Der Chef der West Virginia State Police -ein hochgewachsener Mann mit soldatischem Schneid -kam der Aufforderung nach.
»Colonel Pickett, was haben Sie zu berichten?«
»Arroyo und Umgebung abgesucht«, erwiderte der Colonel in militärischem Stakkato, »aber vom Kopf des Ermordeten keine Spur. Auch der vermißte Kling scheint spurlos verschwunden. Zumindest jedoch haben wir seine Personenbeschreibung an die angrenzenden Staaten gesandt. Es wird nach ihm gefahndet.«
»Soweit mir bekannt ist, Colonel, hat man Sie mit der Aufgabe betraut, den letztbekannten Bewegungen sowohl des Ermordeten als auch des Vermißten nachzuspüren. Bitte lassen Sie uns die Ergebnisse hören!«
»Andrew Van ist zuletzt um vier Uhr nachmittags am vierundzwanzigsten Dezember, einem Donnerstag, lebend gesehen worden. Er hat Rebecca Traub, wohnhaft in Arroyo, aufgesucht, um ihr mitzuteilen, daß die Schulleistungen ihres Sohnes William in besorgniserregendem Maße nachließen. Nachdem er das Haus verlassen hatte, ist er, soweit wir wissen, von niemandem mehr lebend gesehen worden.«
»Und Kling?«
»Kling ist zuletzt von Timothy Traynor gesehen worden, einem Farmer, der zwischen Pughtown und Arroyo Land besitzt. Er kaufte einen Sack Kartoffeln, bezahlte in bar und trug ihn über seiner Schulter davon.«
»Ist der Kartoffelsack auf Vans Grundstück gefunden worden? Das, Colonel, könnte insofern bedeutsam sein, als sich so feststellen ließe, ob Kling das Haus je erreicht hat.«
»Ja, und zwar ungeöffnet. Traynor ist sich sicher, daß es sich um denselben Kartoffelsack handelt, den er Kling an jenem Nachmittag verkauft hat.«
»Haben Sie darüber hinaus noch etwas zu berichten?«
Colonel Pickett ließ seinen Blick über das Publikum schweifen, bevor er antwortete. »Allerdings!«
Im Gerichtssaal herrschte Totenstille. Ellery überkam ein mattes Lächeln. Der Augenblick der großen Enthüllungen war also endlich gekommen.
Colonel Pickett lehnte sich vor, um dem Coroner etwas zuzuflüstern. Stapleton blinzelte mit den Augen, schmunzelte, wischte sich über die feisten Wangen und nickte. Die Spannung stieg, und die Zuschauer rutschten unruhig auf ihren Stühlen hin und her. Gelassen gab Pickett jemandem im hinteren Teil des Saals Zeichen.
Daraufhin erschien ein hochgewachsener Polizist in Uniform, der eine seltsame Gestalt am Arm mit sich zerrte. Es handelte sich um einen kleinen alten Mann mit zerzaustem braunem Haar und einem zottigen Bart gleicher Farbe. Seine kleinen funkelnden Augen waren die eines Fanatikers. Seine Haut, schmutzig bronzefarben, wirkte derart sonnen-und wettergegerbt, als hätte er sein ganzes Leben im Freien verbracht. Ellery kniff die Augen zusammen, als er die Kleidung des Mannes studierte: Der Mann trug schlammverschmierte Khaki-Shorts und einen alten grauen Rollkragenpullover. Seine nackten, von grau schimmernden Venen durchzogenen Füße steckten in eigentümlichen Sandalen. In einer seiner Hände trug er einen bemerkenswerten Gegenstand - eine Art Zepter, dessen Spitze die handwerklich unbeholfene, offenbar handgeschnitzte Darstellung einer Schlange zierte.
Sein Erscheinen rief auf der Stelle einen Tumult und lautes Gelächter hervor. Der Coroner hämmerte wie ein Wahnsinniger um Ruhe.
Dem Polizisten und seinem skurrilen Schützling folgte ein junger Mann mit blassem Gesicht und ölverschmiertem Overall. Offenbar war er den meisten Zuschauern wohlbekannt, denn es reckten sich ihm im Vorbeigehen verstohlen Hände entgegen, die ihn ermutigend zu tätscheln versuchten, während andere Zuhörer im Saal offen auf seine gekrümmte Gestalt zeigten. Die drei passierten die Öffnung im Gitter vor dem Zeugenstand und setzten sich. Der bärtige Alte befand sich offenbar in den Klauen entsetzlicher Ängste; seine Augen flackerten wild, und das sonderbare Zepter zuckte in seiner Hand.
