Auf den hinteren Bänken des Gerichtssaals erhob sich eine Gestalt, die augenblicklich für Aufruhr sorgte. Es handelte sich um einen Mann mit grauem Rauschebart und buschigen Augenbrauen. In seinem zerlumpten und schmutzigen Flickenkostüm latschte er den Gang hinunter, zögerte, schüttelte verächtlich den Kopf und nahm im Zeugenstand Platz.
Der Coroner schien ungeduldig. »Wie lautet Ihr voller Name?«
»Häh?« Der alte Mann sah sich mit leeren, doch skeptischen Augen um.
»Ihr Name! Pete - und wie weiter?«
Old Pete schüttelte den Kopf. »Hab‘ keinen«, erklärte er. »Ich heiß‘ einfach Old Pete. Bin schon lange tot. Schon zwanzig Jahre bin ich jetz‘ tot.«
Das Publikum erstarrte, und Stapleton schaute sich verwirrt um. Ein kleiner Mann mittleren Alters, der direkt neben dem Podium gesessen hatte und dem Wortwechsel aufmerksam gefolgt war, stand unvermutet auf. »Is‘ schon in Ordnung, Mr. Coroner.«
»Ich höre, Mr. Hollis?«
»Ist in Ordnung«, wiederholte er mit erhobener Stimme. »Old Pete is‘n bißchen verwirrt, verstehnse. Wir kennen ihn gar nich‘ anders, seit er vor ‘n paar Jahren hier aufgetaucht is‘. Hat wohl ‘ne Hütte da oben in den Bergen und kommt alle zwei Monate oder so nach Arroyo rein. Jagt wahrscheinlich. Über den hat man sich in Arroyo schon so manches erzählt, is ‘ne Art Original, sozusagen, Mr. Coroner.«
»Verstehe. Danke, Mr. Hollis.«
Der Coroner tupfte sich den Schweiß vom feisten Gesicht, während sich der Bürgermeister von Arroyo unter zustimmendem Geraune wieder setzte. Old Pete begann zu strahlen und winkte Matt Hollis mit einer schmutzigen Hand zu. In schroffem Ton setzte der Coroner die Befragung fort. Die Antworten des Zeugen waren vage, reichten jedoch aus, um Orkins Geschichte formal zu bestätigen. Als man den Einsiedler schließlich entließ, schlurfte er blinzelnd zu seinem Platz zurück.
Als nächste trugen Mayor Hollis und Constable Luden ihre Geschichten vor -wie sie von Orkins und Old Pete aus dem Schlaf gerissen worden und zur Kreuzung gefahren seien, die Leiche identifiziert, die Nägel herausgerissen und den Körper abtransportiert hätten, wie sie bei Vans Haus haltgemacht, das Schlachtfeld im Innern und das blutige T an der Haustür gesehen hätten ...
Dann rief man einen wohlbeleibten alten Deutschen mit roten Wangen auf. »Luther Bernheim.«
Dieser lächelte, ließ dabei seine Goldzähne blitzen und nahm mit schwabbelndem Bauch auf dem Stuhl Platz.
»Sie sind der Inhaber der Gemischtwarenhandlung von Arroyo?«
»Ja, Sir.«
»Haben Sie Andrew Van gekannt?«
»Ja, Sir. Er war bei mir Stammkunde.«
»Seit wann waren Sie mit ihm bekannt?«
»Ach! Seit vielen Jahren! Er war ein guter Kunde, hat immer in bar bezahlt!«
»Hat er seine Einkäufe selbst erledigt?«
»Manchmal ja. Meist hat er jedoch diesen Kling geschickt, seinen Gehilfen. Seine Rechnungen hat er jedoch immer persönlich beglichen.“
»War er ein freundlicher Mensch?«
Bernheim verzog das Gesicht. »Nun, äh ja und nein.«
»Sie meinen, er war freundlich, hat aber persönlichen Umgang vermieden?«
»Ja, ja.«
»Würden Sie sagen, daß Van ein sonderbarer Mann war?«
»Häh? O ja, allerdings. Hat zum Beispiel immer Kaviar bestellt!«
»Kaviar?«
»Ja. Ich habe ihn eigens für Van bestellt. War der einzige Kunde, der Kaviar haben wollte - alle Sorten, zum Beispiel roten Beluga, aber meistens den schwarzen, den edelsten!«
»Mr. Bernheim, Mayor Hollis und Constable Luden, wenn Sie bitte so freundlich wären, mit mir nach nebenan zu kommen, um den Toten ordnungsgemäß zu identifizieren!«
Der Coroner verließ, von den drei Bürgern von Arroyo gefolgt, den Raum. In der Zwischenzeit erfüllte Stimmengewirr den Saal. Als die Männer zurückkamen, war die gesunde Gesichtsfarbe des armen Ladenbesitzers in einen bedenklichen Grauton übergegangen. Seine Augen verrieten nacktes Entsetzen.
