»Ich pass‘ schon auf. Außerdem ist Luden vor Ort.« Er öffnete entschlossen die Tür, und Yardley folgte ihm in die Vorhalle. Ellery hielt dem Professor die Hand hin. »Wünschen Sie mir Glück, Sie alter Miesepeter. Oder vielmehr Van!«
»Tun Sie, was Sie nicht lassen können«, brummelte der Professor, während er Ellery Ewigkeiten die Hand drückte. »Ich werde alles daransetzen, Vaughn und Isham zu finden. Passen Sie auf sich auf, Junge. Sind Sie wirklich sicher, daß es sein muß? Daß Sie sich nicht umsonst den Naturgewalten preisgeben?«
Ellery erwiderte verbissen: »Krosac hat Megara in den vergangenen Wochen nur aus einem Grund verschont -er wußte nicht, wo sich Van aufhält. Wenn er Megara schließlich doch umgebracht hat, dann heißt das, er weiß nun, daß Van sich als Old Pete verkleidet und sich in einer bestimmten Hütte in den Bergen versteckt. Vermutlich hat er Megara diese Information entlockt, bevor er ihn tötete. Ich habe die moralische Pflicht, einen vierten Mord zu verhindern. Krosac ist mit Sicherheit in diesem Moment unterwegs nach West Virginia. Bleibt nur zu hoffen, daß er sich gestern nacht ein bißchen Schlaf gegönnt hat. Wenn nicht -« Er zuckte mit den Schultern, lächelte Yardley aufmunternd zu und flitzte, von Blitzen in unwirkliches Licht getaucht, durch den Regen in die seitliche Einfahrt zu der Garage, in der der alte Sportwagen stand.
Yardley sah ihm traurig nach und schaute mechanisch auf seine Armbanduhr. Es war genau ein Uhr.
27. Auf und davon
Ellerys Duesenberg schlängelte sich durch New York City, jagte durch den Holland-Tunnel, wich dem Verkehr in Jersey City aus, raste durch ein Gewirr von Städten in New Jersey und kam schließlich auf die gerade, nahezu verlassene Hauptstraße nach Harrisburg, auf der er pfeilschnell entlangschoß. Der Sturm war noch immer nicht abgeflaut; Ellery flehte Fortuna um Gnade an, während er gleichzeitig die Gesetze der Geschwindigkeit vergewaltigte. Die Göttin war ihm hold; in Pennsylvania passierte er eine Stadt nach der anderen, ohne von Motorrädern der Polizei behelligt zu werden.
In dem alten Wagen, der keinerlei Schutz vor dem Regen bot, stand längst das Wasser; in Ellerys Schuhen gluckste es, und von seinem Hut tropfte es ihm ständig ins Gesicht. Zum Glück hatte er im Wagen eine Rennfahrerbrille gefunden. Mit der Regenjacke über dem Leinenanzug, dem hellen Filzhut, der schlapp über seinen Ohren hing, der gelben Rennfahrerbrille über seinem Pincenez und dem verbissenen Gesichtsausdruck, mit dem er hinter dem riesigen Lenkrad kauerte und den Duesenberg durch die sturmgepeitschte Landschaft Pennsylvanias steuerte, gab er eine groteske Figur ab. Gegen Abend, es war ein paar Minuten vor sieben, erreichte er endlich Harrisburg. Es schüttete immer noch, er schien im Gefolge des Regenschauers zu fahren.
Sein leerer Magen erinnerte ihn nachdrücklich daran, daß er nicht zu Mittag gegessen hatte. Er parkte den Duesenberg in einer Garage, gab dem Mechaniker seine Anweisungen und machte sich auf die Suche nach einem Restaurant. Es dauerte keine Stunde, bis er wieder zurück war. Öl und Reifen waren überprüft und der Tank gefüllt. Schon jagte er stadtauswärts; während er klamm und fröstelnd hinter dem Steuer saß, war er doch froh, sich die Route so genau gemerkt zu haben. Zehn Kilometer weiter hatte er Rockville passiert, überquerte bald den Susquehanna River und holte aus dem alten Wagen heraus, was er nur hergab. Zwei Stunden später kreuzte er den Lincoln Highway, blieb jedoch stur auf seiner Route. Der starke Regen
hielt an.
Als er um Mitternacht völlig durchgefroren und erschöpft war und ihm ständig die Augen zufielen, fuhr er nach Hollidaysburg hinein. Wieder stoppte er zuerst bei einer Tankstelle; nach einer lebhaften Auseinandersetzung mit dem grinsenden Mechaniker machte er sich zu Fuß auf die Suche nach einem Hotel. Der Regen peitschte gegen seine durchnäßten Beine.
»Eine Übernachtung bitte«, stotterte er mit steifen Lippen an der Rezeption des kleinen Hotels, das er schließlich gefunden hatte. »Wäre es auch möglich, meine Kleider zu trocknen und mich morgen um sieben Uhr zu wecken?«
»Selbstverständlich, Mr. Queen«, erwiderte der Mann an der Rezeption, nachdem er einen Blick auf Ellerys Unterschrift geworfen hatte.