»Ich rufe Caspar Croker in den Zeugenstand.«
Der blasse junge Mann im ölverschmierten Overall schluckte, erhob sich und trat vor.
»Sie betreiben eine Tankstelle mit Werkstatt an der Main Street in Weirton?« fragte der Coroner.
»Ja, klar, aber Sie kennen mich doch, Mr. -«
»Bitte beantworten Sie die Frage«, unterbrach Stapleton barsch. »Berichten Sie den Geschworenen, was sich um dreiundzwanzig Uhr an Heiligabend ereignet hat.«
Croker holte tief Luft, sah sich um, als erhoffte er sich von der Menge einen letzten Zuspruch, und antwortete: »Ich hab‘ meinen Laden Heiligabend dichtgemacht -wollte halt feiern. Ich wohn‘ in einem Haus direkt hinter meiner Tankstelle. Um elfe nachts, während ich mit meiner Frau im Wohnzimmer sitze, hör‘ ich auf einmal einen gräßlichen Krach, so ‘ne Art Hämmern. Hörte sich so an, als käm‘s von meiner Tankstelle her, also bin ich raus. Stockfinster war‘s dazu.« Er schluckte erneut und fuhr hastig fort. »Nun, da war ‘n Mann draußen, der gegen die Tür hämmerte. Als er mich sah -«
»Einen Augenblick, Mr. Croker. Wie war der Mann gekleidet?«
Der Garagenbesitzer zuckte die Achseln. »War so dunkel, daß ich nichts erkennen konnte. Hatte ja auch kein Grund ‘n mir näher anzugucken.«
»Haben Sie dem Mann direkt ins Gesicht gesehen?«
»Ja, Sir. Er stand ja direkt unter meiner Nachtleuchte. Der hatte sich völlig eingemummt -war ja auch ‘ne Schweinekälte draußen -aber ich hatt‘ schon den Eindruck, daß er nich‘ erkannt werden will. Nun ja, also er war glattrasiert und mehr ‘n dunkler Typ, sah mir nach ‘m Ausländer aus, obwohl er fließend Englisch sprach.«
»Auf welches Alter würden Sie ihn schätzen?«
»Mitte Dreißig, schätzungsweise. Vielleicht auch jünger oder älter. Schwer zu sagen.«
»Was wollte er von Ihnen?«
»Er wollte nach Arroyo gefahren werden.«
Im Gerichtssaal war es so still geworden, daß Ellery das asthmatische Schnaufen des beleibten Mannes in der Reihe hinter ihm deutlich hören konnte. Die Zuschauer waren vor Anspannung auf die vordere Kante ihrer Sitze gerutscht.
»Was geschah dann?« fragte der Coroner.
»Nun ja«, erwiderte Croker mit mehr Nachdruck. »Das Ganze gefiel mir gar nich‘. War ja schließlich Heiligabend, und ich mußte meine Frau allein lassen un‘ all das. Aber dann hat er seine Brieftasche rausgeholt und mir zehn Dollar geboten, wenn ich ihn rüberfahre. Wissense, für‘n armen Mann wie mich is‘ das ‘ne Menge Geld, und da hab‘ ich eben gesagt, also gut, mach‘ ich.«
»Sie haben ihn also gefahren?«
»Ja, Sir, hab‘ ich. Bin also zurück, um meinen Mantel überzuwerfen, hab‘ meiner Frau gesagt, daß ich in ‘ner halben Stunde oder so zurück bin, hab‘ die alte Karre rausgeholt, er is‘ reingeklettert, un‘ dann sind wir los. Ich hab‘ ihn gefragt, wo er denn in Arroyo genau hin will, und er hat mich gefragt, ob‘s da nich‘ ‘ne Kreuzung gibt, wo die Straße nach Arroyo auf die von New Cumberland nach Pughtown trifft. Ja, sag‘ ich, die gibt‘s. Sagt er dann: Genau da will ich hin. Dann hab‘ ich ihn also dahin gefahren, er is‘ ausgestiegen, hat mir den Zehner gegeben, und ich bin auf der Stelle umgedreht un‘ nach Hause. War mir eh nich‘ geheuer, das Ganze.«
»Haben Sie gesehen, was er tat, nachdem Sie ihn dort abgesetzt hatten?«
Croker nickte eifrig. »Klar hab‘ ich ihn über die Schulter weg im Auge behalten. Wär fast im Graben gelandet. Er is‘ zu Fuß die Straße nach Arroyo runter. Ich hab‘ gesehn, dasser schwer gehinkt hat, Sir.«