Der bärtige Alte neben dem Polizeibeamten stöhnte laut auf, und seine Augen rollten wild umher, als ob er nach einer Fluchtmöglichkeit suchte.
»Auf welchem Bein, Mr. Croker?«
»Na, auf dem linken. Ist jedenfalls auf dem rechten aufgetreten.«
»Und dann haben Sie ihn nie wiedergesehen?«
»Nein, Sir. Hatt‘ ihn auch vorher noch nie gesehen.«
»Danke, das reicht.«
Erleichtert verließ Croker den Zeugenstand und eilte den Gang hinauf, um hinter der Tür zu verschwinden.
»Nun«, sagte Coroner Stapleton, während er den kleinen Alten anstarrte, der mit fieberndem Blick auf seinem Sitz kauerte. »Sie da, treten Sie in den Stand!«
Der Polizist erhob sich und zerrte den alten Zottelbart auf die Füße. Der gnomenhafte Mann leistete keinerlei Widerstand, doch in seinen irren Augen spiegelte sich Angst. Der Polizist plazierte den Mann mit einer ruppigen Bewegung auf dem Zeugenstuhl und zog sich dann auf seinen eigenen Platz zurück.
»Wie heißen Sie?« fragte Coroner Stapleton.
Eine Woge von Gelächter schwappte durch das Publikum, als seine sonderbare Erscheinung in so exponierter Stellung voll zur Geltung kam. Es schien Ewigkeiten zu dauern, bis im Saal wieder Ruhe eingekehrt war. Unterdessen schaukelte der Zeuge auf seinem Stuhl herum und murmelte vor sich hin. Ellery drängte sich der beklemmende Eindruck auf, daß der Mann bete; er schien die Schlange anzubeten, die sein Zepter krönte.
Stapleton wiederholte nervös seine Frage. Der Zeuge hielt sein Zepter nun mit ausgestrecktem Arm und warf seine knochigen Schultern zurück. Es schien, als zöge er Würde und Kraft aus dieser Pose. Dann sah er Coroner Stapleton direkt in die Augen und erwiderte mit schriller, doch klarer Stimme: »Ich bin, den man Haracht nennt, der Gott der Mittagssonne. Ra-Haracht, der Falke!«
Es folgte Schweigen. Coroner Stapleton schreckte zurück, als hätte der Zeuge in unverständlichem Kauderwelsch Drohungen gegen ihn ausgestoßen. Die Zuschauer starrten fassungslos nach vorn, um schließlich in hysterisches Gelächter auszubrechen, das unbestimmter Angst entsprang. Der alte Mann wirkte zutiefst unheimlich; er strahlte eine Ernsthaftigkeit aus, die zu verbissen war, um vorgetäuscht zu sein.
»Wer?« fragte der Coroner verunsichert.
Der Mann, der sich Haracht nannte, verschränkte die Arme, das Zepter fest im Griff, vor seiner eingefallenen Brust und machte keinerlei Anstalten zu antworten.
Stapleton wischte sich über die Wangen und schien nicht so recht zu wissen, wie er nun fortfahren sollte. »Äh - welchem Beruf gehen Sie nach, Mr. - Mr. Haracht?«
Ellery glitt tiefer in seinen Sitz und schämte sich für den Coroner. Langsam wurde es peinlich.
Haracht entgegnete mit unbewegten Lippen: »Ich bin der Heiland der Schwachen. Ich mache Kranke wieder gesund. Ich bin, der Manzet steuert, die Barke des Sonnenaufgangs. Ich bin, der Mesenktet steuert, die Barke des Sonnenuntergangs. Manche nennen mich Horus, der Gott der Horizonte. Ich bin der Sohn von Nut, der Göttin des Himmels, Frau des Qeb, Mutter von Isis und Osiris. Ich bin der höchste Gott von Memphis, eins mit Etom -«
»Halt!« brüllte der Coroner. »Colonel Pickett, was soll dieser Unsinn? Hatten Sie mir nicht versichert, dieser Verrückte hier hätte etwas Entscheidendes zur Verhandlung beizutragen? Ich «
Der Chef der State Police stand hastig auf. Der Mann, der sich Haracht nannte, wartete ruhig; den ersten Schrecken schien er überwunden zu haben, als ahne er irgendwo im Hinterkopf, daß er das Geschehen in der Hand hatte.