Ellery stöhnte. Ein kleiner Schullehrer, der Kaviar bestellt! Vielleicht war Constable Luden ja intelligenter, als es den Anschein hatte; auf jeden Fall war Vans Vergangenheit illustrer gewesen, als sein Beruf und seine Umgebung vermuten ließen.
Man sah die hochgewachsene, hagere Gestalt des Bezirksstaatsanwalts Crumit den Gang entlang zum Zeugenstand schreiten. Eine Woge der Erregung schwappte durch das Publikum. Alles Vorangegangene war belanglos gewesen -jetzt kamen die großen Enthüllungen!
»Herr Staatsanwalt«, begann Coroner Stapleton und lehnte sich gewichtig nach vorn, »Sie haben bezüglich der Herkunft des Verstorbenen Nachforschungen angestellt?«
»Ja!«
Ellery rutschte tiefer in seinen Sitz; obwohl ihn heftige Abneigung gegen den Staatsanwalt erfaßte, lag etwas in seinem eisigen Blick, das Spannung erzeugte.
»Bitte lassen Sie uns die Ergebnisse hören!«
Der Staatsanwalt von Hancock County ergriff die Lehne des Zeugenstuhls. »Vor neun Jahren, als Andrew Van sich um eine Anstellung als Lehrer bewarb, ist er zum ersten Mal in Arroyo aufgetaucht. Seine Zeugnisse und Referenzen waren in Ordnung, und man gab ihm die Stelle. Er mietete das Haus an der Arroyo Road, zog zusammen mit seinem Hausangestellten Kling, den er mitgebracht hatte, dort ein und wechselte seinen Wohnsitz bis zu seinem Tode nicht mehr. Seinen Lehrberuf hat er zur Zufriedenheit aller ausgefüllt. Auch sein öffentliches Betragen in Arroyo war über jeden Vorwurf erhaben.« Crumit legte eine Kunstpause ein. »Meine Ermittlungsbeamten haben versucht, Vans Vergangenheit zu erhellen. Die Ermittlungen haben ergeben, daß er an einer öffentlichen Schule in Pittsburgh unterrichtet hat, bevor er nach Arroyo kam.«
»Und davor?«
»Keine Spur. Allerdings wissen wir, daß er in die Vereinigten Staaten eingebürgert wurde; seinem Antrag ist vor 13 Jahren stattgegeben worden. Die Unterlagen in Pittsburgh geben als Herkunftsland Armenien an, wo er anno 1885 geboren wurde.«
Armenien! dachte Ellery. Liegt nicht weit von Galiläa entfernt ...
Seltsame Gedanken schwirrten ihm durch den Kopf. Ungeduldig tat er sie schließlich ab.
»Sie haben auch Klings Vergangenheit ermittelt, Herr Staatsanwalt?«
»Ja. Kling war ein Findelkind, das vom Waisenhaus St. Vincent in Pittsburgh in seine Obhut genommen worden war. Als er die Volljährigkeit erreicht hatte, wurde er dort als Mädchen für alles angestellt und hat so den Großteil seines Lebens verbracht. Als Andrew Van seine Stelle in Pittsburgh aufgab, um nach Arroyo zu gehen, besichtigte er das Waisenhaus und äußerte seine Absicht, jemanden bei sich anzustellen. Kling hat seinen Vorstellungen offenbar entsprochen; Van sah ihn sich sehr genau an, zeigte sich zufrieden und nahm ihn mit nach Arroyo, wo er bis zu Vans Tod auch geblieben ist.«
Ellery fragte sich, welche Beweggründe ein Mann wohl haben mußte, um seine gesicherte Existenz in einer Großstadt wie Pittsburgh zugunsten einer Provinzstelle aufzugeben. Vorstrafen? Flucht vor der Polizei? Unwahrscheinlich; Großstädte gewährten Anonymität, nicht Provinznester, wo jeder jeden kannte. Nein, der Grund lag tiefer und war in rätselhaftes Dunkel gehüllt, da war Ellery sich vollkommen sicher. Vielleicht hatte er seine Motive unwiederbringlich mit ins Grab genommen. Manche Menschen suchten nach einem verpfuschten Leben nur noch Einsamkeit. Warum sollte dies nicht auch für Andrew Van, den kaviarsüchtigen Schulmeister von Arroyo, gegolten haben?
»Was für ein Mann war Kling?« fragte Stapleton.
Der Staatsanwalt wirkte gelangweilt. »Die Leute vom Waisenhaus beschrieben ihn als ausgesprochen schlichten Menschen; mir schien, daß sie ihn für einen Kretin hielten. Ein harmloser Bursche.«
»Hat es jemals Anzeichen dafür gegeben, daß er gemeingefährlich werden könnte, Mr. Crumit?«
»Nein. Im Waisenhaus hat man ihn als gutmütig, ja phlegmatisch in Erinnerung. Zu den Waisenkindern ist er stets freundlich gewesen. Ansonsten sehr bescheiden und seinen Wohltätern gegenüber ausgesprochen respektvoll.«