Gegenstände und dem Brief von einer Buchhandlung in Pittsburgh -an Hernn Andrew Van adressiert - war für die Gerichtsverhandlung nichts von Belang.

Stapleton wandte sich zur Seite, um einen großen, verbissen dreinschauenden Mann vorzustellen, der Ellery argwöhnisch beäugte. »Mr. Queen - Staatsanwalt Crumit.«

»Wer bitte?« entgegnete Crumit scharf.

Ellery schmunzelte, nickte und kehrte zum Gerichtssaal zurück.

Fünf Minuten später war Stapletons Hammer zu hören, und in dem überfüllten Sahl erstarb das Gemurmel. Die Präliminarien brachte man schnell hinter sich und rief als erstes Michael Orkins in den Zeugenstand.

Orkins, ein knorriger, buckliger alter Farmer, in dessen Gesicht sich die Sonne eingebrannt hatte, trampelte von Blicken und Geflüster gefolgt den Gang entlang, setzte sich und faltete nervös seine großen Hände.

»Mr. Orkins«, schnaufte der Coroner, »bitte schildern Sie uns, wie Sie die Leiche von Andrew Van gefunden haben!«

Der Farmer fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Ja, Sir. Ich war also Freitag morgen mit meim Ford auf‘m Weg nach Arroyo. Kurz vor der Kreuzung seh‘ ich Ol‘ Pete, der wohl mal wieder von sei‘m Berg runter war un‘ auf ein‘ wartete, der ihn nach Arroyo mitnahm. Ja, un‘ da komm‘ wir dann an die Kreuzung un‘ -un‘ da sehn wir‘n dann am Wegweiser hängen. Mit Nägeln in Händen un‘ Füßen.« Orkins versagte die Stimme. »Sin‘ dann in ei‘m Affenzahn in die Stadt.«

Jemand im Saal kicherte. Der Coroner gebot mit seinem Hammer Ruhe. »Haben Sie den Leichnam berührt?«

»Nein, Sir! Wir sin‘ ja nich‘ mal aus‘m Wagen raus!«

»Ich danke Ihnen, Mr. Orkins.«

Der Farmer atmete erleichtert auf und schlurfte langsam den Gang hoch, während er seine Stirn mit einem großen roten Taschentuch betupfte.

»Äh - Old Pete?«