»Ich bitte um Entschuldigung, Mr. Coroner«, entgegnete der Colonel eilig. »Ich hätte Sie vorwarnen sollen. Dieser Mann ist nicht ganz richtig im Kopf. Vielleicht ist es besser, wenn ich Sie und die Geschworenen darüber informiere, wovon er lebt. Das würde Ihnen gezieltere Fragen ermöglichen. Er zieht als eine Art Wunderheiler durch die Lande, vollgepinselt mit Sonnen und Sternen und Monden und seltsamen Zeichnungen von ägyptischen Pharaonen. Er hält sich für die Sonne oder so, ist aber absolut harmlos. Zieht -wie die Zigeuner -mit einem alten Gaul und Wohnwagen von Stadt zu Stadt. In Illinois, Indiana, Ohio und West Virginia war er schon. Predigt und verkauft eine Art Wundermittel, das Haar -«
»Es ist das Elixier der Jugend«, warf Haracht gewichtig ein. »Pures Sonnenlicht in Flaschen gefüllt. Ich bin der Erwählte, und ich verkündige das Sonnenevangelium. Ich bin Mentu und Atmu und ...«
»Es handelt sich um gewöhnliches Dorschleberöl, soweit ich informiert bin«, erklärte Colonel Pickett grinsend. »Keiner weiß, wie er wirklich heißt. Er hat seinen Namen vermutlich selbst vergessen.«
»Ich danke Ihnen, Colonel«, entgegnete der Coroner um Würde bemüht
Ellery fieberte vor Spannung -er hatte soeben eine Entdeckung gemacht. Das armselige Zepter in der Hand des Geisteskranken hatte er als Uräus erkannt, das Schlangenzepter des höchsten Gottes der alten Ägypter und ihrer Könige. Zunächst hatte er es der Schlange wegen für einen behelfsmäßigen Heroldsstab gehalten; aber der Stab Merkurs war immer mit Flügeln versehen. Dieser hier jedoch, er verengte angestrengt die Lider, war mit einer primitiven Sonnenscheibe ausgestattet, die sich über der Schlange oder den Schlangen erhob ... das Ägypten der Pharaonen! Einige der Namen, die der kleinwüchsige Eiferer hatte fallen lassen, waren ihm vertraut: Horus, Nut, Isis, Osiris. Auch die anderen Bezeichnungen klangen, aller Absurdität zum Trotz, ebenfalls ägyptisch ... Ellery richtete sich hoch auf.
»Äh - Haracht, oder wie immer Sie sich nennen«, fuhr der Coroner fort, »haben Sie die Aussage von Casper Croker vernommen, die einen glattrasierten dunkelhaarigen Mann, der hinkte, betraf?«
Der Blick des bärtigen Zeugen wurde auf einmal klarer; gleichzeitig schien jedoch auch die Angst wieder von ihm Besitz zu ergreifen. »Der -der hinkende Mann«, stammelte er. »Ja.«
»Kennen Sie jemanden, auf den diese Beschreibung paßt?«
Ein weiteres Zögern. »Ja.«
»Na also, Haracht«, stöhnte der Coroner, »warum denn nicht gleich.« Seine Stimme klang nun heiter und freundlich. »Wer ist dieser Mann, und woher kennen Sie ihn?«
»Er ist mein Priester.«
»Priester!« Aus der Menge kam ein leises Murmeln. Ellery hörte den beleibten Herrn in der Reihe hinter sich fluchen: »Verdammte Gotteslästerung, Herrgott noch mal!«
»Sie meinen, er - assistiert Ihnen?«
»Er ist mein Jünger. Mein Priester. Der Hohepriester des Horus.«
»Ja, ja, gewiß«, entgegnete Stapleton ungeduldig. »Wie heißt er?«
»Velja Krosac.«
»Hm«, erwiderte der Coroner stirnrunzelnd. »Schon wieder ein fremdländischer Name, so, so. Ein armenischer?«
»Es gibt nur ein wahres Volk - die Ägypter«, entgegnete Haracht ungerührt.
»Ja, ja«, fuhr Stapleton wütend fort. »Wie wird der Name geschrieben?«
Colonel Pickett antwortete: »Das haben wir alles bei den Akten. Er schreibt sich V-e-l-j-a K-r-o-s-a-c. Wir haben in der Wohnwagenküche des Mannes Beweismaterial mit schriftlicher Erwähnung des Namens sichergestellt.«
»Wo ist dieser Vel- Velja Krosac?« fragte der Coroner.
Haracht zuckte die Schultern. »Er ist fortgegangen.«
Ellery entging nicht, daß in seinem sturen Blick erneut die Angst aufflackerte.
»Wann war das?«
Wieder Schulterzucken.
Colonel Pickett kam erneut zu Hilfe. »Es ist vielleicht günstiger, Mr. Stapleton, wenn ich selbst Bericht erstatte, um den Fortgang der Verhandlung zu beschleunigen. Krosac hat, soweit wir wissen, seine Identität stets getarnt. Seit etwa zwei Jahren ist er mit diesem Mann herumgezogen. Seltsamer Knabe, fungierte als eine Art Manager und machte Werbung für den Verein. Den religiösen Mumpitz überließ er diesem Haracht hier, der ihn irgendwo im Westen aufgegabelt haben muß. An Heiligabend waren sie das letzte Mal zusammen. Sie kampierten in der Nähe von Hollidays Cove« -das lag ein paar Kilometer von Weirton; Ellery entsann sich gewisser Wegweiser. »Krosac ist dann um zehn Uhr herum verschwunden; und dieser Sowieso hier behauptet steif und fest, ihn seither nicht mehr gesehen zu haben. Zeitlich kommt das etwa hin.«