Am nächsten Morgen trat ein erholter Ellery mit trockenen Kleidern und einer großen Portion Eiern mit Schinken im Magen den letzten Abschnitt seiner langen Reise an. Wenn er zur Seite schaute, zogen die Verwüstungen an ihm vorbei, die der Sturm angerichtet hatte - entwurzelte Bäume, über die Ufer getretene Flüsse, Autowracks am Straßenrand. In den frühen Morgenstunden war der Sturm, nachdem er die ganze Nacht gewütet hatte, unerwartet abgeflaut. Doch noch immer bedeckten schwere graue Wolken das Land.
Um Viertel nach zehn fuhr Ellery durch Pittsburgh. Um halb zwölf schließlich hielt er mit quietschenden Reifen vor dem Rathaus von Arroyo, während die Sonne zaghaft durch die Wolken brach und die Gipfel der Alleghenies in ihr Licht tauchte.
Ein Mann in blauem Jeansanzug, an den Ellery sich vage erinnerte, fegte vor dem Eingang des Gebäudes den Bürgersteig.
»Moment mal, Mister«, protestierte der Einheimische, ließ
seinen Besen fallen und packte Ellery beim Arm, bevor er vorbeistürmen konnte. »Wo wollnse hin? Wen wollnse sprechen?«
Statt zu antworten, riß Ellery sich los und eilte mit großen Schritten durch die düstere Eingangshalle hindurch zum hinteren Teil des Gebäudes, in dem sich Constable Ludens Büro befand, doch die Tür war geschlossen; und soweit er sehen konnte, hielt auch sonst niemand in Arroyos Stadtzitadelle die Stellung. Er drückte die Klinke herunter -die Tür war nicht abgeschlossen. Der Mann mit dem sturen Bauerngesicht war hinter ihm her geschlurft.
Constable Ludens Büro war leer.
»Wo ist der Constable?« fragte Ellery.
»Genau das wollt‘ ich Ihn‘ eben schon sagen. Er is‘ nich‘ da.«
»Aha!« Ellery nickte wissend. Luden war also in den Bergen. »Und seit wann ist er fort?«
»Seit Montach morgen.«
»Was?« Ellerys Stimme überschlug sich vor Entsetzen. Er glaubte, die Katastrophe bereits zu wittern. »Um Himmels willen, dann hat er auch mein Telegramm nicht -« Er machte einen Satz zu Ludens Schreibtisch, auf dem sich ungeordnete Blätter stapelten. Der Mann in Jeans machte eine hilflose Handbewegung, als Ellery Ludens offizielle Korrespondenz durchwühlte, sofern von solcher die Rede sein konnte. Wie befürchtet, lag der gelbe Umschlag ungeöffnet da. Er riß ihn mit zitternden Fingern auf und las:
CONSTABLE LUDEN ARROYO WEST VIRGINIA
STEIGEN SIE MIT ZUVERLASSIGEM TRUPP ZU OLD PETES HÜTTE HOCH SCHÜTZEN SIE IHN BIS ICH DA BIN BENACHRICHTIGEN SIE CRUMIT FALLS ES BEREITS ZU SPÄT IST VERFOLGEN SIE KROSACS SPUR
ABER RÜHREN SIE AM TATORT NICHTS AN ELLERY QUEEN
In den krassesten Farben entstand vor Ellerys innerem Auge das Schreckensbild; ein fataler Zufall hatte alle seine Mühen zunichte gemacht, das Telegramm hatte er umsonst abgeschickt. Der Mann in Jeans erklärte ihm geduldig, daß der Constable und der Bürgermeister Mat Hollis vor zwei Tagen auf ihre alljährliche Angeltour gegangen waren; normalerweise blieben sie eine Woche fort, schlugen irgendwo ihr Zelt auf und angelten im Ohio und seinen Nebenflüssen. Vor Sonntag war nicht mit ihnen zu rechnen. Das Telegramm war am Vortag um kurz nach drei angekommen; der Mann in Jeans, nach eigener Auskunft Hausmeister und Mädchen für alles, hatte es in Empfang genommen, unterschrieben und auf Ludens Schreibtisch gelegt, wo es eine Woche gelegen hätte, wenn Ellery nicht nach Arroyo gekommen wäre. Der Hausmeister setzte gerade zu einem längeren Vortrag an, doch Ellery fegte ihn mit einem Anflug des Entsetzens in den Augen zur Seite, lief zu Arroyos Hauptstraße zurück und sprang in den Duesenberg.
Er bog mit brüllendem Motor um die Ecke und nahm die Route, die er von seiner ersten Exkursion mit Isham und Luden noch rekonstruieren konnte. Er hatte keine Zeit mehr, sich mit Bezirksstaatsanwalt Crumit von Hancock County oder Colonel Pickett in Verbindung zu setzen. Wenn das Befürchtete noch nicht eingetreten war, würde er mit jeder Situation fertig werden; in der Seitentasche des Sportwagens steckte eine geladene Automatic. Wenn es aber zu spät war ...